Piraten auf Raten


Eines der ältesten Gewerbe der Pop-Welt ist ins Gerede gekommen. Die "Bootlegger" — wie sie zu Recht oder Unrecht genannt werden - stehen unter Beschüß. In die Schußlinie gebracht haben sie sich allerdings selbst — mit einer offensiven Eigenwerbung und äußerst umstrittenen Produkten. ME/Sounds-Mitarbeiter Volker Schnurrbusch berichtet über die neue Live-Piraterie.

Jeder kennt sie: die verschämt feilschenden fliegenden Händler auf Flohmärkten und Plattenbörsen. In speziellen Kisten stapeln sich die „Raritäten“ — Schwarzpressungen von nicht autorisierten Konzertaufnahmen. Die sogenannten „Bootlegs“ begleiten die Großen der Szene seit Beginn der sechziger Jahre. Dylan und die Dead, Bowie und Zappa, Beatles und Stones gehör(t)en zu den beliebtesten Objekten der Sammelleidenschaft ihrer Fans. Mußten diese sich früher oftmals mit einfachsten Amateuraufnahmen begnügen, entwickelte sich im Laufe der Zeit eine „cottage mduslry“, die im Schatten der Großen beachtliche Produktionen auf den Schwarzmarkt brachte.

Zwei aktuelle Fälle bewegen derzeit die Gemüter von Fans und Künstlern, Industrie und „Bootleggern“: In der Serie „Live and Alive“ bot die Landshuter Vertriebsfirma Imtrat im vergangenen Herbst u.a. eine CD an, die auf 12 Tracks insgesamt 67 Minuten Prince live brachte — und das zu einem Verkaufspreis von 12 Mark. Imtrat — als Adresse für Billig-Kopplungen bekannt — profitierte, wie andere Kleinstanbieter auch, von dem Umstand, daß ausgerechnet die USA kein Urheberrecht im engeren Sinne besitzt. Der m angelsächsischen Ländern übliche Begriff des Copyright bezieht sich nur auf das Recht, einen Tonträger zu vervielfältigen. Die künstlerische Leistung an sich ist nicht vor Ton-Piraten geschützt.

„Prince — Live USA“ wurde dennoch von der Industrie gestoppt — unter tätiger Mithilfe vom Meister selbst. Der eigentliche Makel, der an dem dubiosen Silberling haftete, war nämlich nicht seine ehrlose Geburt, sondern sein schlechtes Benehmen, sprich: seine dürftige Aufnahmequalität. Der als Perfektionist bekannte Roger Nelson konnte eine solche Beleidigung seiner Kunst nicht hinnehmen und unterzeichnete sogleich eine Vollmacht, mit der seine Plattenfirma, die WEA, gegen die „Schwarzpresser“ aus Landshut vorging. Dabei stützten sich die Rechtsgelehrten auf die Tatsache, daß durch den tatsächlich miserablen Sound das Ansehen Prinzens Schaden nehmen würde. Der unbedarfte Plattenkäufer könne, so die Argumentation, ja auf die Idee kommen, daß nicht das Amateur-Mikrofon des Bootleggers, sondern der Künstler selbst versagt haben könnte. Und da nun mal nicht sein kann, was nicht sein darf, haben qualitativ minderwertige Aufnahmen, die nicht vom Star abgesegnet sind, keine Chance mehr auf dem deutschen Markt.

Um der Firma Imtrat die Lust auf ähnliche Abenteuer zu nehmen, hat die WEA an ihre Einstweilige Verfügung gleich eine Schadenersatzklage angehängt. Forderung: 250000 Mark. Mit dem Resultat, daß die von den Landshutem angekündigte Live-CD mit Phil Collins-Aufnahmen gar nicht auf den Markt kam.

Nichtsdestotrotz wird die im Falle Prince unterlegene Firma Imtrat ihren Kurs beibehalten und, so eine Sprecherin, 30 Aufnahmen in der Reihe „Live and Alive“ veröffentlichen. Bisher liefen schon die Boot-CDs von Bruce Springsteen, Billy Idol, Led Zeppelin und Dire Straits besonders gut im Handel.

