,,Oha, das wird ein Desaster“


Wenn personifizierte Musikgeschichte zu Gast ist, müssen schwere Geschütze aufgefahren werden. Der 60-jährige Krautrocker Michael Rother kennt die Musik des letzten Jahrhunderts, aber was ist mit der Gegenwart? Unsere Auswahl sorgt für ein klein wenig Verzweiflung – und neue Erkenntnisse.

Tocotronic „Gift“

Michael Rother: (Als die ersten Töne erklingen) Schon mal schlecht, kenne ich nicht. (lacht)

Reicht die Lautstärke?

Ja, das ist fast schon zu laut. Ich höre irritierende Frequenzen. Das ist ja ganz toll in der Großstadt, wenn von draußen weitere Melodien dazu kommen oder so Verschiebungen stattfinden.

Wenn der Gesang einsetzt, erkennst Du sie.

Das ist nicht Seefeel?

Nein.

(Gesang setzt ein) Das ist aber hübsch! Kenne ich aber nicht.

Eine Hamburger Band.

Das habe ich schon fast befürchtet. Lass mich mal kurz noch hören. Notwist?

Nein.

Aber, ich bin auch kein Experte für anderer Leute Musik.

Das ist die Band, die immer in einem Atemzug mit Blumfeld genannt wird, wenn es um die „Hamburger Schule“ geht. Liefen früher in Trainingsjacken und Cordhosen rum.

(Zaghaft) Tocotronic?

Genau.

Aha. Immerhin. „Man hat ihn fast über die Ziellinie schubsen müssen.“ Das ist ja sehr zart. Aber im Ernst: Ich kenne von Tocotronic so gut wie gar nichts. Habe sie weder live gesehen noch ein Album gehört.

Dann bin ich gespannt, was Du zu Song zwei sagst …

Dendemann „Stumpf ist Trumpf“

(Nach den ersten drei Sekunden) Kenne ich nicht. Oha, das wird ein Desaster. Rother fällt vom Mond.

Ist auch Hamburg, aber Hip-Hop.

Pfft, wen kenne ich aus Hamburg? Fettes Brot?

Die sind es nicht. Jan Delay ist es auch nicht.

Okay, mit dem spiele ich beim Dockville-Festival. Da werde ich ihn vielleicht kennenlernen. Nein, dann verrate es mir, bitte.

Das ist die neue Single von Dendemann.

Den Namen habe ich gerade irgendwo gelesen! Vor zwei Stunden erst, das ist ja interessant. Also, mit Hamburg musst Du mir nicht kommen.

Du bist aber Hamburger.

Ja, aber im Alter von vier Jahren weggezogen. Wenn ich jetzt in Hamburg bin, höre ich alles Mögliche, nicht unbedingt Locals.

Interessieren Dich Hamburger Bands grundsätzlich nicht?

Das wäre ja töricht! Aber ich suche ja nicht nach Musik, das sind alles Zufallsergebnisse, wenn ich etwas Neues höre, oder Empfehlungen.

Oasis „Can You See It Now? (I Can See It Now)“

Auch schön, aber kenne ich nicht.

Ich glaube schon.

Ah, doch! Vielversprechender Anfang. Ist das Sonic Youth?

Nein.

Aber ich kenne das! Natürlich kenne ich das.

Da kommst Du gleich drauf.

Sag‘ bloß, das ist Oasis? Ist ja Wahnsinn! Die kenne ich nämlich eigentlich überhaupt nicht. Ja, ja, ja. Auch bei dem Stück „The Shock Of The Lightning“ von 2008. Als das bei mir ankam, dass sich Oasis dabei auf Neu! berufen, da habe ich auch sofort verstanden, warum. Bei dem Stück hätte ich am liebsten gleich die Gitarre genommen und mitgespielt. Dann habe ich auch verstanden, wie das gemeint war: Beatles plus Neu! = The Shock Of The Lightning.

Auf Neu! berufen sich ja unendlich viele Bands. Ehrt Dich das oder nervt das eher?

Ich finde es angenehm, wenn dabei etwas passiert, was mir auch gefällt. Wenn das Verarbeiten der Anregung nicht zu simpel, zu platt vonstatten geht, sodass man nur skalpiert wird, sondern wenn tatsächlich ein bisschen tiefer nachgedacht wird. Und wenn es öffentlich gemacht wird, wie bei Sonic Youth, genauer gesagt: Ciccone Youth und ihrem Lied „Two Cool Rock Chicks Listening To Neu!“. Das ist historisch bedeutend, da bezog sich eine Band in der Vor-Internet-Zeit dezidiert auf uns.

Sonic Youth „JC“

(Hört angestrengt zu) Keinen blassen Dunst. Könnte alles Mögliche sein. Englisch würde ich mal tippen.

In der Band spielt ein Paar. Die Frau gehört zu den coolsten Frauen des Rock. Sie ist fast dein Jahrgang.

Oh Dear! Ach, du liebe Güte: Sag‘ nicht, dass das Sonic Youth sind.

Doch.

Rats! (lacht) Wenigstens das Schlagzeug hätte ich erkennen müssen. Ich habe so viel nachzuholen! Ich habe einen Berg von ihren Platten geschenkt bekommen und ich komme nicht dazu. Demnächst besucht mich Steve Shelley von Sonic Youth, für unser Projekt Hallogallo. Da muss ich vorher noch reinhören.

