Nirvana
Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft kommt 'Unplugged in NewYork' auf den Markt. Die sanfteren Töne sollen neue und größere Märkte für Nirvanas Musik erschließen. Ob Cobain deshalb im Grab rotiert, weiß keiner. Sicher ist, daß es nicht die letzte Nirvana Scheibe sein wird.
‚Unplugged in New York‘ ist nicht die angekündigte Doppel-CD geworden. Die emotionale Belastung für Krist Novoselic und Dave Grohl, sich so kurz nach dem Schuß vom 5. April durch Tonnen von Live-Tapes zu ackern, war sicherlich zuviel. Warum man sich entschied, die MTV-Session vom Winter ’93 relativ unkommentiert auf den Markt zu werfen, hat Gründe. Wahrscheinlich wollte die Plattenfirma Geffen allen Bootleggern das Wasser abgraben ,denn jeder Plattenbörsenbesucher dürfte schon problemlos über rund zehn verschiedene Ausgaben der Session gestolpert sein. Doch die ursprünglich angekündigte Werkschau mit Livestücken, Outtakes und dem MTV-Auftritt wäre dem Künstler Kurt Cobain sicher gerechter geworden. Daß man das Produkt ausgerechnet marktgerecht kurz vor Weihnachten auf den Markt werfen mußte, läßt Zweifel an der Ehrlichkeit des Plattenfirmen-Statements vom Frühsommer aufkommen, in dem man forsch behauptete, man wolle kein Kapital aus Kurts Tod schlagen. Die Zerbrechlichkeit und – vermeintlich – harmonische Stimmung der Akustikshow dürfte nicht nur die eingefleischten Nirvana-Fans weltweit ins Mark treffen, sondern auch einem ganz neuen Marktsegment Tür und Tor öffnen. Nicht mehr nur der neue Mainstream, den Nirvana 1991 mit ‚Nevermind‘ eigenhändig initiierten, wird sich mit dem leisen Kurt Cobain anfreunden können. Auch der alte Mainstream, dem ‚Smells Like Teen Spirit‘ oder ‚Heart-Shaped Box‘ ganz einfach zu laut und ungehobelt war, kann jetzt sein Herz für Nirvana entdecken. Die erste Single ‚About A Girl‘ – im Original ironischerweise auf der ersten Nirvana-LP ‚Bleach‘ von 1989 zu finden – wird auch Beatles-, Guns N’Roses und (gulp) Phil-Collins-Fans gefallen und Nirvana im Hausfrauenkontingent im gleichen Maße etablieren wie ‚Under the Bridge‘ die Red Hot Chili Peppers. Ein erschreckender Gedanke: Kurt Cobains wütendes Anschreien gegen die kühle Erwachsenenwelt letztlich nur mehr ein musikalisches Sedativum zum entspannten Mitpfeifen. Zahn- oder gar hirnlos ist ‚Unplugged in New York‘ aber auch wieder nicht. Von der mittlerweile legendär-makabren Zeile ‚And I Swear I Don’t Have a Gun‘ von ‚Come As You Are‘ bis zum abschließenden schwermütigen Leadbelly-Song über die Einsamkeit ‚Where Did You Sleep Last Night‘ ist die CD geprägt von Kurts Schwermut.
