Nachtschicht
Die geteilte Stadt ist ihre zweite Heimat geworden. Und das nicht nur, weil es dort ein optimales Studio gibt. Die einst so adretten Popper haben Geschmack gefunden an dem lustvollen Untergang, der in Berlin wie in keiner anderen Stadt zelebriert wird. Das Motto: "Black Celebration". Thomas Böhm schlug seinen Mantelkragen hoch und feierte mit.
„Zieht euch aus bis auf die Knochen“, fordert Dave Gahan, Depeche Modes smarter Sänger, auf der jüngsten Single „Stripped“. Klar, das meint er nur symbolisch, aber trotzdem klappern mir bei dem Gedanken die Kniescheiben, als ich an diesem frostigen Morgen durch Kreuzberg schlurfe. Die Mauer zu meiner Rechten dient dabei als Schutz gegen den Sturm aus dem Osten; eingemullt wie Arafats Leibwächter erreiche ich endlich die Köthener Straße, in der das legendäre Hansa-Studio residiert.
Und wer hier schon alles historische Noten geschrieben hat! Angefangen vom verehrten Robert Stolz über Peter Alexander, Caterina Valente und Manuela bis hin zu David Bowie, Iggy Pop, Nina Hagen, Alphaville, Killing Joke, Einstürzende Neubauten und Drafi Deutscher wurde hier schon die ganze Hitparade rauf und runter produziert. Die alten Gemäuer verbergen mehrere exquisit eingerichtete Studios, eine Dachterrasse (hier überzeugt Studio-Manager Tom Müller seine Kundschaft) mit herrlichem Panorama-Blick auf den Todesstreifen, eine gemütliche Pizzeria, einige Übungsräume und ein Musikerhotel.
Die Jungs von Depeche Mode, nun schon zum dritten Mal im Hansa-Studio zu Gast, bevorzugen fürs Privatleben allerdings das Interconti, die First-Class-Adresse für ausgeflippte Musiker.
Heute sind sie noch nicht am Tatort erschienen, ihre Fans hingegen schon, überall auf den Fluren und Treppen lungern sie herum und warten geduldig auf die Stars, gackern und albern, machen ihre Schularbeiten und trinken Coca Cola. Von einem freundlichen Angestellten werde ich in die tiefen Ledersessel verfrachtet und mit Kaffee beschenkt. „Kaffee ohne Dosenmilch ist wie Popmusik ohne Depeche Mode“, fällt mir sinnigerweise ein.
Nach 20 Minuten quietscht draußen der Flur: Martin, Dave, Andy und Alan haben den Fahrstuhl verlassen und müssen auf Gipsbeinen, Mathe-Heften und Fan-Katalogen ihre Signets hinterlassen.
Mit seinem schwarzen Wollröckchen, den Flieger-Boots und dem blonden Lockenkopf sieht Martin aus wie ein Clown vom „Black Metallic Circus“. Sein hellblauer Lidschatten über den freundlichen Augen ist flüchtig aufgetragen. Andy, groß und schlacksig, spielt den hornbebrillten Oxford-Studenten auf Urlaub. Dave und Alan sind gleich zum Mixraum gewandert -— es gibt noch viel zu tun, mischen wir’s ab. „Außerdem“, sagt Martin, „sabbelt Dave bei Interviews den anderen immer den Mund zu. Und Alan ist zu schüchtern, um überhaupt mit Fremden zu reden. „
Wir rutschen ein wenig durch die Sessel und trinken einen Kaffee nach dem anderen. „Wir haben bis heute früh gearbeitet“, entschuldigt sich Andy und reckt sich zur Decke.
Wieso bleibt ihr nicht in England, gibt es dort keine brauchbaren Studios?
„Doch, doch, aber das Hansa-Studio ist billiger. Außerdem teilen sich die Räume hier besser auf. Für unsere Art von Musik brauchen wir keinen großen Live-Raum mehr, sondern einen Regieraum, wo alle unsere Maschinen Platz haben“, erklärt Martin.
