Pionier- statt Zeitgeist


Talk Talk

The Party’s Over

It’s My Life

The Colour Of Spring

Spirit Of Eden

EMI/Parlophone

Von zeitgeistigem Synthie-Pop zu zeitlosem Postrock: die ersten vier Alben des Ensembles um Mark Hollis, neu aufgelegt

Man sollte es immer mal wieder erwähnen: Die seit den frühen Rock’n’Roll-Tagen sich gern als rebellisch, hedonistisch, progressiv, unkonventionell oder wenigstens jugendlich ungestüm gerierende populäre Musik unserer Tage ist doch – und zwar von Folk bis Techno – eine, gemessen an den eigenen Ansprüchen, erstaunlich konservative Kunstform. Immer wieder Neues? Gerne, aber bitte nur als Variation des Altbekannten. Sagt der Fan. Und fordert der Markt. Natürlich gibt es Ausnahmen: Die Beatles, die keine vier Jahre brauchten vom simplen Singalong „She loves you – yeah yeah yeah“ bis zur sinistren Sinfonie „A Day In The Life“. Bob Dylan. Neil Young. Can. The Red Krayola. Zappa. Blur. Und noch ein paar mehr. Ansonsten: ein einziges Aufkochen altbewährter Rezepturen. Wozu diese kulturpessimistische Suada? Als Hinführung zu der These, dass sich Pioniergeist und Abenteuerlust auch an unerwarteten Stellen manifestieren können.

Nehmen wir Talk Talk, jene Synthie-Popper, die sich – kulturrevolutionären Umtrieben gänzlich unverdächtig – 1982 mit ihrem Debütalbum The Party’s Over ** daran machten, Duran Duran und anderen Neo-Romantikern den Rang abzulaufen. So recht gelingen wollte das nicht. Allzu schlicht kamen die Songs von Mark Hollis, dem Sänger mit der markant weinerlichen Stimme, und seinen Bandkollegen Lee Harris (dr), Paul Webb (bg) und Simon Brenner (keyb) daher. Immerhin: Der Titeltrack und „Mirror Man“ klangen manierlich, „Today“ schaffte es in den UK-Charts auf Rang 14. Ansonsten galt für Album wie Songs: aus den Augen, aus dem Sinn. Das Wiederhören macht wenig Freude, denn die Zeit war nicht freundlich zu dem Eighties-Gedöns. Human Leagues Dare von 1981 etwa hört sich immer noch um einiges heutiger an als der Talk-Talk-Erstling. Ähnliches gilt für It’s My Life ***, zwei Jahre später erschienen, aber zumindest mit dem Charme zweier Genre-Klassiker („Such A Shame“, „It’s My Life“) und einem erheblich kompakteren Klangbild geadelt. Und dann war da noch das betörende „Renée“, ein weiteres Highlight, für das Hollis das Band-Format gesprengt hatte. Neben Harris und Webb halfen jetzt Tim Friese-Greene an den Keyboards sowie diverse Sessionmusiker (Gitarrist Robbie McIntosh, Trompeter Henry Lowther) mit, Talk Talk einen Schritt nach vorne zu bringen.

Doch Hollis strebte nach Höherem, schwärmte vom rastlosen Jazz-Erneuerer und Trompeten-Genius Miles Davis, schwadronierte über die Werke des 1945 verstorbenen Komponisten Béla Bártok, der als einer der bedeutendsten Vertreter der klassischen Moderne gilt, und verortete sich fern des Pop-Mainstreams in der Hochkultur. Ravel, Debussy, Stockhausen: Das waren seine Götter. Bei The Colour Of Spring ****, auf dem neben vielen anderen Musikern auch Steve Winwood an zwei Songs beteiligt war, erinnerte allenfalls noch „Life’s What You Make It“ an die Dancetracks von ehedem. Stattdessen: Zeitlupentempo, weihevolle Pausen, ein transparenterer Sound, Instrumente, die von irgendwo herangeweht kamen und alsbald wieder verklangen. Beim Opener „Happiness Is Easy“ durfte man sich an Pink Floyd erinnert fühlen, anderswo meinte man die schwebenden Passagen eines Peter-Gabriel-Songs zu hören oder den ätherischen Pop eines David Sylvian, gelegentlich kam einem gar Van Morrison, ca. Common One, in den Sinn. Kein Stück schien den verblüffenden Wandel sinnfälliger darzustellen als „Chameleon Day“: „Breathe on me, eclipse my mind. It’s in some kind of disarray.“ Mark Hollis‘ Geist in Unordnung? Das hätten die zu diesem Zeitpunkt bereits einigermaßen ratlosen Labelbosse gewiss unterschrieben.

