Popkolumne, Folge 157

Über „Inventing Anna“, Hochstapelei und Geflüchtete: Wie der Kapitalismus uns betrügt


Don’t love the players nor the game: Paula Irmschler in ihrer neuen Popkolumnen-Ausgabe über unseren verkorksten Blick auf Betrügergeschichten.

Sie ist kultig, cool, hot, ein Modevorbild, Best-Friend-Material, ein Idol … Paula Irmschler!

Kleiner Spaß, ich meine Anna Sorokin. Die „Hochstaplerin“, deren Geschichte erst kürzlich in der Netflix-Serie „Inventing Anna“ erzählt wurde, finde auch ich absolut super. Wie auch nicht? In Moskau geboren, zog sie als 16-Jährige mit ihren Eltern ins deutsche Eschweiler, dann machte sie nach London, Paris und schließlich nach New York rüber, wo sie sich in die Gesellschaft der elitären Geldleute begab. Man müsste an der Stelle Worte eigentlich Worte wie „einschleuste“, „reinschmuggelte“ oder „einschlich“ benutzen. Denn sie hat es unter falschem Namen und mit falscher Biographie getan. Sie nannte sich Anna Delvey und war angebliche Erbin von mordsviel Kohle.

Warum wir „Inventing Anna“, „Tinder Swindler“ und Co. teilweise zu unrecht feiern

Ja, mei, wer seine Vergangenheit nicht bissl frisiert hat, werfe den ersten Stein. Ihr glaubt echt, ich heiße wirklich „Irmschler“? Stimmt auch. Ich bin aber auch nicht so klug! In High-Society-Kreisen ist es wahrscheinlich noch normaler, dass man Scheiße labert über seinen Namen, seine Familie und den Kontostand, also ist das, was Sorokin getan hat, in großen Teilen vermutlich nix Ungewöhnliches. Allein: Sie kommt aus „einfachen“ Verhältnissen, gehört eben zu einer anderen Klasse, ist normal, stani, Durchschnitt, quasi arm. High-Money-Kreise müsste man vielleicht eher zu den Heinis sagen, mit denen sie sich in New York umgeben hat, wobei „Money“ auch manchmal nur ein „wertvoller Name“ ist oder irgendein komisches Depot was sich irgendwo geheim befinden soll oder es ist der Besitz von etwas, was eigentlich niemandem gehören sollte – Wohnraum zum Beispiel, überhaupt Land oder fremder Leute Arbeitskraft. Sorokins Vergehen ist vor allem, dass sie besser blenden konnte als viele andere und vieles von dem Geld, das sie von diesen New-York-Leuten bekommen hat, wurde ihr halt gegeben. Kredite funktionieren so, es sind Fantasiezahlen für Fantasiesachen beruhend auf einem Fantasiewert. Glaube ich zumindest, ich werde nie was mit Krediten zu tun haben.

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Sorokin gilt jetzt eben als Hochstaplerin und Hochstapler finden viele von uns sexy. Man ist unten, tut aber oben. Man hat dafür aber sozusagen „nichts geleistet“. Wie die ganzen reichen Leute, die richtig viel leisten im Gegensatz zu allen anderen. Spaß, sie sind oft stinkefaul (nix gegen Faulheit) und haben überhaupt gar nichts geleistet (auch okay), sondern erben (Scheißdreck).