„Und sowieso, wir sind gerne in Berlin. „
Daniel Miller, Entdecker und Produzent von Depeche Mode, stürmt in den Raum. Er hat die Anpressung der neuen Maxi in der Hand. Eine preiswerte Maxi, wie er behauptet: fünf Songs, 25 Minuten lang, natürlich alles speziell abgemischt.
Martin und Andy brennen darauf, die Qualität der Pressung zu begutachten. Wir bahnen uns eine Schneise durch den Flur und eilen in den Abhörraum.
Nerven euch die Fans nicht?
„Wir tragen ’s mit Fassung“, meint Martin lakonisch.
Der Raum ist verdunkelt. In der Mitte ein Mischpult, fast so groß wie ein Walfisch. Ein Techniker legt die Maxi auf, Andy dreht den Regler auf Anschlag. „Muß sein“, höre ich ihn noch rufen, dann brechen auch schon die Tonwellen wie Metallarme aus den Boxen. Rauhe, schwingungslose Synthi-Stöße, darüber Daves düstermelodischer Gesang. „Das ist der Highland-Mix von „Stripped“ schreit Andy. Der ganze Raum vibriert, wir ertrinken förmlich in der Sound-Flut.
„But Not Tonight“ klingt nach Erholung. Ein treffsicherer Pop-Schlager in bekannter Depeche Mode-Manier. Auf der B-Seite schlägt das Lowlife wieder zu: Black Celebration, Black Day, Dressed in Black, mir wird schwarz vorm Ohr. Ziemlich harter Stoff, düstere Stimmungen, getragen vom Locomotion-Groove der Maschinen -— Depeche Mode als angekokelte Heizer in der Underground-Bahn.
So etwas wie eine Mundharmonika springt auf uns zu. „Das war Alan, als er mit der Zunge über den Tonabnehmer seiner Gitarre geleckt hat“, erklärt Martin stolz. „Gereth Jones, unser Soundmann, hat das spontan auf dem Synclavier gesampelt.“
Das Band von gestern nacht wird eingelegt. Dave singt über die neuen Kleider seiner Verehrerin, Lady Di, ein Klavier wird durch den Gulli gezogen, ein Porsche wird gezündet.
„Wir nehmen gerne Natur-Sounds auf und entfremden sie“, grinst Andy und hoppelt im Rhythmus auf und ab.
Dann „Black Celebration“: „Dieser Titel hat die Richtung unserer Arbeit bestimmt. Wir wissen selber noch nicht so recht, bei wem solche Musik ankommt.“ Martin wirkt fast unsicher, als er das beim Rausgehen erzählt. Doch ich kann ihn trösten: „Ein paar nette kleine Hits werden schon dabei sein. „
Wieder im Fahrstuhl, verspüren die beiden Hunger, möchten zu später Stunde frühstücken gehen. Ein guter Vorschlag: Drei Liter Kaffee, die Zigaretten und die Metallsplitter ihrer Musik haben sich bei mir durch die Magenwände gefressen.
Auf der Straße weht es immer noch Eiszapfen. Martins abstehende Ohren sind schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert und leuchten im kalten Lila.
Ich stoße ihn an: Blixa Bargeld von den Neubauten hat mir mal anvertraut, daß ihr euch manchmal so anhört wie die Mainstream-Ausgabe ihrer Stahlorgien. Seid ihr beeinflußt worden?
„Quatsch! Wir haben Blixa zwar mal in London kennengelernt, als er mit Nick Cave im Studio war, aber von Beeinflussung kann nicht die Rede sein. Außerdem hat schon früher Richard Wagner den Hammer auf den Amboß schlagen lassen. „
Mit eingezogenen Schultern schleichen wir wieder an der Mauer entlang. Plötzlich bleibt Martin stehen und zeigt auf die bunten Bilder auf dem Beton. „Vielleicht spiegelt das hier unsere Musik am besten wider: Die Mauer, die ist wie die Grundstimmung in unseren Liedern. Und die Malereien, das sind die Melodien. Ich mag das Dunkle, Schwarze, aber man darf sich nicht darin verstecken!“
Martin und Andy mögen auch die Rühreier und Bratkartoffeln in der Frühstückskneipe. Als Andy sich ein Salatblatt durch die Zähne schiebt, möchte ich ihn fotografieren lassen.