Dort sind die Reaktionen auf die Trittbrettfahrer gemischt. Zu massiv sind die möglichen Druckmittel der Industrie. Sie reichen von Rabattkürzung bis Lieferstopp. Großkunde Karstadt verbannte nach dem Prince-Fall sämtliche Imtrat-Produkte aus seinen Filialen. „Wom“-Einkäufer Markus Meyer: „Es gibt eine interne Absprache zwischen der Industrie und uns, die die Belange des Künstlers schützen soll. Trotzdem Ist nicht auszuschließen, daß in einzelnen Filialen z. B. auch Material des ,Swingin‘ Pig‘-Labels zu finden ist, da die jeweiligen Disponenten eigenständig entscheiden.“

Und diese können durchaus auch „Bootlegs“ ordern, deren Qualität dem Kunden zuzumuten ist und deren Vertrieb bei der gegenwärtigen Gesetzeslage auch nicht strafbar ist. So mußte die Polygram tatenlos mitansehen, wie Imtrat einen Dire Straits-Mitschnitt auf den Markt brachte, der technisch einwandfrei ist. Grund: Die Tonquelle war kein Mini-Mikrofon, sondern das Mischpult für das PA-System. Dem Ansehen der Band wurde in diesem Fall kein Schaden zugefügt, höchstens ihrem Portemonnaie.

Daß letzteres auch den Plattenfirmen am Herzen liegt, zeigt sich in der Vehemenz, mit der sich die Industrieverbände auf eingangs genannte fliegende Händler werfen, im ehrenvollen Bestreben, dem Urheber- und Leistungsschutzrecht Geltung zu verschaffen. Sicherlich tut die Industrie gut daran, frühzeitig illegale Konkurrenz auszuschalten. Aber der Esel, den die Firmen treffen wollen, wenn sie den Sack „Bootleg“ schlagen, ist die Mafia aus Fälschern und Dieben. Tonträger-Piraterie, wie das Problemfeld branchenintem heißt, besteht nämlich aus einem ganzen Branchenbuch voller windiger Geschäftsleute, die mit der begehrten Ware Musik die schnelle Mark machen wollen. Daß auch die eigentlichen „Bootlegger'“ nicht nur aus Liebe zur Kunst ihrer Tätigkeit nachgehen, ist klar. Aber es besteht eben doch ein Unterschied zwischen einer authentischen Live-Aufnahme von Fans für Fans und einer industriell kopierten Hit-Kopplung oder einem perfekt gefälschten Longplayer. Raubpressungen oder sog. „Counterfeits“ (= Fälschungen) bringen nicht dem Plattensamrnler, sondern den „Copycats“ eine Bereicherung.

Neben dem Femen Osten tut sich heute besonders der Osten Europas als Piraten-Hort hervor. Billig-Cassetten aus Polen werden in den FNL („Fünf Neuen Ländern“) sehr geschätzt, zumal wenn mit den Flippers oder dem Napalm Duo bespielt. Aus tschechischen CD-Preßwerken z.B. stammen gefälschte Pink Floyd-Werke, die als Sonderangebot im „Cash&Carry“-Markt landen. Da ohne jede Abgabe an Künstler, Autoren oder Komponist entstanden, graben Kopien oder Fälschungen den Kreativen Jahr für Jahr Unsummen ab — ein Grund für die Kriegserklärung an die Sound-Piraten — inklusive „klassischer Bootlegger“.

Dabei merken die Künstler und die Firmen nicht, daß sie oft das Kind mit dem Bade ausschütten: Ein „Bootleg“ wird in der Regel nur für die Fans produziert, die möglichst alles von „ihrem“ Star im Plattenregal haben wollen. Die „weltweiten“ Auflagen solcher Scheiben überschreiten kaum einmal 5000 Stück. Die Folgen 1 bis 4 von „Ultra Rare Tracks“, den legendären Beatles-Bootlegs, erreichten als einsame Ausnahme dieser Gattung die 10000er Grenze. Bootlegs werden stets zusätzlich zu anderen Platten des verehrten Künstlers gekauft, nie an deren Stelle. Der wahre Dylan-Freak braucht eben beide Fassungen der „Basement Tapes“ — legal, illegal, scheißegal.

