Erinnerung
Man kann es als frühes Zeichen von Globalisierung und Weltoffenheit werten, dass Anfang der 1980er-Jahre in der immer noch recht spießigen Bundesrepublik, in der höchstens Anhänger der Öko-Bewegung in selbst gestrickten Pullovern zaghaft-friedlich gegen Atomkraft und das Wettrüsten protestierten, ausgerechnet ein glutäugiger, schneidiger und äußerst provokativer Spanier zum Aushängeschild der Neuen Deutschen Welle avancierte: Gabriel Delgado López, geboren am 18. April 1958 in Córdoba, gestorben am 22. März 2020 in seiner spanischen Heimat. Sein Vater war einst vor dem faschistischen Franco-Regime geflüchtet, weswegen er die ersten acht Jahre bei seiner Großmutter lebte. Von Freund und Feind wurde er nur „Gabi“ genannt – und schrieb erst mit im legendären Düsseldorfer Altstadt-Club Ratinger Hof geradezu konspirativ entstandenen Punk-Formationen wie Charley’s Girls und Mittagspause Underground-Geschichte, bis er mit Deutsch Amerikanische Freundschaft (kurz DAF) für eine kurze, aber stilbildende Zeit auch den Rest der (Elektropop-)Welt aus den Angeln hob.
Ich lernte Gabi, der die Rechte am DAF-Namen innehatte und 1987 zusammen mit Klaus Jankuhn (Musikalischer Partner von DJ Westbam) als Ersatz für seinen DAF-Mitstreiter Robert Görl 1987 auch mit der Maxi-Single „The Gun“ die erste deutsche House-Platte überhaupt aufnahm, ein Jahr zuvor als Fan nach einem gemeinsamen Auftritt mit Jimmy Sommervilles The Communards in der gerade neu eröffneten Hannoveraner Spielstätte Capitol kennen. Über die Jahre hinweg entwickelte sich ein loser, im weiteren Sinne freundschaftlicher Kontakt. Wir führten einige längere Interviews, zumeist für das von mir 1984 im Alter von 16 Jahren begründete Kulturmagazin „Spirit – Ein Lächeln im Sturm“, die schnell in philosophische Diskussionen über Musik und Film, Leben und Tod ausarteten.
Nach dem Auftritt im Oktober 1986 im Capitol, bei dem das aus ihm und dem in München geborenen Absolventen des Augsburger Leopold-Mozart-Konservatoriums Robert Görl bestehende DAF-Duo sein erstes rein englischsprachiges Album 1ST STEP TO HEAVEN vorstellte, zerstreute Delgado schnell alle Bedenken, ein schwieriger Gesprächspartner zu sein. Der längst in London und Zürich lebende Gabi hatte den Ruf, gerne zu polarisieren. Mit Kollegen wie vorherigen DAF-Mitgliedern oder Fehlfarben- und Family *5-Frontmann Janie J. Jones alias Peter Hein, mit dem er zuvor bei Charley´s Girls und Mittagspause gemeinsam gesungen und auch das Fanzine The Ostrich herausgegeben hatte, überwarf er sich (und versöhnte sich wieder). Mich nahm er mit meinen gerade mal 18 Jahren ernst und gab sich aufmerksam und charmant. In einem späteren Artikel schrieb ich: „Nach dem Gig war Gabi zuvorkommend, wurde allerdings seitens der Tour-Begleiterin von Ariola unter Druck gesetzt, sich zu beeilen. Gabi war sichtlich überrascht, dass es in Deutschland noch Magazine wie meines gibt, da er in England etwas den Überblick verloren hätte. Hat er eigentlich noch Kontakt zu seinen alten Freunden in Düsseldorf? ‚Zu den meisten habe ich eigentlich keinen rechten Kontakt mehr. Es ist schade. Die Einzigen, mit denen ich noch sehr viel aus dieser Zeit zu tun habe, sind die Leute von Der Plan, vor allem zum Pyrolator.’“
Delgado nahm es mir, nachdem ich ihm ein Belegexemplar geschickt hatte, nicht übel, dass ich zum Ende des Textes schrieb: „Von einem ‚Science-Fiction-Abenteuer‘, wie Gabi DAFs Musik betitelt, kann allerdings nicht die Rede sein, denn Kreativität ist nicht immer nur mit Minimalpassagen und Getrommel zu erreichen. Um es es auf eine mathematische Formel zu bringen: Aktion nicht gleich Kreativität, DAF nicht gleich ‚Tanz auf dem Vulkan‘.“ Überhaupt nicht verstimmt, schrieb er mir in einem Brief. In dem stand: „Ich hoffe, dass Dich unser nächstes Album mehr überzeugen wird.“ Und er sollte Recht behalten. Allerdings dauerte dies bis 2003, als der Wahl-Berliner zusammen mit Robert Görl die grandiose Reunion-Platte 15 NEUE DAF -LIEDER präsentierte, die nahtlos an ihre großen Erfolge von ALLES IST GUT und GOLD UND LIEBE (beide 1981) anknüpfte. Anlässlich des vom zahlreich erschienenen Publikum euphorisch gefeierten Berliner-Konzerts in der Columbiahalle trafen wir uns wieder backstage, wo er und Robert meine damalige Freundin Mona empfing. Er freute sich, dass mir „Sex unter Wasser“ mit seinem orgiastischen Bass-Sequencer besser gefallen hatte, als „Der Mussolini“, den er nur der treuen alten Anhängerschar zu Liebe performt hätte: „Der Song ist gut, provoziert aber heute nicht mehr wirklich.“ Ihm selbst, der Rock „zutiefst verabscheute“, waren Titel wie „Ich und die Wirklichkeit“ und „Verschwende deine Jugend“ näher, als der größte DAF-Hit.
Als ich ihm die alte „Spirit“-Edition mit der DAF-Titelgeschichte mitbrachte, bei der in einer Fotomontage die 1986 von mir abgelichtete DAF-Keyboarderin auf unseren gemeinsamen, 1984 verstorbenen Lieblingsschauspieler Oskar Werner blickt, sagte er schelmisch: „Jetzt habe ich zwei Hefte, denn ich habe das Belegexemplar nicht weggeworfen“. Über Werner, den der eingefleischte Cineast als „österreichischen James Dean“ bezeichnete und dessen kompromisslose Wahrheitssuche er über Lieblingsfilme wie „Jules und Jim“, „Das Narrenschiff“ und „Fahrenheit 451“ hinaus auch im wirklichen Leben so bewunderte, wollte er viel lieber reden, als über seine eigene Musik: „Ohne mich mit seinem Genie zu vergleichen, habe ich versucht, von seiner Sprachmelodik, einiges in meinem Stücken, die Schlagworte und Parolen kombinieren, zu transportieren.“ Tragischerweise wurde Gabi, der nach seinem Solo-Album MISTRESS (1983) 1 (2014) und 2 (2015) folgen ließ und auch ein fantastischer DJ war, leider nur genauso alt wie sein künstlerisches Vorbild, das kurz vor seinem 62. Geburtstag und Beginn einer Rezitations-Tournee einsam an Herzversagen in einem Marburger Hotel starb. „The good die young“ und wo die Worte fehlen, bleiben eigentlich nur noch Gefühle. Mit Gabis viel zu frühem Tod ist auch ein Teil meiner, nun ja, verschwendeten Jugend endgültig gestorben.
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