„Geht leider nicht“, schmatzt er. „Ich hab‘ gerade ’nen dicken Pickel unter der Lippe.“ Verständnisheischend zeigt er auf einen kleinen Punkt. Martin möchte auch nicht abgelichtet werden: „Ich lasse mich nur mit 12 jungen Frauen in kurzen Lederröcken fotografieren!“ Woher nehmen und nicht stehlen?
Nach verschlungener Mahlzeit müssen die Künstler wieder zur Arbeit: wir verabreden uns noch für die Nacht auf ein paar Drinks.
Nachts um halb Eins treffe ich sie im „Swing“, einem Art Bahnhofscafe, von dem sämtliche Züge in die Szene gestartet werden. Es ist gut gefüllt. Dave und Alan haben sich ebenfalls dazugesellt. Andy hat seine Freundin, die ihm kurzfristig aus London nachgereist ist, gleich mitgebracht. Musiker leben eben besser als Fußballer im Trainingslager.
Martin hat sich für die Nacht frisch geschminkt und eine schwarze Baskenmütze aufgesetzt. An der linken Seite baumelt an einem roten Band eine kleine Holzfigur, die sich immer bewegt, wenn er beim Lachen mit dem Kopf wackelt. Seine Kollegen sind ebenfalls im schlichten Schwarz erschienen. Sie wirken abgekämpft.
Dave und Alan sind in ein Studio-Gespräch vertieft und diskutieren über die richtige Einstellung am Synclavier, dem Rolls Royce der Musikcomputer. Martin bestellt die erste Runde. Die Leute im Swing lassen sich niemals was anmerken —- und so werden auch Depeche Mode nicht weiter beachtet.
Habt ihr keine Freunde in Berlin?
„Doch klar, ich kenne viele Leute hier. Und eines Tages werde ich auch wieder hierher ziehen; ich möchte nicht in London alt werden“, sagt Martin.
„Die Leute sind nur ziemlich cool hier. Besonders die Frauen, noch nie hat uns eine angesprochen“, mosert Dave.
Das läßt sich ändern. Ich schlage nach zwei Runden einen ersten Kneipenwechsel vor. Gegenüber am Nollendorfplatz steht das alte, ehrwürdige Metropol, einst ein großes Kino und jetzt als Konzertsaal und Discotempel frequentiert. Heute, am Samstag, ist dort die Hölle los. Hunderte von schönen schwulen Männern strömen durch den Eingang, ein paar verirrte Touristen und ganze Mädchenklassen mischen sich unter das tanzende Volk.
„25 Mark Eintritt bitte.“ Auf der breiten Treppe, die in den Tanzsaal führt, treten Martin, Andy, Dave und Alan aus ihrer Anonymität heraus, werden von rosaroten und blaubesprühten Mädchen als das erkannt, was sie sind: Stars in der Manege.
Mit offenen Mündern starren die Fans uns nach. Einige trauen sich sogar, ihre Idole anzufassen, streicheln Dave zärtlich die Jacke, fassen Martin vorsichtig in die Locken. „It’s Teenielike“, murmelt Alan — und wir verziehen uns schnell in die hinterste Ecke der Bar. Die nächste Runde geht an mich.
Wie zur Begrüßung dröhnt der Spezial Mix „People Are People“ von Star-DJ Westfalia Baambaata durch die Halle. Er scratcht und cuttet, spielt Stones und Frankie Goes To Hollywood dazu. Ein Disco-Feuerwerk. Wie Flakscheinwerfer schießen die Laserstrahlen über die Tanzenden hinweg. Alan holt die nächsten Drinks.
„Neulich, als wir im ,Dschungel‘ standen“, nimmt Martin wieder das Gespräch auf. „mußte ich tierisch lachen. Da hab ich in den Spiegel geschaut und Depeche Mode gesehen. Sie sahen aus wie ein Familienclan beim Ausflug. Keiner hat sich an uns rangetraut.“
Geht ihr in England öfters auf Familienausflug?