Viel Lärm also um nichts? Nicht ganz. In der Masse der „Bootlegs“ gibt es immer noch zu viele Machwerke, die ihr Geld nicht wert sind, die nie in dieser Form das Okay des Künstlers erhalten würden, die platten Schwindel darstellen. Und: „Es kann nicht angehen, daß alle Welt unautorisierte Aufnahmen machen und auswerten darf, während gleichzeitig die offizielle Plattenfirma durch einen Vertrag daran gehindert ist“, wie Martin Schaefer, Justitiar beim Industrieverband EFPI, bemängelt.

Ein Beispiel für diese widersinnig anmutende Situation sind zwei Mitschnitte von der jüngsten Tournee der Rolling Stones. Eine obskure Luxemburger Firma mit dem anarchischen Namen „Swingin‘ Pig Records“ schreckte die Branche mit einer Anzeige in ME/Sounds 10/90 auf: „Live in Basel 1990 – Doppel-CD oder 3-LP-Set. Erhältlich in jedem gutsortierten Plattenladen.“

Bevor diese Sensation allerdings ausgeliefert werden konnte, setzte es schon Einstweilige Verfügungen von der Stones-Vertragsfirma CBS gegen

die deutsche Vertriebsfirma des „Schweine-Labels“, Perfect Beat. Ahnlich wie im Fall „Prince versus Imtrat“ ermächtigte Bill Wyman persönlich die CBS-Anwälte, auf Verletzung der Persönlichkeitsrechte zu plädieren. Diese Taktik erwies sich dieses Mal als schwierig, da das Konzert in Basel aufgezeichnet wurde, und die Schweiz nicht dem „Internationalen Abkommen zum Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tontragern und der Sendeunternehmen“ vom 26. 10. 1961 beigetreten ist. Daher gewähren die Eidgenossen ausländischen Künstlern nicht denselben Schutz ihrer Darbietungen, wie sie ihn zu Hause genießen. Freie Bahn also für „Bootlegger“? Nein, denn wie unterbelichtet unsere südlichen Nachbarn auch in punkto Leistungsschulzrecht sind, so streng verfolgen sie Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht. Und da die CBS ihre Alleinstellung als rechtmäßiger Vertragspartner der Stones in Gefahr sah, schlug sie in die Kerbe des unlauteren Wettbewerbs.

Aber auch das reicht nicht aus, um den Basel-Mitschnitt festzunageln. Er hat das Prinzip der Kettenreaktion perfektioniert: Um einen Tonträger schlußendlich als illegal definieren zu können, müssen sämtliche Faktoren der Entstehung — Aufnahme, Herstellung, Vertrieb — mit der Nationalität der Künstler sowie dem Ort und Zeit der Aufnahme abgeglichen werden, um einen möglichen rechtlichen Einwand herauszufiltern. Anders gesagt: Wenn ein anonymer Fan das Konzert einer englischen Gruppe in der Schweiz mitschneidet, das dann von einer Luxemburger Plattenfirma verwertet und einem Deutschen vertrieben wird, dauert es eine Weile, bis die Mühlen der Gerechtigkeit anfangen zu mahlen.

Auf diese Hakenschläge setzte Perfect Beat frech noch einen drauf: Auf den Platten-Covern der Stones-LP steht zu lesen:

„ACHTUNG: Dieser Tonträger enthält einen Live-Mitschniu.

Er wurde weder von den Künstlern noch von dessen Plattenfirma autorisiert. Die Aufnahme wurde aus dem Publikum heraus realisiert und vermittelt so einen realistischen Eindruck der Konzertatmosphäre …Es wird jedoch darauf hingewiesen, daß wir mit diesem Titel vor allem die Liebhaber von Konzert-Mitschnitten ansprechen wollen. Den normalen Musik-Konsumenten verweisen wir auf die regulären Veröffentlichungen der Rolling Stones bei ihren Vertragsfirmen. „

Der Käufer wird also nicht getäuscht, und keiner könnte auf den Gedanken kommen, daß das Label offizielle Plattenfirma der Rolling Stones ist. Als flankierende Maßnahme so neu wie clever: Indem Swingin“ Pig/Perfect Beat betonen, daß die Aufnahme nicht ganz kosher ist, imprägnieren sie sie gegen juristische Anwürfe. Schweinchen Schlau läßt grüßen!

