Ohne diese Band kannst du 2023 vergessen: Tränen
Das Chemnitzer Duo Tränen ist Newcomer des Jahres, da legt sich Linus Volkmann in seiner Kolumne fest.
Unter Spannung stehender NDW-Wave – mit den besten Sehnsuchts- und Wahnsinnstexten von hier bis Feuerland. Tränen sind die Newcomer 2023.
Hochverdichtete Top-Journos des Feuilletons – ausgebildet noch an den Reliquien von Rudolf Augsteins sterblichen Überresten … Herzlich willkommen in diesen Zeilen! Denn trotz all ihrer Kompetenz und den konspirativen Stunden im Brandy-Zimmer des Spiegelhochhauses schauen die Journalisten-Logen wie jedes Jahr neidisch auf diese visionäre Homemade-Kolumne, in der ich den frischen Newcomer des Jahres in meinen Armen wiege. Jener möge dann nach langen Monaten des Zaudern auch in die Feuilletons sickern. Wie schon seine Vorgänger in dieser Reihe: 2021 fand sich hier bereits Team Scheisse und 2022 Pogendroblem.
Na, dann. Kann‘s losgehen, wenn alle bereit sind.
Vergessen
Wobei der Titel der Reihe dieses Jahr schon fast dazu einlädt zu denken: „Ich wünschte, ich könnte 2023 vergessen!“ Denn soviel Regress, soviel Untergang war selten. Doch gerade deshalb freue ich mich, eine so unfassbar tolle Entdeckung hier mit euch zu teilen: Tränen aus Chemnitz. Ganz ohne Artikel. Wer kriegt da nicht Flashbacks auf den allerersten Strunk-Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ und der dort beschriebenen Band Tiffanys, die sich auch immer – natürlich vergebens – gegen das „Die“ wehrten?
Tränen, das sind Gwen Dolyn und Steffen Israel. Auf erstere bin ich eher zufällig gestoßen, da sie in ihrem damaligen Outfit (Gwen Dolyn und Toyboys) ein Cover eines EA80-Songs auf YouTube hat. EA80 – das ist eine unheimlich aufgeladene Düsterpunk-Legende aus den Achtzigern (die bis heute aber noch aktiv ist) und der Song „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ stellt im Original szenenübergreifend etwas sehr Monolithisches dar. Umso erstaunlicher, dass Gwen Dolyn dem mit ihrer Interpretation soviel Gleichwertiges und Neues zufügen konnte. Seitdem bin ich hooked.
Und Steffen Israel? Na, den kennt man als Gitarrist von Kraftklub. Okay, zumindest Kraftklub dürften alle kennen, Steffen selbst fällt in dieser Band dagegen nicht gerade als Lautsprecher auf. Frei nach einer alten Simpsons-Folge würde ich über ihn sagen: „Und Steffen … das könnte der stille, religiöse Typ sein, der irgendwann durchdreht.“
Spaß natürlich. Steffen ist vermutlich nicht besonders religiös.
Diese Woche (Anfang November 2023) erscheint ihr Debüt-Album HAARE EINES HUNDES und ich bin mir wirklich selten so sicher gewesen: Das ist das Ding, Leute. Hört einfach selbst.
Und lest natürlich, was die beiden zu erzählen haben. Viel Spaß.
Okay, ich will euch am liebsten gleich mit total anstrengenden, besonderen Fragen nerven. Aber das wird der Sache dann doch nicht gerecht, immerhin seid ihr ein ganz neuer Act. Also lasst uns lieber ganz einfach beginnen. Wie habt ihr euch kennengelernt?
GWEN [grinst Steffen an] … Don‘t say it!
Wieso nicht? Tinder, oder was?
STEFFEN [lacht] Nee, elitepartner.de! Es ist die beste Plattform, wenn man eine Band sucht. Weißt du, so ein Zettel im Bandhaus, das bringt nichts mehr. Nein, Quatsch. Wir sind uns über die Musik über den Weg gelaufen.
GWEN Steffen hat ein Stück von mir in seinem Podcast gespielt und mich falsch ausgesprochen …
STEFFEN Passiert mir leider öfter, weil ich die Bands vorher ja immer nur lese … Ist bei dir zwar nicht der schwerste Name, aber er hat mich dann doch irgendwie ins Stolpern gebracht.
GWEN Du hast auf jeden Fall etwas sehr witziges aus meinem Namen gemacht, sodass ich mich eingeladen fühlte, dir eine Sprachnachricht zu schicken. Da ich mich natürlich auch total gefreut habe und geschmeichelt war, dass ich in so einem bekannten Podcast auftauche. [Der Podcast von Steffen Israel und Kraftklub-Sänger Felix Kummer heißt „Radio mit K“]
STEFFEN [stellt die Kontaktaufnahme noch einmal nach] „Hallo, mein Name ist Gwen Dolyn.“
GWEN Haha, ja, so richtig westdeutsch halt.