„Ab und zu gehen Andy und ich zusammen in unsere Stammkneipe, wir wohnen nur zwei Minuten voneinander entfernt. Alan bleibt lieber zu Hause und Dave wohnt weit weg draußen in Essex. „
„Das reicht ja auch“, wirft Dave ein. „Wir sind doch im Studio, auf Tourneen und dann auch nachts ständig zusammen. „
Könnt ihr euch überhaupt noch ausstehen?
„Es geht noch“, grinst Andy. „Klar, wir streiten uns, aber das ist nach ein paar Stunden wieder im Lot. Es könnte schlimmer sein. „
„Das letzte Mal haben wir uns wegen ein paar idiotischer Sachen geprügelt!“ Martin klopft Andy vielsagend auf die Schulter. „Aber wenn du im Streß bist, mußt du das auch rauslassen.“
Andy bestellt die nächste Runde.
„Das muß man aushalten. Spätestens in der Stammkneipe ist die Welt wieder in Ordnung.“
Einige Teddygirls und Edelpunkmiezen machen sich bemerkbar, tuscheln aufgeregt in gebührlichem Abstand. Dave, Martin und Alan sitzen wie einsame Herrscher auf dem Barhocker-Thron, möchten herunter rutschen, bleiben aber kleben. Andy ist mit seiner Freundin auf die Tanzfläche verschwunden und schmust zu Grace Jones.
Plötzlich bläst die Vorsitzende des spontan gegründeten Fanclubs zum Angriff und verlangt ein Autogramm. Ab da gibt es kein Halten mehr. In Sekundenschnelle sind die Barhocker umzingelt -— und der Whiskey wird warm. Nach 30 Unterschriften lahmt Daves rechte Hand -— und wir beschließen, das Metropol zu verlassen. Martin kennt noch eine stille Bar, wo man in Ruhe gelassen wird.
Andy und Freundin verabschieden sich, möchten ins Hotel. Der Rest der angeeierten Whiskey-Trinker bestürmt ein Taxi. Der Fahrer kennt die Jungs vom Fernsehen her und bringt uns überladen zur gewünschten Adresse. Eine Bar, so schwarz wie die neue Scheibe von Depeche Mode. An den dunklen Wänden hängen häßliche Masken, der stahlgraue Thresen ist mit Skulpturen vollgestellt. Ein paar Gäste ähneln den Masken an den Wänden.
Wir finden Platz. Dicke Rauchschwaden ziehen aus den Ecken und Nischen und werden vom Licht erstochen. Es riecht wie in einem Londoner Lowlife-Schuppen. „Im Metropol waren die Leute nicht so cool“, lacht Martin. Er ist noch der fitteste von allen. Dave stiert müdegetrunken ins Leere. Alan philosophiert mit seinem Whiskey-Glas über die Arbeiterklasse, schämt sich seiner reichen Herkunft und flucht über seine Eltern, die ihn lieber als Interpreten klassischer Musik gesehen hätten.
Dumpf orgelt der Sound über die Tanzfläche. Auf dem Klo reibt sich ein Pärchen zwischen zwei Pißbecken innig über die Kacheln. Alan möchte jetzt lieber wieder in London sein; er hat sich vor kurzem ein großes, altes Haus gekauft, das noch eingerichtet werden muß. Martin versucht mir den Unterschied zwischen Londoner und Berliner Frauen klar zu machen. Es gibt keinen. Dave ist seit kurzem verheiratet, sein Kopf fällt nach unten, er ist auf dem Hocker eingenickt. Wir sind alle ziemlich fertig. Martin sieht sich schon mit „Black Celebration“ auf dem Weg zu einer Insider-Psychedelic Band. Bevor es aber wirklich soweit kommt, weckt er Dave lieber auf. Dann schwanken wir aus dem Laden.
„Wenn du nach England kommst, trinken wir weiter“, meint Martin noch. Dann sind die drei auf und davon.