Paul McCartney
Der Boom ist ungebrochen, sein Ende nicht in Sicht: Die Beatles-Revival-Welle, die 1973 mit der Veröffentlichung der Doppelalben "Beatles 1962-66" und "Beatles 196770" begann, schäumte im abgelaufenen Jahr höher denn je und spülte alte Beatles-Platten gleich zu Dutzenden in die Hitparaden. Paul McCartney nutzte den Trend besser aus als die anderen drei Pilzköpfe : Mit seiner Band Wings zog er durch Amerika und Europa, spielte alte Beatles-Nummern und neue Songs, die er unverhohlen seinen Kompositionen aus den späten sechziger Jahren anglich. Wings auf der Bühne und auf Platte: Das ist ein Stück vom Flair eines goldenen Popjahrzehnts, mit dem ein wieder selbstbewußter Paul McCartney geschickt kokettiert.
Paul McCartney zog eine Taschenlampe von der Größe eines Kugelschreibers hervor, leuchtete dem Fragesteller ins Gesicht, grinste teuflisch und meinte: „Ja, Mann, das war eine verdammt gute Frage!“ Der Gedankenblitz,den sein Gegenüber beim Interview hinter den Kulissen der Wiener Stadthalle in Frageform gekleidet hatte, lautete: „Wie hast Du Dich gefühlt, als die Beatles auseinanderbrachen?“
Paul muß immer noch mit solchen Fragen leben, auch wenn der Split der Beatles schon sechs Jahre zurückliegt. Aber er trägt sie mittlerweile mit Humor. Mit bewußt zur Schau gestellter Heiterkeit, die mehr verrät als nur Amüsement über den Job des Journalisten, die er durchweg nicht ernst nimmt: Paul Mc-Cartney hat sich inzwischen freigemacht von den Schatten der Vergangenheit, schwebt dank seiner neuen Identität als erfolgreicher Wings/Musiker über jener machtvollen Institution, die Beatles heißt, der er selbst angehörte und die nach dem Zusammenbruch wie ein gigantischer, unüberwindbarer Maßstab vor seiner Zukunft lag.
Der Knoten platzte, als 1974 „Band On The Run“ erschien und sich nicht nur als Verkaufserfolg, sondern auch als Lieblingskind der Rockkritik entpuppte. Seitdem brauchte Paul der ewigen Frage, wie seine Neuproduktionen im Vergleich zum alten Beatles-Material aussehen, nicht mehr schamvoll auszuweichen. Ja, er konnte — dank neugewonnener Ellenbogenfreiheit …in der goldenen Beatles-Zeit.
— sogar noch einen Schritt weitergehen: Spätestens sein jüngster Millionenseiler „Wings At The Speed Of Sound“ ist nach jenen Soundmustern gestrickt, die typisch waren für die Beatles-Musik in den Jahren 1968 und 1969, als unter anderem die Platten „Magical Mystery Tour,, und „White Album“ erschienen.
Paul McCartney hat zurückgefunden zu jener musikalischen Kunstfertigkeit, die man mit seinem Namen zwangsläufig immer verbunden hat. Und er hatte Glück, geriet mit seinen jüngsten Wings-Platten mitten hinein in einen neuen Beatles-Boom, in dem er nun der einzige der vier Pilzköpfe ist, der die Liverpool-Legende wieder live auf die Bühne bringt und den alten und nachgewachsenen Beatles-Fans einen Teil ihrer Träume erfüllt.
Im Verlauf der diesjährigen Tourneen durch Amerika und Europa — zu den letzten Schauplätzen zählten Wien, Zagreb (Paul:,,Wer uns dahin geschickt hat, weiß ich auch nicht!“), Venedig und München — spielte Wings wieder etliche alte Beatles-Nummern: „Lady Madonna“, „I’ve Just Seen A Face“, „Long And Winding Road“ und schließlich „Yesterday“, bei dessen Interpretation der Jubel zuweilen an die echten Beatles-Konzerte der sechziger Jahre heranreichte — nur das durchdringende Teenager-Gekreische und die kleinen Mädchen, die sich die Hosen naß machten, fehlten.
Paul selbst streifte in den letzten Jahren ein gutes Stück von seinem typischen Image ab: Er ist nicht mehr der weiche Balladensänger, der mit verklärten Augen und einem Pummelgesicht am Mikro steht, sondern gibt sich härter, läuft auf zum quicklebendigen, antörnenden Entertainer, der sein rockiges Repertoire sicher im Griff hat. Vor allem Wings hat Paul auf Vordermann gebracht; mit dem Gitarristen Jimmy McCulloch und dem Drummer Joe Englisch fand er Musiker, die seine melodiösen Kompositionen mit viel Energie ausstatten und mit dem notwendigen Druck ausspielen. Im Gespräch in Wien bestätigte Paul, wie glücklich er mit der aktuellen Wings-Besetzung ist — ein weiteres Stimulanz für die Hochstimmung, mit der er jüngst durch Europa reiste, begleitet von Ehefrau Linda und den drei Töchtern Heather, Mary und Stella und ausstaffiert mit einem frisch gewachsenen Oberlippenbärtchen.
Die frühen siebziger Jahre, in denen er zwar auch jede Menge Hits verbuchen konnte, Songs wie „Mary Had A Little Lamb“ oder LP’s wie „Red Rose Speedway“ und „Ram“ von der Kritik aber zerrissen wurden, sieht er heute schon wieder wie durch einen Schleier. „Sonderbar“, sagt er, war es damals, als er nach Auflösung der Beatles, die ohnehin im August 1966 zum letzten Mal live gespielt hatten, sich aufraffte, wieder Konzerte gab und ganz unten, in Clubs und kleinen Sälen in britischen Universitätsstädten, anfangen mußte.
Bereuen braucht er diesen Entschluß nun nicht mehr. John Lennon, Ringo Starr und George Harrison, die man sich inzwischen kaum noch auf einer Bühne vorstellen kann, blicken wohl ein wenig neidisch auf Wings, die „Band On The Run“, die mit ihren Tourneen in diesem Jahr ihre Platten in die Bestsellerlisten drückte und dort sogar noch die Beatles-Neuauflagen überflügelte. Mc-Cartney garantiert heute, daß der Beatles-Boom weiter anhält, und er möchte gerade Deutschland noch stärker damit infizieren. In Düsseldorf, Frankfurt und vor allem in Hamburg, erklärte er, würde er im nächsten Jahr gerne auftreten. In Hamburg, meinte er, würden noch alte Freunde auf ihn warten, aus seligen Star-Club-Zeiten vermutlich. Daß Paul sie nicht vergessen hat, zeigt sein Wortschatz. Denn in Wien schickte er sein 9000köpfiges Publikum mit deutschen (!) Worten nach Hause: „Feierabend! Es ist 22 Uhr. Ausweiskontrolle!“