Per Boot in die Zukunft


Ursprünglich gar nicht als Dauereinrichtung geplant, hat Freizeitkapitän Dämon Albarns virtuelles Bandprojekt Gorillaz mittlerweile ungeahnte Dimensionen angenommen. Nicht nur aus diesem Grund ist auch die Zukunft von Blur offener denn je ...

London, nahe Little Venice: Wir stehen am Kanal vor einem Anlegeplatz, an dem drei putzige Hausboote vertäut sind. Wir warten. Jim, der freundliche Kapitän, der für heute angeheuert wurde, ist schon eingetroffen und fragt nach einer Zigarette. Eigentlich hat er aufgehört zu rauchen, aber wenn man raucht, wartet es sich gleich viel entspannter. Plötzlich hält ein kleiner, roter Peugeot mit quietschenden Reifen. Wir schauen neugierig. Heraus klettert ein alter, kaputter Mann und blickt belustigt. „Wartet ihr auf den Bus?“ nuschelt er in zahnlosem Cockney und lacht sich röchelnd über seinen eigenen Witz scheckig. Wir schütteln die Köpfe. Wir warten auf Damon Albarn. Seine Assistentin ist schon da und schließt unser Gefährt, ein sogenanntes Longboat, auf. Es ist eng und sehr gemütlich, mit einer kleinen Sitzecke auf der einen und einem Schreibtisch auf der anderen Seite. An der Decke baumelt eine Lichterkette mit Plastiklampions. Es gibt Tee mit Milch und Zucker und Kekse. Jim testet vorsichtshalber den Motor, und es ertönt ein freundliches Tuckern. Wir warten.

Plötzlich ist er da. Herr Albarn kommt mit dem Fahrrad. Mit einem Satz ist er an Bord. „Können wir?“ fragt er grinsend und wirft sich das flugs entwirrte Tau über die Schulter. Er hat den perfekten Moment gewählt: Der Himmel reißt auf, und die halbverfallenen Fabrikhallen am Kanal färben sich golden. Wir legen ab. Beim „Ausparken“ fachsimpeln Jim und Damon über Wendemanöver und Windrichtung. Damon fragt oft nach; er kann das Boot noch nicht ganz allein fahren. „Ich habe es vor einem knappen Jahr gekauft“, erklärt er, „aber ich bin noch nicht viel damit unterwegs gewesen. Ich hatte schlicht zu wenig Zeit. Aber jetzt lerne ich es langsam.“ Ein Auto besitzt er nicht. „Wo ich wohne, kann ich beinahe alles mit dem Fahrrad erreichen. Und fürs Vergnügen gibt es jetzt das Boot. Fahrrad und Boot sind ohnehin die einzigen Fahrzeuge, die ich legal fahren darf. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich dieses Boot auch viel toller als einen Ferrari oder einen Maserati. Wir haben hier schon Partys mit bis zu fünfzehn Leuten gefeiert. Man kann sogar auf dem Dach sitzen. Es ist traumhaft.“ Er ist sichtlich stolz.

Wir schippern an der Rückseite des Highgate Cemetery vorbei, hinter uns erhebt sich ein alter Gaskessel, es wimmelt von Blesshühnern, Gänsen und Reihern. Diese Seite Londons kennen selbst die meisten Londoner nicht. „Ich mag es, wie die Natur sich das alte Industriegebiet zurückerkämpft“, Damon deutet auf ein Nest am Ufer. Wir klettern ins Innere des Bootes und nehmen in der Sitzecke Platz. Das Interview ist eines von gerade einmal zweien, denen er zugestimmt hat. Daß es auf seinem Boot stattfinden würde, war Bedingung: „Ich habe Interviews in Hotelzimmern und Konferenzräumen mittlerweile schrecklich über. Das ist immer so unpersönlich. Ich mag Interviews sowieso nicht besonders. Ich möchte nicht so viel über Musik reden, sondern lieber mehr Musik machen. Wenn die Gesprächssituation dann auch noch so förmlich ist, ist es eine wahreTortur. Und ich liebe mein Boot und fühle mich wohl hier. Da fällt es mir leichter, über meine Arbeit zu sprechen.“