Doch damit nicht genug: Aufmerksame Leser werden registriert haben, daß ME/Sounds in seiner Dezember-Nummer eine weitere Anzeige der „Bootleg“-Experten enthielt. Basel ist passe. Jetzt ist Atlantic City angesagt. Um allen Qualitäts-Rügen vorzugreifen, verwendet Swingin‘ Pig für diese Live-Doppel-CD eine DAT-Aufnahme von einer RadioÜbertragung. Das dürfte den“ CBS-Juristen nun aber doch zu denken geben.

In diese Phase platzte die nächste Überraschung: Zwei weitere .Einstweilige Verfügungen‘ wurden verhängt. Dieses Mal zu Lasten der CBS. Ihr wurde gerichtlich untersagt, die Basel-Scheibe als „Piraterie-Tonträger“ zu bezeichnen und Plattenhändlem mit Sanktionen zu drohen. Inwieweit dies das letzte Wort ist, können nur die Gerichte klären.

Der Kampf um legale Live-Alben hat so oder so neue Dimensionen angenommen. Während Eberhard Kromer, Justitiar der CBS Deutschland, von Gangster-Methoden spricht, die Perfect Beat anwendet, zittert deren Geschäftsführer Dieter Schubert um seine wirtschaftliche Existenz. Trotzdem ist er entschlossen, die von ihm und seinem Rechtsbeistand, dem Urheberrechts-Spezialisten Prof. Paul Hertin. gefundenen Wege zum nicht autorisierten Live-Mitschnitt auszunutzen.

Hierbei darf Schubert sich auf höchstrichterliche Urteile stützen: Im sogenannten „Dylan-Urteil“von 1982 legte immerhin das Bundesverfassungsgericht fest, daß Mitschnitte von Konzerten auch denjenigen zugänglich gemacht werden dürfen, die an dem betreffenden Künstler interessiert sind, aber nicht seinem Auftritt beiwohnen konnten. Der Versuch der betreffenden Plattenfirma, übrigens der CBS, diese angebliche Rechtslücke auf höchster Ebene zu schließen, schlug fehl. Bei aller Härte des Schlagabtauschs gibt CBS-Mann Kromer zu bedenken: „Wir vertreten nicht primär unsere eigenen Interessen, sondern vor allem die des Künstlers. Sie allein haben zu entscheiden, wie wir vorgehen sollen.“

Kein Wunder, wenn das BVG-Urteil gern von Kollegen Dieter Schuberts angeführt wird. Zwei alte Hasen der Branche, Olav Tangemann und Ralf Thomas, haben recht erfolgreich Nischen in der Grauzone des Musikmarktes besetzt. Die ehemaligen Partner unterhalten beide enge Geschäftsbeziehungen nach Luxemburg, der Heimat von Swingin“ Pig Records. Thomas operiert von dort mit „Disc de Luxe“, der Firma seiner Frau. Auf dem“.Oh Bov“-Label veröffentlichen sie Live-„Bootlegs“ von unterschiedlicher Qualität. Gemeinsames Merkmal der Aufnahmen: Sie sind allesamt vor dem August 1975 entstanden. Erst ab diesem Zeitpunkt nämlich gilt das erwähnte „Abkommen von Rom“ auch im Großherzogtum.

Thomas‘ Ex-Partner Tangemann ist in Frankfurt geblieben und leitet TNT Enterprise, jene Firma, die mit einer Cover-Produktion des „Black Album“ von Pince Berühmtheit erlangte (das Verfahren ist noch anhängig), Auch die PR-trächtige Razzia bei der letzten MIDEM — als EMI-Vertreter zusammen mit der Polizei von Cannes zehn Exemplare der „Ultra Rare Tracks“ 5 + 6 beschlagnahmten — bleibt unvergessen (leider gibt es bis heute keine Konsequenzen aus dieser Aktion).

Sollten die Stones-„Bootlegs“ den richterlichen Segen bekommen, stünde einer Schwemme von Live-Aufnahmen aus dem grauen Markt nichts entgegen. Egal, wie die Prozesse um die schwarzen Scheiben und die schwingenden Schweine ausgehen werden, wenn eine Institution wie Paul McCartney „am liebsten Mitschnitte bei meinen Konzerten erlauben“ würde, „so wie bei Grateful Dead“, wiegt das genauso schwer wie ein Richterspruch — zumindest in den Ohren der „Bootlegger“.