Pop ist weiblich
Während in Deutschland noch über das Verhältnis von altem und neuem Feminismus gerätselt wird, haben im Pop-Land bereits die Frauen das Sagen. M.I.A., Lady Gaga oder Rihanna sind so einflussreich, wie die Emma es mal sein wollte.
Neulich beim Abendessen fragte die zwölfjährige Tochter eines Freundes ihre Sitznachbarin im Erwachsenenalter, wer das auf dem T-Shirt sei, das sie trug. „Lady Gaga„, sagte die junge Frau, vielleicht etwas zu kumpelig, denn das Mädchen schaute sie ungläubig an: „Ich wusste gar nicht, dass auch Erwachsene Lady Gaga gut finden.“ Sie selbst möge ja eigentlich nur „Pokerface“, sagte sie, fast schon ein wenig mitleidig. „Pa-pa-pa-Pokerface“. Klingt ja auch fast wie ein Kinderlied.
Das Mädchen erzählte also nicht „mit Begeisterung vom neuen Videoclip von Lady Gaga – schwarzes Leder-Mieder, Strapse, freie Pobacken“, wie Stephanie zu Guttenberg im Rahmen ihres Feldzuges gegen Kindesmissbrauch öffentlichkeitswirksam befürchtete. Die jungen Mädchen bekämen nämlich durch die Gagas das Gefühl, so die Ministergattin, sie seien nur etwas wert, wenn sie sexuell anziehend wirkten. Dabei hat sie allerdings übersehen, dass dieses „Gefühl“ nun wirklich kein neues ist und, im Gegenteil, die aktuellen weiblichen Popstars bereits einen Schritt weiter sind. Sie beschäftigen sich mit ihrer Objektwerdung und sie wollen mehr, als sexy zu sein und einen Freidrink in der Hand zu halten. Man kann recht froh sein, dass das oben genannte Kind die Vielzahl der Metaphern, die etwa im Fleischkleid der Lady Gaga stecken, noch nicht versteht, und sich reichlich unbeeindruckt zeigt von der subversiven Kraft der Dame, die genau deswegen nämlich auch ältere Fans anspricht.
Die Musik weiblicher Solokünstlerinnen war 2010 das größte Erfolgsmodell des Pop. Im Gegensatz zu den meisten männlichen Kollegen haben die Single-Ladys sogar noch etwas zu sagen. Zählt man die Namen aktueller weiblicher Popstars, kommt man schnell auf über 20. Rihanna, M.I.A., Katy Perry, Lena, Beyoncé, Kesha, Shakira, Kylie Minouge, Pink, Duffy, Taylor Swift, Janelle Monáe – es sind nur einige von ihnen. Hinzu kommen Indie-Damen wie Elli Goulding, Kate Nash oder Florence And The Machine. Dem Erfolg von Warpaint folgt vermutlich im nächsten Jahr eine Hand voll neuer Frauenbands. Einige von ihnen waren auf Kunstschulen, andere haben sich, wie Robyn oder Christina Aguilera, aus den engen Mustern des Teeniestartums befreit. Beth Dito steht für freie Partner- und Körperumfangswahl, Amy Winehouse für das Recht auf Rausch. Und Lena verlor zwar ihren Nachnamen, durfte unter dem Label „authentisch“ aber vorlaut sein und einen Fantasie-Akzent sprechen. Sie alle scheinen also selbstbestimmt und relativ frei in ihrer Rollenwahl. „Ich hatte keine Lust auf die Castings da. Ich wollte eigene Stücke schreiben und selbst Regie führen“, sagt etwa Janelle Monáe über ihre ehemalige Uni.
Wer die Königin des Pop ist, ist zumindest international geklärt. Bis auf M.I.A.will sich niemand der Kolleginnen mit Lady Gaga anlegen, weil alle wissen, dass niemand in ihrer Liga spielt. Gaga hat eine extra Klasse eröffnet. Sie ist eine dauernd rotierende Maschine, die Mutter ihrer Monster. Sie ist Identifikationsfigur und Projektionsfläche und schafft es immer wieder, all die von ihren Rezipienten gewünschten Bilder zu zerstören, wenn sie zu viel zu werden drohen – ohne dabei Fans zu verlieren. Sie wird uns in den kommenden Monaten, wenn ihr neues Album erscheint, sicherlich noch einmal richtig überraschen. Die – für einige zu leicht verdauliche – Musik ist nur ein Teil der Metamorphose der Stefani Germanotta. Wer sie nur für ein mit Porno-Klischees kokettierendes Püppchen hält, hat nichts verstanden. Gaga ist der Inbegriff von Emanzipation. Sie definiert ihre eigene Kunst, sie definiert ihre eigene Sexyness, sie entscheidet. Sie hat es auf das Cover der Vogue und der Emma geschafft. Madonna spielt keine Rolle mehr, sie wird nur noch aus Höflichkeit als Referenzpunkt genannt.