Daß es heute ausgerechnet um das neue Gorillaz-Album mit dem Titel DEMON DAYS geht, ist eine weitere Ausnahme. „Normalerweise sprechen ausschließlich die Comicfiguren für die Gorillaz“, stellt Damon Albarn klar. „Die müssen sich nämlich nicht so viele Gedanken machen, ob sie etwas Gehässiges sagen. Wenn man als Person das Kind beim Namen nennt, bekommt man zuweilen richtig Ärger. Als Cartoon-Figur genießt man eine gewisse Narrenfreiheit. Manchmal beneide ich sie darum.“

Für Albarn sind die musizierenden Cartoon-Helden neben anderen Projekten wie seinem 2002er Ethno-Album mau music und seiner Hauptband Blur bloß eines von vielen, gleichberechtigten Geisteskindern. Was die Comic-Kerlchen seiner Meinung nach ganz besonders auszeichnet, ist eine gewisse Eigendynamik, die das Projekt über die Jahre entwickelt hat. „Anfangs war es keineswegs geplant, überhaupt irgendwann ein zweites Gorillaz-Album aufzunehmen. Ich bin niemand, der vorausschauend am Reißbretteine gesamte Karriere plant. Das würde mich zu sehr vom Wesentlichen ablenken, mir die Spontaneität rauben. Ich mache lieber eins nach dem anderen. Die Hauptsacheist, daß es anfangs eine gute Idee gibt. Keinen Masterplan, keinfertiges Konzept, bloß eine gute Idee.“ So sind auch vor einigen Jahren die Gorillaz, bzw. deren Frühform entstanden: Jamie Hewlett und ich wohnten damals gemeinsam in einer WG. Wir hatten beide gerade sehr lange Beziehungen hinter uns, waren in ähnlich desolater Verfassung und verstanden uns blendend. Also beschlossen wir, zusammen zu arbeiten. Was daraus werden würde, konnten wir damals noch gar nicht absehen.“

Der Sänger und der Comiczeichner entpuppten sich als perfektes Paar. Und ihre Idee entwickelte sich prächtig, ganz nebenbei und fast von selbst: „Die Gorillaz sind so kreiert, daß sie sich durch die Dinge weiterentwickeln, die ihnen unterwegs begegnen „, beschreibt Damon mit Verschwörermine. „Sie sindunsagbar wandlungsfähig. Und je mehr sie seit Beginn des Projektes bis heute die Medien infiltriert haben, desto stärker und komplexer sind sie geworden. Bald gehört ihnen die Weltherrschaft. Für das neue Album DEMON DAYS hatten wir plötzlich wieder eine Idee, deshalb geht es weiter. Wir sind eine ArtThinkTank.“

Er nimmt einen Schluck Tee, wird sich des unfreiwilligen Verweises aufs letzte Blur-Album bewußt und lacht. „Das war jetzt nicht als oberschlaues Wortspiel gemeint. Wir sind ein eher lockeres Kollektiv von Leuten, die alle ihr Scherflein zum Gesamtprodukt beisteuern, an dem wir hart arbeiten. Wir sind ziemlich offen. Wenn jemand eine tolle Idee und Lust auf uns hat, ist er dabei. So sind wir beispielsweise auch an unseren neuen Produzenten Dangermouse gekommen. Ich finde ihn brillant, also habe ich ihn gefragt, und er hatte Lust, für eine Weile ein Gorilla zu sein. Zufällig mag er es nicht, sein Gesicht in jede Kamera zu halten. Das macht Gorillaz für ihn zum perfekten musikalischen Zwischenstop.“

Dangermouse, derzu den profiliertesten Bastardpop-Produzenten überhaupt gehört, ist nicht der einzige, der im Lauf der letzten Jahre dazugestoßen ist, sondern es gibt auch wieder eine Menge Gäste. Neben anderen gaben sich Roots Manuva, Shaun Ryder und Dennis Hopper im Studio Klinke und Mikrofon in die Hand. Und auch die Mitarbeiter hinter den Kulissen werden immer zahlreicher: Mittlerweile sind an die 60 Leute am großen Gorillaz-Kollektiv, das eine enorm aufwändige und detaillierte Website beinhaltet, beteiligt. Damon Albarn gibt stirnrunzelnd zu: „Das Ergebnis muß schon erfolgreich sein, um auch etwas Geld einzuspielen.“

Draußen beginnt es zu regnen. „Vielleicht gibt es einen Regenbogen“, mutmaßt der Gastgeber, und wir stecken die Köpfe hinaus. In diesem Moment fährt einige hundert Meter von uns entfernt ein gewaltiger Blitz in den Kanal. Ab diesem Moment funktioniert der Wasserkocher nicht mehr. Die Stromversorgung hat sich offenbar vorsichtshalber selbst abgeschaltet. Damon überlegt kurz, den kleinen Gasherd für neuen Tee anzuschalten, doch die Leitung ist lange nicht überprüft worden, und er entscheidet sich, ab sofort lieber Wasser zu den Keksen zu trinken. Der plötzliche Wetterumschwung paßt erstaunlich gut zur Grundstimmung des neuen Albums DEMON DAYS.

