Ougenweide
Seit Ougenweide in der ARD-TV-Reihe "Dokumente Deutschen Daseins" Lieder aus drei Jahrhunderten vortrugen, sind die sechs Hamburger Musiker endgültig keine Unbekannten mehr. 1973 war ihr erstes Album erschienen, und für manchen Rockfan wurde die Band danach zum stillen Labsal. Was da vor etwa fünf Jahren mit selbstgenügsamer Hausmusik auf altertümlichen Instrumenten wie Drehleier, Dulcimer, Krummhorn und Cymbeln begann, hat sich inzwischen allerdings ganz schön gemausert: Ougenweide sind rockiger, härter und dynamischer geworden. Als sie in Hamburg ihrem jüngsten Album den letzten Schliff gaben, besuchte Christian Stukenberg die Musiker.
Olaf ist passend gewandet. Mit dunkelblauer Latzhose, weißem Hemd und im Nacken zusammengebundenen Haaren sieht er aus wie ein Windjammer-Matrose aus dem letzten Jahrhundert. Bis 1917 als die Matrosen der kaiserlichen Flotte die deutsche Republik ausriefen, haben sich Ougenweide zwar noch nicht vorgearbeitet. Bei der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 mit ihren noch heute brisanten Liedern aber sind sie angelangt.“… Drum: die Fahne der Empörung / Trag die Poesie voran,“ dröhnt es fordernd aus den Studioboxen. Dann ein paar Paukenschläge, und wieder wird das Band angehalten. Olaf Casalichs, Sänger und Drummer von Ougenweide, sitzt hinter der Glasscheibe und schwingt die Schlegel; blitzschnelle, barsche Wirbel unterstreichen die Dramatik des instrumentalen Mittelteils von „Zittert, zittert, blöde Toren“. Frank Wulffs Querflöte faucht dazu.
Achim Reichel, ein alter Hase der bundesdeutschen Rockszene und seit neuerem Urheber eines knorrigen Shantyrocks, ist wie schon bei vorhergegangenen Alben der Producer von Ougenweide. Fünf-, sechsmal läßt er Olaf den Pauken-Take wiederholen. Dann haut’s hin. Achim schreit „tierisch“ ins Studiomikro, lacht und stellt nacheinander die Musiker vor, die auf den Bänken im Mixerraum ‚rumlümmeln: Jürgen Isenbart (Marimbaphon, Glockenspiel, Percussion) die schlaksigen Gebrüder Stefan (Bass. Mundharmonika) und Frank Wulff (BlasInstrumente, Bouzouki, Dulcimer. Zither) und schließlich Wolfgang von Henko (Gitarre, Mandoline). Singen tun sie alle. Nur ihre Sopran und Altlagen gleichermaßen beherrschende Sängerin Minne Graw ist heute nicht anwesend; ihren Teil zum „Fryheif‘-Album hat sie bereits beigetragen.
Bevor wir uns zu einem Gespräch in die Kantine verziehen, läuft noch einmal „Zittert, zittert blöde Toren“ komplett vom Band ab: „Ungestüm in tausend Gliedern/Tausend Adern liegt der Streit/Und ein Arsenal von Liedern/Liegt in Deutschland kampfbereit.“ Das sind kriegerische Worte, geschrieben von Georg Herwegh (1817-75), Revolutionär von 1848, als Anarchist bis heute verfemt, als Dichter fast vergessen…Politisch Lied, garstig Lied! Ougenweide haben mit der Auswahl der Texte zu dieser LP Stellung bezogen. Auf dem Cover danken sie Bauern, Handwerkern und Bettlern. Richtern, Folterknechten und Halsabschneidern, Soldaten und Offizieren, Hingerichteten und Überlebenden aus mehr als drei Jahrhunderten. Sie hätten den Stoff geliefert, „aus dem unsere Erinnerungen sind“.
Die Melodien zu diesen Erinnerungen sind größten Teils bearbeitete Volksweisen. Aber auch Kompositionen von Karl Maria von Weber und Robert Schumann wurden übernommen. Ersterer etwa schrieb die Noten zu Theodor Körners „Lützows wilder verwegener Jagd“. Dieses Lied, gemeinhin im Repertoire deutscher Männergesangsvereine beheimatet, klingt bei Ougenweide natürlich ganz anders. Die markigen Worte des Liedes, ebenso der beigegebene Kommentar, gehen übrigens an der geschichtlichen Wirklichkeit vorbei: das in schwarz-rot-goldene altdeutsche Tracht gekleidete Freikorps war im Befreiungskrieg gegen Napoleon militärisch völlig unwichtig.
Apropos, hymnische Töne sind natürlich jedermanns Sache nicht. Der glockenhelle Gesang, die Cymbeln und Pauken, der vorwärtsmarschierende Bass, all das klingt so typisch deutsch, ist deutsch und ….macht betroffen. Soll hier das Teutonenherz, die „Tschingderassabumm-Seele“, die auch in uns Nachgeborenen, uns Kindern von Sgt. Pepper und Coca-Cola noch ihr Plätzchen hat, angesprochen werden? Falsch und richtig zugleich: Falsch insofern, als Ougenweide, nichtzuletzt wegen ihres mittelhochdeutschen Materials, meilenweit von den traditionellen Gralshütern deutscher Kultur, den Gesangsvereinen und Musik-Korps, der weingeschwängerten Wacht am Rhein-Seeligkeit entfernt sind. Richtig, weil hier eine Gruppe konsequent zu den eigenen, nämlich: deutschen Wurzeln zurückkehrt.
Während andere Gruppen unermütlich die Quadratur des Kreises versuchen, indem sie ihren deutschen Erziehungshintergrund unbearbeitet lassen, ihre Erfahrungen englisch verschlüsseln und damit unglaubhaft werden, kennt Ougenweide dieses Problem nicht. Ganz unbefangen darf bei ihren besinnlichen Liedern wie „All diweil Ich Mag“, „Ouwe wie jaemerliche“ oder „Wol mich der Stunde“ Gefühl aufkommen, bei den diversen „Eulenspiegelein“ gelacht und getanzt werden, bei den revolutionären Liedern aus den Bauernkriegen Engagement für die Geknechteten aufwallen. Die vielbemängelte deutsche Schwerblütigkeit, die dem Deutschrock so oft angekreidet wird, gehört zu Ougenweides Musik, wie Wurmlöcher zu einem Bauernschrank. Da darf im Wechsel der hurtigen Tänze und traurigen Balladen aufkommen, was Thomas Mann einmal das „Lächeln unter Tränen“ genannt hat.
Es darf aber auch gefragt werden, bei den Konzerten der Gruppe. Ihre soeben zuendegegangene Tournee war ein voller Erfolg, nicht zuletzt weil Ougenweide das teilweise kontroverse Liedgut auch zur Diskussion stellt. „Wir spielen am liebsten in kleineren Sälen, vor nicht mehr als tausend Leuten“, bemerkt Frank. „Da hört man noch, wenn jemand in der letzten Reihe was ruft. Das gehört zu unserem Ding dazu!“