STEFFEN Und im Chat haben wir dann begonnen, uns über Musik auszutauschen. Und sie meinte, dass sie nach „Dr. Murkes“ noch mal eine solche Punk-Coverversion machen wolle, diesmal „Duell der Letzten“ von Chaos-Z. Den Song kannte ich ehrlich gesagt nicht, aber als ich ihn dann hörte, war ich auch begeistert. Der wird ja auch immer besser, je mehr man ihn hört. Da habe ich mich angeboten, falls sie jemanden braucht für das Projekt, ich wäre gern dabei. Dann trafen wir uns in Berlin und es wurde wirklich ernst.
GWEN Für mich fand das alles ohnehin in einer großen Umbruchphase statt. Liebeskummer und Entwurzelung – ich habe letztlich dann ja auch die Stadt gewechselt und spürte einen großen Drang, Dinge einfach noch mal anders anzugehen. Bei meinem Soloprojekt war ich immer sehr auf mich zurückgeworfen, Toyboys waren meine Liveband, aber haben bis auf zwei Stücke nicht am Songwriting mitgewirkt – daher fand ich es inspirierend, mit Steffen zusammenzuarbeiten. Also mit jemandem, der ebenfalls Songs schreibt.
STEFFEN Wobei das Ausmaß, das die Band jetzt angenommen hat, gar nicht der Plan war.
GWEN Genau! Eigentlich sollte es doch bloß eine gemeinsame Coverversion werden.
Dann stelle ich mir das also so vor, ihr habt „Duell der Letzten“ fertig gehabt und gemerkt, dass da noch mehr drin ist?
GWEN Könnte man jetzt denken, aber es war anders: Wir haben „Duell der Letzten“ viel eher einfach überhaupt nicht fertig bekommen und dann angefangen, parallel noch an ein paar anderen Ideen geschraubt, weil es so frustrierend mit diesem Stück war. Steffen hat sein Plektrum nach dem Computer geworfen!
STEFFEN Es ist mir aus der Hand gefallen …
GWEN Selbstverständlich! So jedenfalls hat sich das alles aufgebaut. Die Demos drumrum wurden immer mehr, weil „Duell der Letzten“ so lange schwierig blieb. Und man muss aber auch ergänzen, wir haben uns beide einfach saugut verstanden, haben uns gegenseitig Musik gezeigt und schnell gemerkt, wie sehr wir uns ergänzen. Steffen ist ja eine ziemliche „Popnuss“, das wird mir vor allem bewusst, wenn ich ihn mal auflegen sehe. Für mich ist genau das dagegen eine ziemliche Leerstelle. Gerade Hits, die jeder kennt und mitsingen kann, da gucke ich immer bloß fragend … Dafür bringe ich dann irgendwelche süßen Indiebands an, die er vorher noch nie gehört hat.
STEFFEN Moment mal, das klingt ja jetzt, als würde ich wirklich nur Pop hören! Dabei habe ich ein großes Herz für zum Beispiel amerikanischen Garage und Indie-Sound.
GWEN Wir profitieren einfach gegenseitig, darauf wollte ich hinaus.
STEFFEN Das habe ich alles sehr intensiv erlebt, eine tolle Phase. Wir haben viele Stücke, die wir uns vorspielten, auch gleich in unser Projekt reingedacht: „Ja, so einen Part brauchen wir auch!“ „Geil hör‘ mal hier, das wäre es doch!“
GWEN [lacht] Aber letztlich ist es dann überhaupt nicht so geworden.
STEFFEN Wir hatten die Vision, dass wir etwas ganz Düsteres mit auch einer Schwere erschaffen, aber irgendwie … hat die Musik uns doch woanders hingeführt. Wir haben uns wohl nur was vorgemacht, als wir dachten, dass wir die neuen deepen Darkwave-Indies seien.
GWEN Es gab ganz viel, dass wir cool fanden und was wir auch gerne gewesen wären, aber dann wurde uns klar, wir wollen uns selbst entfalten mit diesem Projekt. Also nicht versuchen, irgendwer zu sein, oder ein Konzept verfolgen und einzuhalten. Wir wollen uns mit Tränen freier fühlen. Daraus ergab sich die Frage: Worum geht es uns dann? Und unsere Antwort war, es geht um Metamorphosen genauso wie um die Auseinandersetzung mit den eigenen Dämonen. Daher hatte ich auch gleich dieses Bild von den Haaren des Hundes im Kopf. Also dieses Spannungsverhältnis, dass etwas gleichzeitig Gift und Gegengift sein kann.
Ich muss ganz doof fragen: Haare eines Hundes, was hat das mit Selbstverwirklichung zu tun?