„Die neue Platte ist tatsächlich ziemlich düster, das war die Idee dahinter. Das Album ist vielschichtiger, tieferals das Debüt. Das liegt vor allem daran, daß ich diesmal durch den Erfolg der ersten Platte ganz andere Risiken eingehen konnte als ganz am Anfang.“

Das Debüt hätte in Albarns Augen durchaus genauso gut ziemlich nach hinten losgehen können. In den Augen des renommierten britischen Musikjournalisten Simon Price tat es das auch: „Er schrieb: ,Damon Albarn wird morgen früh in der Fötusstellung aufwachen, weil er sich fürchterlich für sein neustes Projekt schämen wird.‘ Das war nicht sehr nett. Diese Meinung war zwar glücklicherweise nichts, auf das sich die gesamte Presse einigen konnte, aber es gab schon eine große Minderheit, die gern gesehen hätte, daß ich mit Corillaz versage, weil sie mich persönlich nicht mochten. Blur waren damals schon zu erfolgreich; dagegen anzuschreiben wäre ein Kampf gegenWindmühlen gewesen. Aber auf einer neuen Band läßt es sich viel leichter herumhacken, vor allem, wenn es sich um ein so außergewöhnliches Konzept wie dieses handelt. Man muß daraufgefaßt sein, plötzlich keine Fanbase mehr zu haben, auch wenn man sich schon darangewöhnt hat, beliebt zu sein. Wenn du viele Fans hat, stimmen diese beispielsweise in sämtlichen Leserpolls für dein Album ab, so daß du gut abschneidest. Das gehört zur Musikkultur dazu. Ich jedoch wollte mich lieber nicht daran gewöhnen, gemocht zu werden. So schön das auch sein mag, bedeutet es auch immer, daß man sich schnell selbst limitiert.“

Während die neue Oasis-Single mal wieder so klingt, als wäre sie von 1993 übrig geblieben, ist Damon Albarn permanent schwer bemüht, sich nicht zu langweilen. Das war schon bei Blur so. „Wir hätten einfach immer wieder dasselbe machen können, und wären wahrscheinlich heute noch immer erfolgreich, wie man an manchen Beispielen der Popwelt ablesen kann“, holt er zum versteckten Seitenhieb aus. Dann relativiert er milde lächelnd: „Ich möchte nichts schlecht reden. Ich habe Respekt vor Bands, die diesen Weg gehen. Für mich persönlich ist das aberkeine Alternative.“ Jedem einzelnen Album, egal unter welchem Namen es erscheint, muss in seinen Augen eine gute, bestenfalls einzigartige Idee zugrunde liegen. Das macht Blurs 13 zu einem seiner Lieblingsalben, denn die zugrundeliegende Idee, die Gitarren durch einen Computer zu jagen und abzuwarten, was dabei herauskommt, hält er für besonders gut, auch wenn sie Graham Coxon aus der Band trieb. „Es ist sehr traurig, daß diesem, in meinen Augen wundervollen Album all diese schlimmen Begleiterscheinungen anhaften“, resümiert er.

Was aus Blur werden wird und ob Coxon zurückkehrt, vermag er nicht zu sagen: „Ich weiß es wirklich nicht. Ich würde liebend gern ein neues Blur-Album aufnehmen, aber nicht einzig und allein aus dem Grund, daß es irgendwann wieder Zeit für eine neue Platte ist. Wenn es eine gute Idee gibt, wird ein Album gemacht. Diese Grundhaltung hat zu meinem aktuellen Projekt mit nigerianischen Musikern geführt, das nächstes Jahr veröffentlicht werden wird, und sie ist Schuld an DEMON DAYS. Ich habe mittlerweile 17 Platten gemacht. Alle klingen irgendwie unterschiedlich. Ich möchte am liebsten 100 unterschiedliche Platten machen. Das ist zwar wahrscheinlich ziemlich unmöglich, aber einen Versuch ist es wert.“