Doch war The Colour Of Spring erst das Vorspiel zu etwas noch viel Größerem, zu einer Sensation müsste man sagen, wäre dieses Wort nicht allzu marktschreierisch angesichts des impressionistischen Wunderwerks Spirit Of Eden ******. Sechs Tracks nur – „The Rainbow“, „Eden“, „Desire“, „Inheritance“, „I Believe In You“ und „Wealth“ -, keiner davon unter fünf, dafür drei über sieben Minuten lang, eingespielt mit einem Großaufgebot an Gastmusikern, darunter Danny Thompson am Kontrabass, Nigel Kennedy an der Violine und Mark Feltham an der Mundharmonika plus der Chor der Chelmsford Cathedral und klassisch ausgebildete Instrumentalisten an Klarinette, Oboe, Fagott und English Horn. Ambitioniert? Darauf dürfen Sie wetten. Größenwahnsinnig? Gewiss. Prätentiös? Bisweilen. Überkandidelt? Nie. Einzig Hollis‘ Gesang erinnerte noch an frühe Pop-Tage, die zwischen zartestem Wohlklang und unvermittelten Noise-Attacken changierenden Stücke hörten sich an, als würde ein Kammerorchester Miles Davis‘ In A Silent Way-Album im Velvet- underground-Modus nachspielen. Doch sind das zu viel der Referenzen für ein einzigartiges, komplett aus der Zeit gefallenes wahrhaft bahnbrechendes Stück Musik, das bereits 1988 viel von dem vorwegnahm, mit dem sich Jahre später Tortoise und Radiohead beschäftigen sollten. Sie dürfen das gerne Postrock nennen. Spirit Of Eden war aber auch ein Endpunkt. Was sollte danach noch kommen?

Nun, es kamen – weitere zwei Jahre später – Laughing Stock, auf dem Mark Hollis und der getreue Friese-Greene ihr Klangkonzept ins fast schon Absurde übersteigerten, und Hollis‘ 1998 veröffentlichtes Solowerk, das in seiner minimalistischen Grandezza ebenfalls nicht weniger als sechs Sterne wert ist. Danach: Schweigen. In einem seiner raren Interviews gestand der Talk-Talk-Kopf dem britischen „Mojo“-Magazin später, er habe sich Spirit Of Eden nach dem finalen Mix nie mehr angehört. Die Angst des Meisters vor seinem Meisterwerk? Vielleicht. Vielleicht ist aber auch einfach alles gesagt und getan. Und jetzt ist es an uns: zu hören und zu staunen, immer noch und immer wieder. Nach all den Jahren.

ME-Helden ME 5/2012

Name Talk Talk

Aktiv von 1981 bis 1991

Kernbesetzung

Mark Hollis (voc), Lee Harris (dr), Paul Webb (bg), Tim Friese-Greene (keyb, g)

Genre Synthie-Pop, Art-Pop, Postrock

Bewunderten

Burt Bacharach, Béla Bártok, Can, John Coltrane, Miles Davis, Claude Debussy, Otis Redding

Bewundert von

DJ Shadow, Elbow, Portishead, Radiohead, Sigur Rós, Tortoise, Weezer