Wenn man sich die Geschichten von „Hochstaplern“ ansieht, haben sie aber oft schon eine ganze Menge geleistet. Man muss sehr gut lügen können, manipulieren und nachts auch noch einschlafen, um am nächsten Tag wieder weiter zu lügen. Als ich mal beim Klauen erwischt wurde, also beim ersten Mal, bin ich voll durchgedreht und hab Mutti sofort alles erzählt. Hab ich danach nie wieder gemacht (es erzählt). Trotzdem war ich nicht kurz davor, ein noch elitäreres Soho-ähnliches House mit einem Millionenkredit in New York aufzumachen. Hochstapler nehmen sich, was entweder allen zustehen sollte oder niemandem; was sich seit Jahrhunderten bestimmte Leute einfach nehmen und untereinander weitergeben. Das so dreist durchzuziehen und damit aufzuzeigen, wie willkürlich unser Werte- und Leistungssystem ist, „hat was“. Diese Leute reißen die gesetzten Grenzen einfach ein. Und es ist natürlich ein Unterschied, ob jemand einen Kredit bekommt für eine dumme Idee oder ob jemand vortäuscht, Arzt zu sein und damit direkt das Leben von Menschen gefährdet. Wobei Ärzte… Golfen die nicht nur den ganzen Tag? Hehe.

Ich bin genauso süchtig nach diesen Betrügergeschichten wie viele. True Crime lässt mich kalt, es sei denn jemand foppt Gesellschaft, Leute mit Kapital und Medien. Und es gibt auch genug Stories zur Zeit, ich muss nicht darben. Ebenfalls auf Netflix gibt es die Doku über den „Tinder Swindler“, bei der man während des Guckens natürlich denken soll, wie naiv die Frauen waren, die auf den Romantic-Scam von „Simon Leviev“ reingefallen sind, aber die auch gut erzählt, wie stark gepolt junge Frauen auf diese Prinz-Prinzessin-Geschichten sind und wie leicht manipulierbar man sein kann, wenn alles ganz schnell geht und das Dopamin kickt. Außerdem hat die Doku fast ein Happy End, für das sich die betroffenen Frauen zusammengetan haben und das ziemlich wholesome ist.

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Ein bisschen anders, weil eher ein unerfolgreicher Betrug, ist die Geschichte hinter der Serie „Pam & Tommy“, aber sie sei hier trotzdem erwähnt, weil auch da das Thema Klasse eine Rolle spielt. Der Handwerker von Tommy Lee wird von diesem um seine Kohle gebracht und klaut deshalb aus Rache seinen Safe. Darin befindlich auch ein Sextape von ihm und seiner Freundin Pamela Anderson. Rand, so heißt der Handwerker, versucht das Ding zu verkaufen, scheitert aber daran, wird dann von einem Pornoproduzent abgezogen und dann kommt auch noch das überraschende Potenzial des Internets dazu (die Geschichte spielt Mitte/Ende der Neunziger), in dem plötzlich jeder das Video downloaden und schließlich sogar streamen kann.

Auch wenn man unbedingt diskutieren sollte, ob es überhaupt gut ist, dass diese Serie existiert (Anderson wollte damit nichts zu tun haben, hat sich schon vor einer Weile aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, weil sie zu lange unter der Instrumentalisierung ihres Körpers gelitten hat und es ist fast gruselig, wie die Körper von Lily James und Sebastian Stan auf die Protagonisten umgemodelt wurden…), so ist sie doch erschreckend gut und wird vor allem der Komplexität von Anderson gerecht. Die Serie wirkt fast wie eine Entschuldigung ihr gegenüber. So hat vor allem Anderson unter der Veröffentlichung des Tapes gelitten, wurde geslutshamed, belächelt und zu der Zeit sogar nach ihrer Fehlgeburt von Paparazzi verfolgt. Die Beziehung zu Lee wurde schließlich wegen häuslicher Gewalt geschieden.

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Ein aktueller Podcast von argon.lab, den ich momentan höre, beschäftigt sich mit dem System Söring“. Jens Söring wurde 1990 in den USA wegen des Mordes an den Eltern seiner damaligen Freundin schuldig gesprochen, in mehreren Verfahren danach wurde das nochmals bestätigt. Irgendwann fing er an, die Geschichte seiner Unschuld zu konstruieren und gewann dafür bekannte Unterstützer. In Deutschland wird er oft als Opfer der willkürlichen US-Justiz gesehen, was aber eigentlich nicht haltbar scheint. Warum so viele auf ihn reinfallen konnten, kann man sich in acht Folgen reinziehen, gerade erschien Folge 5.