Der im März 37 Jahre alt gewordene Albarn wird sehr ernst, wenn er über seine Berufung spricht. Er nimmt seinen Job generell sehr ernst. Das Konzept hinter demon days ist eine Aneinanderreihung von Episoden, die die zerstörerische Zeit, in der wir leben, charakterisieren. „Ich stelle mir das so vor: Das Album beschreibt eine Nacht, in der man viele schreckliche Dinge Revue passieren läßt. Und am Morgen hat man etwas begriffen, ist ein bisschen klüger als vorher und kann ein besseres Leben führen. Es ist vertontes Wunschdenken, wenn ich ehrlich bin.“

Die erste Single-Auskopplung- mit De La Soul als Stargästen – heißt „The Feel Good Inc.“. „Der Titel ist natürlich ironisch gemeint ,Feel Good Inc.‘ ist ein Synonym für die Hölle, auch genannt Amerika“, seufzt er leise. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das wieder einmalvon vielen mißverstanden werden wird.“ Manchmal fühlt der Londoner sich wie Bruce Springsteen, der von George W. Bush gefragt wurde, ob er „Born In The USA“ für den Präsidentschaftswahlkampf freigeben wolle. „Viele Leute hören einfach nicht zu“, zuckt er mit den Schultern. „Als wir mit Blur das Album PARKLIFE veröffentlichten, war das ganz ähnlich. Die Leute dachten, wir hätten eine Liebeserklärung an Großbritannien aufgenommen. Dabei war die Platte das totale Gegenteil.“

Mit DEMON DAYS schlägt er diesmal etwas direktere Töne an. Der Song „Kids With Guns“ beispielsweise ist unmißverständlich formuliert und komponiert. Verstörendstes Element des Ganzen ist ein brillant eingesetzter Kinderchor. „Das war eine tolle Studiosituation“, erinnert Damon sich, und seine Augen leuchten. „Wir haben den Kinderchor aufgenommen, und zum Schluß des Songs hört man Lärm, der wie ein Maschinengewehr klingt, und die Kinder lachen. Auf der Platte ist das eine atmosphärisch sehr beklemmende Situation. In Wirklichkeit rührt das Gewehrfeuer von Stühlen, die zum Schluß des Songs umgetreten werden. Und die Kinder lachen, weil die Situation so lustig ist. Das ist das Schöne daran: Die Welt ist nicht einfach so in Schwarz und Weiß unterteilbar. Was hinterhältig und bösartig klingt, kann harmlos sein und umgekehrt.“ Dieses Konzept fügt sich hervorragend ins quietschbunte Gorillaz-Universum ein.

„Mit Cartoons verbindet man erst einmal Kinderkram. Doch die Verfremdung der Realität kann manchmal viel wirkungsvoller sein als beispielsweise eine Nachrichtensendung. Die Gorillaz sind momentan quasi Musik für Zwölfjährige mit erwachsenen Themenschwerpunkten. Diese Idee gefällt mir.“

Das Konzept zieht sich wie ein roter Faden durch Album, Artwork und Website der Gorillaz. Momentan gibt es sogar einen „Gorillaz suchen den Superstar“-Wettbewerb auf der Homepage, bei der jeder eigene Animationen, Musikstücke und Zeichnungen einsenden darf. Der Gewinner bekommt einen eigenen Raum in der virtuellen Gorillaz-Welt eingerichtet. Wie aufregend das für manche Teilnehmer wirken kann, weiß Dämon Albarn spätestens, seit er Dennis Hopper bat, den Text zum Song „Fire Coming Out Of The Monkey’s Head“ zu sprechen. „Ich wollte ihn monatelang darum bitten“, lacht er, „aber ich war zu aufgeregt. Plötzlich stand ich zufällig vor ihm und schaffte es irgendwie, die Frage zu formulieren. Er hat sofort eingewilligt. Eingroßartiger Mann.“

Wir gehen an Deck, um Jim zuzusehen, wie er das Boot wendet. Die Wolken haben sich wieder verzogen, die Sonne fällt auf halbverfallene, von Knöterich überwuchterte Industriebrachen. Auf den Blättern glitzern Regentropfen. Damon setzt seine Sonnebrille auf und wendet sich an Promoter und Manager: „Dies ist der Ort, an dem wir demnächst unsere Meetings abhalten werden“, sagt er mit betont professionellem Unterton. „Aber zuerst lerne ich, das Boot wieder einzuparken.“

www.gorillaz.com