GWEN Das kommt von dem englischen Sprichwort „The hair of the dog that bit you“ und bezieht sich ganz einfach gesagt auf das „Konterbier“. Man hat einen Kater und soll sich am nächsten Morgen aber noch einen reinkippen, damit es nicht so schlimm ist. Es geht also darum, dass man sich die Dinge, die einen fertig machen, ins Bewusstsein hebt – und sie sich in verträglichen Happen zuführt. Wie bei einer Immunisierung oder auch einer Therapie.
Mir geht es oft so bei verschlüsselten Texten, dass ich denke: Eigentlich ist das doch bloß smartes Wortgeklingel, das so tut, als wäre so viel dahinter, aber eigentlich gibt es sie gar nicht, die behauptete, tiefere Bedeutungsebene. Bei Tränen, obwohl die Texte oft nicht auf den ersten Blick zu dechiffrieren sind, habe ich das Gefühl überhaupt nicht. Das fasziniert mich ganz besonders, dass man spürt, oh, hier gibt es zur Abwechslung wirklich was zu entdecken – hier lohnt es sich, über einzelne Zeilen nachzudenken.
GWEN Das, was du beschreibst, mit dieser Inhaltsleere empfinde ich auch als extrem unangenehm – und freue mich dementsprechend, dass du das bei meinen Texten nicht so liest.
Dass es viel um Ängste geht und um dunkle Orte der eigenen Psyche, das lässt sich auch ohne Vergrößerungsglas sehen – auch weil du damit auf Social Media offen umgehst. Fällt dir diese Offenheit, diese Verletzlichkeit in deiner Kunst leicht?
GWEN Ich habe mich eine zu lange Zeit in meinem Erwachsenenleben versteckt – und ich habe an all die damit einhergehenden Ängste viel Zeit verloren, genauso wie auch an die, ja, materielle Armut, die damit in Verbindung stand. Es ist heute für mich immer noch super anstrengend, Songs zu schreiben und meine Emotionen in eine Form zu bringen, die man präsentieren kann, aber es ist für mich wirklich eine Überlebensstrategie. Ich habe auch vieles andere probiert, aber das ist eben das, womit ich noch am besten klarkomme. Wenn Leute mir auf Social Media folgen, dann können sie in meiner Musik natürlich sehr viel von mir wiederfinden – während die, die nur über die Songs kommen, diese eher als gesellschaftliche Kommentare lesen. Was sie natürlich genauso auch sind.
Und Steffen, wie ist es denn eigentlich für dich, mit diesem Projekt plötzlich soviel exponierter zu sein? Bei Kraftklub nimmt das ja Kummer Eins auf sich. Hier bei Tränen musst du dich nun selbst erklären.
STEFFEN Ganz okay … zum Glück bin ich aber trotzdem nicht allein. Weniger als ein Duo ginge für mich nicht.
Wenn man Pärchen auf der Bühne sieht, stellt man sich meist vor, dass die auch in echt zusammen sind. Wie ist das bei euch so mit Love?
GWEN Haha, Du bist der erste, der sich das zu fragen traut!
Und?
STEFFEN Dafür gibt es den Song „Es ist nicht, wie es aussieht“ auf der Platte gleich als erstes. Um das klarzustellen.
[Schweigen]
STEFFEN [verschmitzt] Die Musik verbindet uns. Das ist unsere Liebe.
[Schweigen / Ich hoffe, dass noch mehr zum Thema kommt. Doch die beiden gucken bloß freundlich.]
Okay, okay, dann letzte Frage: Hype-Town Chemnitz. Gwen, wie hast du dich hier eingelebt? Steffen, was hast du ihr als erstes von der Stadt gezeigt?
STEFFEN Als erstes … Natürlich das beste vietnamesische Restaurant! Denn Gwen isst gern vietnamesisch. Und danach? Muss ich nachdenken …
GWEN Seitdem zeige eigentlich eher ich Steffen die Stadt. [lacht] Nee, die Clubs hat er mir schnell vorgeführt. Wir waren im Weltecho und durften auch das neue Atomino mit eröffnen. Chemnitz ist für mich jedenfalls echt eine sweete Base, da nicht so viel los ist und schön viel Natur drum herum liegt. Aber es gibt schon auch ein paar nette Cafés, ich sitze gern in Cafés, muss ich sagen – und die, die es hier gibt, die habe ich dann auch Steffen näher bringen können. Außerdem kann man sich auch als arme Künstlerin in Chemnitz was zum Wohnen leisten – als reiche aber natürlich genauso.
Kraftklub verkörpern ja diese Haltung, dass kulturelles Leben außerhalb von Berlin möglich ist. Und die Leute nicht zwingend irgendwann doch aufgesaugt werden müssen von der Hauptstadt.
STEFFEN Aber als Markenbotschafter von Chemnitz sehe ich mich trotzdem nicht. Gwen hat es einfach so hier gefallen.
GWEN Das stimmt.
Das Album: Tränen – HAARE EINES HUNDES (Eklat / VÖ 03.11.)
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