Mut zur Lächerlichkeit: Warum Kiss auch heute noch leuchten
Hier die 30. Folge von Jan Müllers „Reflektor“-Kolumne, in der er erklärt, warum die Hard-Rock-Band Kiss für ihn das Allerschönste auf der Welt ist.
In der großen Pause meines allerersten Schultages spuckte mir ein Sechstklässler ins Gesicht. Ich weiß bis heute nicht, ob aus Absicht oder Achtlosigkeit. Aber ich weiß noch, dass er eine Jeansjacke mit AC/DC-Rückenaufnäher trug. Um so verwunderlicher, dass ich dann später, als Sechstklässler, selbst begann, AC/DC zu hören. Diese unglaubliche Musik hatte sich damals noch nicht für den großen Markt geöffnet, sie war für wirklich harte junge Männer oder eben wirklich weiche Kinder wie meine Freunde und mich gemacht. Mein Freund Markus hatte mir im elterlichen Wohnzimmer das POWERAGE-Album in Originallautstärke vorgespielt.
Mein Schulkamerad Martin hingegen fand Kiss besser als AC/DC. Zumindest in Hamburg waren sich seinerzeit Anhänger dieser beiden Bands nicht grün. Das galt natürlich nicht für uns Kinder. Also beschlossen Markus, Martin und ich, gemeinsam ins Hamburger Magazin-Kino zu gehen. Denn dort lief in Doppelvorstellung „AC/DC – Let Tere Be Rock“ und „Kiss von Phantomen gejagt“: Schon im Foyer musste ich mir klammheimlich eingestehen, dass die Kutten und Frisuren der Kiss-Jünger noch besser waren als die der AC/DC-Fans. Zuerst lief „Let Tere Be Rock“. Der Film war der pure Wahnsinn. Allerdings riss er mehrfach. Jedes Mal johlten die Kiss-Fans.
Nach dem ultra-trashigen Kiss-Film (insbesondere in der deutschen Synchronfassung zu empfehlen) war ich nicht mehr der Gleiche. Martin hatte mich missioniert, und ich hatte mich noch im Kino zum Kiss-Fan bekehren lassen. Kiss waren keine Musiker, sondern Superhelden. Die Musik war schon irgendwie geil, aber sie war nicht das Wichtigste. Das persönliche Pop-Urerlebnis im Magazin-Kino sollte mich tief prägen. Im Kinderzimmer hing bald ein riesiges Poster von Ace Frehley.
Vermutlich fing ich 1983 deshalb an, Punk zu hören, weil Kiss in diesem Jahr ihre Masken ablegten
Als 1982 ihr supergutes Album CREATURES OF THE NIGHT erschien, kamen Kiss sogar ins deutsche Fernsehen: „Vorsicht, Musik“, Frank Zander sagte sie an. Kiss spielten „I Love It Loud“. Gene Simmons hatte einen Bass in Axt-Form, Paul Stanley leitete sein Gitarrensolo mit einer Judorolle ein. Vermutlich fing ich 1983 deshalb an, Punk zu hören, weil Kiss in diesem Jahr ihre Masken ablegten. Ich verlor sofort jegliches Interesse an ihnen. Erst der Grunge Anfang der 90er rief sie mir wieder in Erinnerung. Plötzlich wucherte meine Kiss-Leidenschaft wieder genauso wild, wie Anfang der 80er.
1993, bei meinem zweiten Treffen mit meinem neuen Freund Dirk, trug dieser ein Kiss-T-Shirt. Bizarrerweise war es das Covermotiv von dem 1985er-Album ASYLUM. Ungeschminkt! Supercool und superangenehm von Dirk (wenn ihr genau hinschaut, dann könnt ihr erkennen, dass er genau dieses Shirt auf dem Cover unseres Toco-Debüts DIGITAL IST BESSER trägt). Mit Olli Frank (einst Taxi-Olli, jetzt Bio-Olli) kam ich in der Hamburger-Schule-Bar Heinz Karmers Tanzcafé deshalb ins Gespräch, weil wir aneinander eine gemeinsame Kiss Leidenschaft feststellten. Noch am selben Abend beschlossen wir, zusammenzuziehen. Unsere legendäre Kiss-Küche in der Talstraße mit ca. 666 Kiss-Postern, Wimpeln und Action-Figuren hat es leider nicht ins Museum für Hamburgische Geschichte geschafft.
Diese Band ist einfach das Allerschönste auf der Welt
Irgendwann kam mir dann meine Kiss-Leidenschaft wieder abhanden. Ich ging daher ohne allzu große Erwartungen zum Berliner Kiss Abschiedskonzert. Beim ersten Gitarrenakkord war alles wieder da. Die Böller krachten und Kiss schwebten von der Decke auf die Bühne. Diese Band ist einfach das Allerschönste auf der Welt. Auch wenn seine Stimme schwächelt: Paul Stanley kann fliegen; seine Geschlechtsidentität war schon in den 70ern liquide. Die blödsinnige Zungengeste von Gene Simmons ist auch deshalb so gut, weil sie bekräftigt, dass Pop die Legitimation hat, vollkommen lächerlich zu sein.
Beim Konzert war mir sogar vollkommen egal, dass nicht der Original-Drummer Peter Criss die kitschige und tolle Ballade „Beth“ singt, sondern irgendein anderer Typ, der als Katze geschminkt wurde. Hier geht es um mehr als ums Selbst. Als Paul Stanley in seinem unwiderstehlichen Show-Tonfall erzählt, wie sehr er Berlin liebt und dass seine Mutter hier geboren wurde, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Eben deshalb, weil er nicht erwähnt, dass sie mit ihren Eltern im Jahr 1933 Hals über Kopf vor den Nazis fliehen musste. Paul Stanley glitzert nicht nur. Er leuchtet. Kiss leuchten. Und ich wünsche mir, dass die Verkündung der Abschiedstour nur ein typischer Kiss Promoschachzug war.
Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.steadyhq.com/de/reflektor
Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 09/2023.