Paulas Popwoche: A song that we used to know
Paula Irmschler in ihrer neuen Kolumne über den „Anxiety“-Trend auf TikTok und Gotye.

Ich bin nicht so der TikTok-Ultra, aber seit einer Weile gibt es einen Trend, der mich sehr froh macht. Und zwar der „Anxiety“-Trend. Alle haben ihn bereits mitgemacht, sogar deutsche Politiker, dein Vater, und coolerweise jetzt sogar diese beiden. Das Tolle an diesem Trend ist, dass er so viele (liebe) Layer hat.
Da gibt es also diese ältere Schlafzimmer-Aufnahme von Doechii, die während wir Hefeteig angesetzt oder uns im Internet gefetzt haben, den Corona-Lockdown zum Kreieren dieses Songs genutzt hat:
Banger, perfekt, Ohrwurm! Hier könnte die Story eigentlich schon enden. Aber dass der Song jetzt erst so richtig zum Hit wurde – obwohl Sleepy Hollow ihn schon vor zwei Jahren sampelte …
… hat wie so oft in den vergangenen Jahren mit einem dazugehörigen Trend, in diesem Fall einem Tanz, zu tun.
Und da kommt die nächste Kreativmaus ins Spiel. Eine Userin legte „Anxiety“ unter die ikonische Szene aus dem „Fresh Prince of Bel-Air“, in der Ashley (Tatyana Ali) von Will (Smith) beim Kopfhörer-Tanz erwischt und imitiert wird. So deep hatte es die Userin wahrscheinlich nicht gemeint, aber für viele war das sehr passend zu dem Ein-Geist-beobachtet-und-verhöhnt-mich-Anxiety-Gefühl, sodass das Ding in dieser Kombi ab sofort durch die Decke ging. (In so manchen Kommentarspalten streiten sich nun Millennials und Gen Xler mit Gen Zlern darüber, ob das wirklich der Song ist, der da in der Serie lief, naja, kleiner Faktencheck: Die Serie gibt es seit 20 Jahren nicht mehr, also …)
Abgerundet wird dieser Teil der schönen Geschichte dadurch, dass sich jetzt alle Protagonist*innen für ein Video zusammengetan haben. Alle Protagonist*innen? NEIN. Denn nun müssen wir natürlich über IHN sprechen, den angemalten Elefanten im Raum. Gotye.
Ihr erinnert euch, es waren die magischen Jahre 2011/2012, oder wie ich sie nenne: The Serotonin Years – wir hörten, ob wir wollten oder nicht, Calvin Harris, Katy Perry, Lana Del Rey, Call Me Maybe, Gangnam Style, trugen Fensterglasbrillen und malten Schnurrbärte auf unsere Finger, legten Retro-Filter über Fotos und zeigten unser Essen auf Insta, laberten über diese eine geniale Serie auf dieser neuen Streaming-Plattform, teilten Memes, die wir auf 9Gag gefunden hatten auf Facebook, es war ständig ein Flashmob um die Ecke und dieser Song ÜBERALL.
Hört und schaut nochmal genau hin und sagt mir dann, dass Gotye (gefeatured von Kimbra) uns hier nicht DEN Song geliefert hat, der die 10er eingeleitet und definiert hat wie kein anderer. Und das gar nicht so sehr wegen seines Sounds, sondern wegen allem drumherum.
Da wäre zum einen dieses DIY-Ding. Gotye nahm den Song zu Hause bei seinen Eltern auf (Schlafzimmer-like wie Doechii) und wurde damit zu einem Vorbild für viele, die nach ihm kamen. Klar, zu Hause was zusammenzuproduzieren ist nichts ganz Neues, aber Dank immer erschwinglicherer Software wurde es in den 10ern viel einfacher, Musik zu machen – und sie Dank immer größer werdender Social-Media-Plattformen schnell unter die Leute zu bringen. Gotyes Song wurde zum absoluten Hype und verbreitete sich unter anderem auch auf Twitter. Von jemandem wie Katy Perry damals einen solchen Shoutout zu kriegen war Wahnsinn.
Der Erfolg des Songs hatte vor allem auch mit seinem Musikvideo zu tun. Anfang der 10er, Leute, erinnert euch zurück … Wir waren, was die Vermarktung von Popmusik anging, mitten im Übergang von Musikfernsehen zu Streaming und Social Media – es wurde ständig versucht, neue Kampagnen zu kreieren, es gab diese ganze Indie-Ästhetik und vor allem gab es IRONIE. Alles war Hipster, alles war nicht so gemeint, alles war cool und nicht wirklich mit Gefühl oder so, Pathos war peinlich. Und dann landet dieser schreiende Herzschmerzsong einen solchen Megaerfolg? Ja, gerade deswegen! Umgehen konnten die jungen Leute mit den „feelz“ damals nämlich nur, indem sie den Song verhöhnten. Es gab eine Parodie nach der anderen, Ytitty und dieser ganze Kram, dann hunderte Cover – schließlich die Walk-off-the-Earth-Version, die ihrerseits wieder unzählige Male parodiert wurde, Sketche, Jokes, Häme.
Mit der Zeit wurde der Song immer offener auch wirklich geschätzt und honoriert. Diese (und viele andere) wunderbare Hommage entstand ein paar Jahre später. Wer weitere tolle Versionen, Samples und Videos kennt, schreibt sie bitte in die Kommentare.
Dieser Song hat also mehr als eine Reise hinter sich. Und auch Gotyes Version selbst steht auf den Schultern anderer Gigant*innen, schließlich war sie selbst eine regelrechte Sampling-Orgie.
Und nun eben Doechii und TikToks „Anxiety“, denn bei aller Parodiererei, was die Leute an dem Song eigentlich lieben, ist wie plain da Schmerz erzählt wird, ganz unironisch, ganz direkt, ganz gefühlig, gar nicht cringe. Es ist einfach ein wunderschöner Song, den unendlich viele Menschen fühlen. (Aus heutiger Sicht wirkt das Video (später kam „Blurred Lines“ – ganz andere Geschichte) eigentlich auch total harmlos und süß.)
Man sieht an diesem Beispiel mehr als an vielen anderen: Musik – und ganz speziell Pop, ist was Kollektives. „Anxiety“ versöhnt dabei (fast) alle Generationen. Jetzt fehlt nur noch der Tanz von Gotye und es ist perfekt. Oder er macht gemeinsam mit Doechii und Sting oder so den Harlem Shake. Dann explodiert das Internet.
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.