In Deutschland dagegen befanden sich Mitte Oktober Lena und Shakira noch im knappen Rennen um die meistverkaufte Single des Jahres. Duffy, die konservative und brave unter den Fem-Stars behauptet, es gebe genügend Platz für alle am Sternenhimmel. Rihanna dagegen sagte in einem Interview: „Jede will an der Spitze stehen, und es gibt gerade eine Menge Frauen an der Spitze, es ist also ein richtiger Kampf.“ Dabei gibt es eine Menge Platz da oben, denn von den Königen des Pop fehlt jede Spur. Außer Jay-Z und Elton John fällt einem kaum ein komplexer männlicher Mainstream-Star ein, der den Damen Konkurrenz machen könnte. Justin Timberlake ist inzwischen mehr als Schauspieler aktiv; Justin Bieber, 30 Seconds To Mars, Enrique Iglesias oder Usher bleiben dabei, ihr Liedgut herunter zu trällern; James Blunt erzählt von seinen Zeiten als Soldat. Einzig Kanye West und Eminem haben noch Geschichten von Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg zu erzählen, sie wissen, wie man sich inszeniert und setzen auf kreative Partner, die ihr Geld wert sind.
Wie kommt es eigentlich, dass Pop derzeit von Frauen dominiert wird, fragten wir Kylie Minogue in diesem Jahr und ihre Antwort lautete: „Die Männer sind zu Hause und kochen Tee für uns.“ Und auch M.I.A. weiß auf die selbe Frage keine richtige Antwort und erzählt lieber von ihren eigenen Vorstellungen von Musik: „Ich kenne den Druck, jede Form von Inhalt und Bedeutung zu verstecken. Wenn die Musik von nichts handelt, kann man sie besser verkaufen. (…) Aber mir geht es darum, stark und mutig zu sein, sich darüber hinwegzusetzen.“ Ihre Geschichten handeln oft von ihrem eigenen Leben – M.I.A. ist 1975 als Maya Arulpragasam in London geboren, dann mit dem Vater nach Sri Lanka gezogen, wo er sich einer tamilischen Guerillagruppe anschloss. Das beeinflusst ihr politisches Bewusstsein bis heute.
Vermutlich interessiert es die Fem-Stars auch nicht so sehr, was mit der männlichen Konkurenz los ist, sie haben genug mit sich selbst zu tun. Mit dem nötigen Unernst vergiften Beyoncé und Gaga in ihrem gemeinsamen Video „Telephone“ die Männer, Katy Perry küsst lieber Mädchen, Kesha nutzt männliche Attribute für sich und kommt als Poser sehr gut an, Janelle Monáe trägt in ihrem Video „Tightrope“ einen Anzug und sieht darin vorzüglich aus, Rihanna scheint sich von jedem prügelnden Boyfriend erfolgreich befreit zu haben, kaum ein Blick des Showgeschäfts ist so abwehrend wie ihrer. M.I.A. inszeniert sich als Einzelkriegerin in einer kaputten Welt. Und weil man Lady Gaga keinen Penisneid unterstellen kann, unterstellt man ihr ganz einfach einen Penis.
Sie alle haben sich einen eigenen Kosmos aus Kunstzeichen aufgebaut, sie beherrschen ihre Bildersprache, sie sind keine Opfer mehr. Sie formen ihre Welt nach ihren Vorstellungen – selbstverständlich jenseits alter Rollenbilder. Sie brauchen kein Baby auf dem Arm, um sich als ganze Frau zu fühlen, aber sie verzichten auch nicht in jedem Fall auf Familie. Sie wenden sich wie Gaga und M.I.A. der Politik zu, oder wie Robyn und Katy Perry der Auslotung von geschäftlichen Möglichkeiten. Ihre Themen haben keine Grenzen.
Nur den Männern scheint ein Kampfziel, jegliche Idee verloren gegangen zu sein. Sie haben nichts, von dem sie sich emanzipieren könnten, außer von ihren vermeintlichen Stärken – wie man jüngst bei Take That beobachten konnte, die sich als nachdenkliche Selbsthilfe-Boy-Gruppe geben oder auch bei den Emo-Machos Kings Of Leon. Wahrlich nichts Neues. Das Spiel mit dem Geschlecht ist mit den Boybands und Antony Hegarty abgehakt. Es ist ein Echo auf gesellschaftliche Zustände, nicht der Versuch, dem Zusammenleben neue Aspekte abzugewinnen. Auch das Recht auf Scheitern ist in Krisenzeiten doch eine eher weniger clevere Botschaft. Die Männer scheinen das nicht verstanden zu haben. An Leichtigkeit, an künstlerischer Künstlichkeit fehlt es den Herren. Vielleicht kann es männlichen Mainstream-Pop deswegen einfach gar nicht geben.