Vor allem die von Kurt gewählten Coverversionen sprechen Bände: Bei David Bowies Weltall-Rocker ‚The Man Who Sold The World‘ von 1970 und dem Vaselines-Stück ‚Jesus Doesn’t Want Me For a Sunbeam‘ kann einem schon ein kalter Schauer den Rücken runterlaufen. Aber wenn Nirvanas Plattenfirma den Bootlegern wirklich das Wasser hätte abgraben wollen, wäre vielleicht die ursprünglich geplante Version besser gewesen. Keine Band der 90er Jahre bringt es auf mehr Raubpressungen, darunter unzählige Live-Mitschnitte, deren Soundqualität häufig eine reine Katastrophe ist. Auch sonst regiert die Lieblosigkeit: Billige Cover und falsch geschriebene Songtitel sind an der Tagesordnung. Dennoch: hin und wieder finden sich unveröffentlichte Stücke, ungewöhnliche Cover-Versionen oder die Rohfassung von Songs, die später unter anderen Titeln auf den regulären Veröffentlichungen zu finden sind. Zum Beispiel auf der schlicht ‚Live‘ betitelte Raubpressung mit ihrem ‚Bleach‘-Albumcover-Ripoff. Das erste, 1990 erschienene Bootleg-Album (nach einer Reihe von Singles) enthält ein ganzes Konzert der ‚Bleach‘-Besetzung, dessen Schmankerl ‚Imodium‘ ist. Ein Jahr später tauchte der Song als ‚On a Piain‘ auf ‚Nevermind‘ auf, nachdem er zuvor bei der ersten Studiosession mit Butch Vig noch ‚Pay to Play‘ geheißen hatte.
Diverse Demos fanden ihren Weg auf Vinyl oder CD. Uralt-Tapes von 1986 -1988 (u. a. mit ‚Blandest‘) finden sich auf ‚Whiplash‘ – ausschließlich für Nirvana-Archäologen. ‚Wipeout‘ wartet mit Studiosessions von 1990 auf. Neben einigen Songs, die ihren Weg auf ‚Incesticide‘ fanden, fällt vor allem ‚Everything and Nothing‘ auf. 1993 erschien der Track in ‚Verse Chorus Verse‘ umbenannt als Mystery-Track auf dem ‚No Alternative‘-Sampler. Oder die Bootlegs, die die erste Butch-Vig-Session enthalten. Dort finden sich ‚Nevermind‘-Songs in der rauhen Fassung, die Nirvana selbst sehr viel besser gefiel als die polierten Aufnahmen, die schließlich veröffentlicht wurden. Eine Reihe von neuen Raubpressungen bieten mittlerweile auch die Original-Steve-Albini-Mixe der ‚In Utero‘-Sessions, die von Geffen abgelehnt wurden. Obwohl Kurt selbst behauptete, alle seine Songs seien veröffentlicht worden, finden sich auf den Albini-Boots auch eine Reihe neuer, nicht ganz vollendeter Songs in gutem Soundgewand. Und auf der Single ‚Rags to Riches ist der legendäre ‚Top of the Pops‘-Auftritt vom November 1991 verewigt, bei dem eine hörbar entnervte Band ‚Smells Like Teen Spirit‘ anstimmt. Anstatt von Kurt übernimmt allerdings Krist mit seiner schauerlichen Stimme den Gesang. Nicht minder interessant die Flipside: Eine alte Fassung von ‚In Bloom‘, die im Januar 1991 als Sub-Pop-Single erscheinen sollte, aber leider unveröffentlicht blieb.
Auch im Rahmen der Legalität bleiben Kurt Cobain und Nirvana den Fans erhalten: Cobain-Witwe Courtney Love verteilte drei Neukompositionen Kurts an Michael Stipe, Mark Lanegan von den Screaming Trees und Iggy Pop. In welcher Form die Songs das Tageslicht erblicken werden, ist noch unklar. Auch Dave und Krist sind nicht untätig geblieben. Mit Eddie Vedder nahmen sie den Track ‚Against the 70’s‘ für Mike Watts‘ (ex-Minutemen, ex-Firehose) mit Spannung erwartetes Soloalbum auf. Außerdem verdichten sich die Gerüchte, daß Dave Grohl in Kürze bei Tom Pettys Heartbreakers einsteigen soll. Ansonsten wird man abwarten müssen, was die Zeit bringt. Weitere Nirvana-Scheiben werden mit Sicherheit folgen, denn die Gemeinde der Cobain-Fans wird ironischerweise immer größer und mit seinem Namen ist – wie mit denen anderer verstorbener Rock-Helden – viel Geld zu verdienen. Kurts Stimme ist heute lauter als je zuvor, selbst wenn seine Zuhörer heute andere sind, als er es sich je hätte träumen lassen.