Ost-Handel – Scorpions Backstage


Die Grenzen werden offener: In Leningrad gaben die Scorpions zehn Konzerte vor 150.000 enthusiastischen Zuschauern, und das war erst der Anfang...

Eigentlich hätte alles ja auch ohne Komplikationen ablaufen können. Der Trip in den Osten sollte die Premiere ihres neuen Albums SAVAGE AMUSEMENT, zugleich auch Auftakt zu einer 12-monafigen Welttournee sein. Doch dann, nur wenige Tage vorm Startschuß „bekamen einige hohe Herren in Moskau wohl kalte Füße „, berichtet Rudolf Schenker, Gitarrist der Scorpions, die als erste prominente Hardrock-Band des Westens vom 16. bis 29. April in die Sowjet-Union reiste.

So kurz vor den Feierlichkeiten zum Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai, angesichts auch der enormen Popularität der Hannoveraner im Land von Lenins Erben, war offensichtlich erhöhte Vorsicht geboten. Das Schreckgespenst unkontrollierbarer Tumulte geisterte durch die Köpfe der Funktionäre.

Vor die Wahl gestellt, statt fünf Konzerten in Leningrad und weiteren fünf in Moskau (so der ursprüngliche Plan) sämtliche zehn in der Stadt an der Newa zu spielen – oder aber die Tour ganz abzublasen, ging man schließlich auf das Angebot der Verantwortlichen ein. Glasnost? Klar, aber alles bitteschön in Maßen!

Ansonsten gab es kaum Grund zu Klagen. Durchweg freundlich und wider Erwarten unbürokratisch gestaltet sich unsere Einreise am Nachmittag des 24. April: Von scharfen Kontrollen oder gar „schleppender Abfertigung“, wie es im Reisebegleiter heißt, ist jedenfalls nichts zu spüren. Auf dem Leningrader Flughafen werden die Fünf von zahlreichen Fans gleich mit „No One Like You“-Gesängen lautstark empfangen. Vor dem Hotel „Pulkovskaya“, Unterkunft von Band und Crew, stehen sich bei winterlichen Temperaturen einige Zweihundertprozentige die Beine in den Bauch. Ihnen ist der Aufenthalt in der ausschließlich für Valuta-, sprich harte West-Währung, Kunden bestimmten Herberge nicht gestattet.

Nur hie und da gelingt es einzelnen Abenteuerlustigen, die allgegenwärtigen Augen und Ohren der Ordnung zu überlisten und im Hotel ein Autogramm zu ergattern, „Einer aus unserer Crew“, so Herman Rarebell, „war so schlau und nahm eines Abends ein Mädchen mit aufs Zimmer – ohne zu wissen, daß es ausdrücklich verboten ist, nach 23 Uhr noch Besuch von Einheimischen zu empfangen. Als plötzlich jemand an der Tür klopfte, kroch sie in panischer Angst unter die Decke und machte sich vor Angst bald in die Hose. Zum Glück wurde der Vorfall nicht an die große Glocke gehängt.“

Überhaupt Kontrolle. Das Auge des Gesetzes scheint hier alles zu sehen, die Kontrolettis sind immer in greifbarer Nähe, ohne jedoch tatsächlich einzuschreiten. Pünktlich um 20 Uhr ist es soweit: Gorki Park, eine junge Hardrock-Band aus Moskau, betritt die Bühne des „Lenin Sportkomplex“, der mit einem Fassungsvermögen von 36.000 Zuschauern die Ausmaße eines ausgewachsenen Fußballstadions hat. Allerdings – und auch da mußten sich die Scorpions einem Kompromiß beugen – hat man die Hälfte der Halle mit großen Planen abgehängt und die Kapazität somit auf 15.000 Leute reduziert. Der Begeisterung tut das keinen Abbruch, auch wenn die Vorgruppe erst einmal einen Hagel von Wunderkerzen über sich ergehen lassen muß. Die gleichen Wunderkerzen, die hier noch aus deutlichem Unmut fliegen, sind mit Beginn des Konzerts der Scorpions als Beifall gedacht. Trotz der eindringlichen Warnung von Tourmanager Bob Adcock, keine Gegenstände auf die Bühne zu werfen, setzt ein wahres Bombardement ein: Von diversen Schals über Jacken bis hin zu Wunderkerzen ist den Zuschauern alles recht, um ihrer Begeisterung Luft zu machen. Und kaum erklingen die ersten Takte von „Still Loving You“, kommen selbst die gesetzteren Herrschaften auf den hinteren Sitzplätzen in Wallung. Nach 90 Minuten ist Ende der Vorstellung. Ebenso diszipliniert, wie man gekommen ist, zieht man auch wieder ab. Bis auf die Hartnäckigen. Sie umlagern die Limousinen, versperrenden Weg oder setzen sich auf die Kühlerhaube. Erst das Auftauchen der Polizei kühlt die Gemüter.

„Wir haben ja einiges erwartet“.

kommentiert Herman die allabendlichen Szenen, „aber daß die Leute derart ausgehungert sind, damit haben wir nicht gerechnet. “ Aus Moskau, aus vielen Teilen der riesigen Republik, ja selbst aus Sibirien sind sie ins verschneite Leningrad gepilgert, um für fünf Rubel (eine Menge Holz bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 120) pro Ticket die Scorpions livehaftig zu sehen. “ Du kannst dir gor nicht vorstellen, was los war, als wir eines Abends in einem Club auftauchten und auf die Bühne gingen“, erinnert sich Rudolf.

„Das einzige Problem dabei war nur; Wir hatten leichte Anpassungsschwierigkeiten an die landesüblichen Instrumente, die man uns netterweise in die Hand drückte.“

Insgesamt 150.000 Zuschauer bei zehn ausverkauften Konzerten sind weiß Gott ein vielversprechender Start, aber sicher noch ausbaufähig. Mal sehen, was aus dem Wunsch, zum Abschluß der Welttournee die verweigerten fünf Konzerte in Moskau doch noch nachzuholen, wirklich wird. Die Entwicklung der politischen Verhältnisse wird darüber Aufschluß geben…