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Und schon mal geschwärmt habe ich in dieser Kolumne über „Shiny Flakes“, der sich aus dem Jugendzimmer einen riesigen Drogenshop aufgebaut hat und der dabei super dilettantisch und dreist vorgegangen ist. Vom Fyre-Festival fang ich hier lieber gar nicht erst wieder an.

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Von Hochstaplern und Betrügern zu Geflüchteten

Aber leider zappe ich nicht nur durch Netflix, Spotify und Co., sondern auch mal durch Fernseher und Internet und da ist es mal wieder soweit. FALSCHE FLÜCHTLINGE. BETRÜGER-FLÜCHTLINGE. ILLEGALE TRITTBRETT-FLÜCHTLINGE. Die Angst ist groß, denn es mischen sich Leute unter die erwünschten Ukraine-Geflüchteten, die nicht so erwünscht ist, und, oh, wer ist das wohl? Klar, es sind die Nichtweißen, einige von ihnen ohne RECHT auf Asyl. Gewieft und kultig sind die natürlich nicht, ihre Stories werden nicht erzählt, dabei wollen sie viel weniger als Millionen. Sondern zum Beispiel ein normales Leben, ohne Armut, Verfolgung, Krieg. Wer es nicht offiziell schafft, schafft es dann vielleicht illegal und hat natürlich keine Wahl, als sein Leben lang zu „betrügen“, illegal zu arbeiten, illegal zu wohnen und so weiter. Ob deine Geschichte also in einer Serie und Doku erzählt wird oder ein Foto von dir aus dem Görlitzer Park auf Boris Palmers Facebook landet, entscheidet, wo du geboren wurdest und wie du aussiehst.

Wir haben Verständnis für die großen Coups, weil sie so schlau wirken, weil diese Großbetrüger sich mit den Mächtigen anlegen, die wir für schlaue Leistungsträger halten. Wenn es aber zum Beispiel nur halb so war, wie in „Inventing Anna“ dargestellt, sind alle dort Beteiligten alles Mögliche, aber sicher nicht schlau. Wir wollen das aber glauben, damit das mit dem oben und unten Sinn ergibt. Sonst wäre ja alles willkürlich… Und wir könnten eigentlich alle überall sein. Was wir sollten. Wir könnten und sollten alle alles haben. Und die Reichen und Mächtigen sind reich und mächtig, weil sie die Strukturen dafür mit allen Mitteln festzurren und nicht weil sie in irgendeiner Weise besser sind.

Für die wirklich notwendigen Vergehen (sofern es überhaupt welche sind), nämlich für die, die aus Armut passieren, haben wir als Gesellschaft nicht so viel übrig. Sogenannte Kleinkriminelle, die gegen Gesetze verstoßen, weil sie überleben wollen, interessieren uns nicht, wir wollen sie nur weghaben. Wir nennen sie Sozialbetrüger – nicht die, die Steuerbetrug in hohem Maße begehen, und damit tatsächlich die Gesellschaft bestehlen. Wir feiern die Auswanderer aus „Goodbye Deutschland“ und gucken wieder ganz genau, wen „wir uns“ hier ins Land „holen“. Wir schmunzeln über die, die sich betrügen lassen, und merken nicht, wie wir selbst betrogen werden, zum Beispiel vom Scheißkapitalismus mit seinem Eigenverantwortungsgelapp.

Ich hab noch was geguckt die Tage: Die Doku „Die Grüne Lüge“ von Werner Boote und Kathrin Hartmann ist einem ganz großen Betrug auf den Schlichen. Und zwar dem Greenwashing von großen Unternehmen und all den Opfern dieser Ablenkungsmasche, nämlich richtigen Menschen, deren Gesundheit gefährdet wird und die deswegen irgendwann auch werden flüchten müssen. Unbedingt gucken, es ist wichtig.

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Euer Volker Pispers

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