Ciccone Youth

„Two Cool Rock Chicks Listening To Neu! „

(Nickt, da er den Song, über den wir vorher sprachen, sofort identifiziert) Was läuft denn da im Hintergrund? Das ist „Negativland“! Ich dachte immer, da läuft ein anderes Stück. (Der Gitarrenpart setzt ein) Ui ui, vor 130 Jahren habe ich auch mal so Gitarre gespielt. (lacht)

Auf jeden Fall gibt es 100 Punkte für den Kandidaten.

Ach, ich bin ja wie ein Fußballstürmer. Die Torflaute ist beendet.

Ciccone Youth haben sich ja nach Madonna benannt. Das ist schon ein Hinweis für den nächsten Song.

Lady GaGa „The Fame“

Kam vergangenes Jahr raus. Gewissermaßen die neue Madonna.

Ist das Lady Gaga?

Ja.

Ich mag ja einiges, was auf so eine brutal poppige Art Kirmes-mäßig ist. Da stehe ich auch zu. Im nächsten Moment höre ich dann wieder klassische Musik aus Indien. Da sind halt mehrere Seelen in einer Brust. Aus meinem Freundeskreis kriege ich aber regelmäßig Haue, wenn ich sage, dass ich diesen einen Hit – wie hieß er noch? – „Poker Face“ gut finde … Aber hat Lady Gaga irgendwas mit Neu! zu tun?

Habe ich noch nichts von gehört.

Das wäre doch mal interessant!

MGMT „Flash Delirium“

Wow, was ist das denn?

Eine der angesagten Bands von 2008 mit ihrer neuen Single.

Finde ich gut. Ich habe aber keinen blassen Dunst. Sind das The Horrors?

Nein, MGMT.

Die kenne ich nicht. Die Musik ist bei mir noch nicht angekommen.

Im Gegensatz zur ersten Platte fehlen auf der neuen die Hits. Da sind auch kaum Melodien drauf.

Warum?

Denen ist es suspekt, dass sich so viele Leute auf ihre Musik einigen können, da wollten sie gegenlenken.

(Lacht)

John Frusciante „Murderers“

(Der Beat setzt ein) Bis jetzt könnte es alles zwischen Tone Loc und Peaches sein. (Gitarrenlauf erklingt) Jetzt schon nicht mehr.

Du kennst ihn.

Ich höre jetzt gerade noch mal ein bisschen zu … Donnerwetter! Eine Gitarre mit Schluckauf, interessant. Bleibt das instrumental?

Ja. Du hast mit ihm mal in Hamburg zusammen gespielt.

John Frusciante?!

Ja, von To Record Only Water for Ten Days aus dem Jahr 2001.

Ich schäme mich, ich hab‘ sie alle. Ich schäme mich.

Der Mann hat so viel gemacht, das kann man sich ja kaum merken.

John will mich im Sommer besuchen. Vielleicht klappt das auch, dass er bei meinem neuen Projekt mitmischt. Aber seit er von den Chili Peppers weg ist, ist er sehr ambitioniert mit seiner Musik beschäftigt. Als ich ihn 2003 kennengelernt hatte und wir unsere Auftritte planten, wollte ich ja gerne improvisieren. Er wollte aber unbedingt Michael-Rother-Songs spielen. Er hat mir erstmal gezeigt, wie ich einige meiner alten Stücke gespielt habe. (lacht) Da sind auch Parallelen im Werdegang. Die Beschäftigung mit elektronischer Musik etwa. Mal sehen, wohin sein Weg noch führt.

Gravenhurst „Song From Under The Arches“

(Rother ist von einer Anzeige im ME abgelenkt) Das „neue, sensationelle Album von Jimi Hendrix“?

Wo steht das?

Steht bei Euch im Heft. Das neue Hendrix-Album?! Oh, Gott! (Liest weiter) Zwölf unveröffentlichte Songs von 1969. Also, glaub‘ nicht, dass ich nicht zuhöre, aber ich bin hier gerade … Ich war in meiner Begeisterung für Jimi Hendrix kaum zu toppen. Ich habe den verehrt.

Also, zum Song zurück. Die Band ist auf Warp, obwohl sie da nicht so recht hinpasst. Früher haben sie fragilen Folk gemacht, dann kam der Krautrock dazu. Das sind Gravenhurst.

Den Namen habe ich schon mal gehört. Kann sein, dass die mal mit mir auf einem Festival gespielt haben. Aber da habe ich dann ja auch nie Zeit. Da muss es schon so gehen wie mit den Fuck Buttons. In Australien, da haben die Jungs mich beim Soundcheck von der Bühne geblasen, das war großartig. Wir werden in diesem Jahr wohl auch noch was zusammen aushecken.

The Secret Machines „Now You’re Gone“

Gefällt mir!

Du kennst sie persönlich.

(Schlagzeug setzt ein) Das Schlagzeug klingt nach Secret Machines.

Korrekt!

Die Gitarre gefällt mir aber auch gut. Anfangs dachte ich, das könnte irgendwo bei Brian Eno angesiedelt sein. Auf ihrem ersten Album waren sehr starke Titel. „Nowhere Again“ war ja auch sehr bekannt, da konnte ich gleich mitspielen, da fühlte ich mich gleich zu Hause.

Scott Walker „Boy Child“

(Hört mit zurückgelehntem Kopf zu) Woran erinnert mich das?

Denk mal ein paar Jahrzehnte zurück.

Ein Paar Jahrzehnte?

Ja. Klingt sehr aktuell, ist aber sehr alt.

Ist das wahr? Das überrascht mich jetzt.

Aus dem Jahr 1969.

Boah, diese Aufnahme ist von 1969?!

Vielleicht ein bisschen re-mastered.

Ja, aber allein die Produktion! Am liebsten hätte ich jetzt gesagt: „Ist das Elvis?“

www.michaelrother.de