Das sind die 100 besten Debütalben aller Zeiten
MUSIKEXPRESS hat die besten 100 Erstlinge gewählt. Von Wanda bis The Velvet Underground, here we go.
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The Velvet Underground & Nico
THE VELVET UNDERGROUND & NICO
1967
„A left-fielder, which could click in a big way.“ Dieses hellsichtige Fazit zog das „Billboard“-Magazin in seiner Ausgabe vom 4. März 1967. In der „Tampa Tribune“ schrieb kurz darauf ein gewisser Vance Johnston: „THE VELVET UNDERGROUND & NICO is several confusing sounds mixed by Andy Warhol, most depressing and whatever the message I failed to get. It’s rock with a sadistic touch, I suppose but at any rate Warhol’s fans will surely declare this his best.“ Dazu muss man wissen, dass „Billboard“ eine Branchenzeitschrift war, die „Tampa Tribune“ hingegen eine zwar Pulitzer-Preis-dekorierte, aber letztendlich ländlich-konservative Tageszeitung. Auf lange Sicht hat „Billboard“ recht behalten. Betrachtet man die unmittelbare Rezeption, waren aber die Floridianer näher am Puls der Zeit. Obwohl auf dem auch damals wohlgelittenen Verve-Label erschienen, verpuffte THE VELVET UNDERGROUND & NICO, das Debütalbum der aus Lou Reed, John Cale, Maureen Tucker, Sterling Morrison und Christa Päffgen alias Nico bestehenden Band schnell. Ein Rechtsstreit mit dem Schauspieler Eric Emerson, der auf der Hinterseite des ursprünglichen Artworks zu sehen war, sorgte zudem dafür, dass das Album nach nur drei Monaten erst einmal vom Markt verschwand. Die Charts-Positionen lesen sich entsprechend ernüchternd: Eine Nummer 171 im Dezember 1967 war das Höchste der Gefühle.
Eine kurze Erinnerung: Auch wenn 1967 das Jahr war, in dem zahlreiche Psychedeliker ihre Debütalben veröffentlichten, spielte diese Musik im Massengeschmack gerade der ländlichen USA keine allzu große Rolle. Die Popgruppe, die am besten verkaufte, waren die Monkees, die sich zwar langsam von ihrer Plattenfirma emanzipierten, aber im Vergleich zu The Velvet Underground natürlich kreuzbrav klangen. Und: Selbst das ebenfalls 1967 veröffentlichte Debütalbum einer Band wie der Doors mag etwas gewesen sein, dass Erwachsene ablehnten, an dem sie sich rieben. Doch den Grund ihrer Ablehnung war recht genau zu benennen, sie waren ein einfacher Feind. The Velvet Underground dagegen brachten viele nur blankes Unverständnis entgegen. So etwas wie „European Son“, mit seinen übereinander, ineinander, gegeneinander laufenden Spuren, mit seinen Dissonanzen, seinen Rückkopplungen, seiner kaum erkennbaren Struktur, war das denn wirklich Musik? Und musste man wirklich so uncodiert über „Heroin“ singen? Und den Typ, der das einem, der man „sick and dirty, more dead than alive“ an einer Straßenecke wartete, verkaufte?
Musste man. THE VELVET UNDERGROUND & NICO ist ein Album, das aus kleinen Gesteinssplittern ein Kunstwerk zusammensetzt, das sich auch heute noch jeder Deutung entzieht, dem man sich gleichzeitig nicht entziehen kann. Es schlug Funken, die damals kaum sichtbar waren, aber zu verschiedenen Schwelbränden führten; weniger in der Musik der 60er- als in jener der 70er-Jahre: Auf dieser Platte werden die Songs niemals aus- oder gar aufgefüllt oder enden im sogenannten Jam. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um raue, widerborstige Strukturen, die entweder freidrehen oder in Schleifen laufen, die niemals das Gesungene (bzw: Gesagte) verdecken, sondern es im Gegenteil noch verstärken. Die Handlung dieser Songs, sie liegt so deutlich vor einem, wie das später im Punk der Fall war.
Die Art, wie Avantgarde scheinbar mühelos in diese Songs hineinfließt, wie der klassisch ausgebildete Cale mit Stimmungen arbeitet, wie er sich von John Cage gleichermaßen beeinflussen ließ wie von seinem Spiel mit Terry Riley, La Monte Young und Marian Zazeela und deren Theatre of Eternal Music, ist ebenso bedeutend für die Folgegeschichte der Popmusik. Und Andy Warhol, der die Rolle des Produzenten auf eine gänzlich andere Art und Weise ausführte, als das bis dato Usus war, natürlich auch: Er war keiner, der am Regler saß. Er war nicht mal einer, der im Studio sonderlich präsent war, diesen Part übernahm Verve-Mann Tom Wilson. Vielmehr war Warhol der Produzent der Idee The Velvet Underground, die er 1966 entdeckt und für sein Performance-Projekt „Exploding Plastic Inevitable“ rekrutiert hatte. Er war es, der ihnen die deutsche Sängerin Nico zur Seite stellte – beziehungsweise: vor die Nase setzte: Weder Reed noch Cale oder Tucker waren sonderlich begeistert –, ohne die die Band kaum einen Plattenvertrag bekommen hätte.
Sie singt die schönsten Lieder auf dieser Platte, gleichzeitig verdreht sie tradierte Rollenbilder: Während Lou Reed im lichtdurchfluteten Opener „Sunday Morning“ zum Glockenspiel Zärtlichkeiten in den Hallraum haucht, besitzt ihre Stimme in „Femme Fatale“, vor allem aber in „All Tomorrow’s Parties“, das mit seinem präparierten Klavier so klingt, als hätte ein Kammerpop-Song einen Autounfall gehabt, eigenartige Unberührtheit. Es dauerte bis in zweite Hälfte der 70er-Jahre, bis all das tatsächlich gehört wurde. „It never stops getting better“, schrieb der Musikjournalist Robert Christgau in der New Yorker „Village Voice“, die sich beim Erscheinen des Albums wenig begeistert gezeigt hatte. Auch Brian Eno gehörte zu den Fürsprechern: Von ihm stammt der oft zitierte Satz mit den 30.000 Exemplaren, die THE VELVET UNDERGROUND & NICO verkaufte, die aber jeweils zur Gründung einer Band geführt hätten. Ist natürlich Unsinn. Aber das Album begründet eine Ahnenlinie, die uns über Television, Sonic Youth und die Strokes bis in die Gegenwart führt. (Jochen Overbeck)
Was danach geschah: Eine ganze Menge. Dieses Album hatte Auswirkungen auf so ziemlich jede Band, in der jemand eine Gitarre hielt. Die Songs sind vielfach gecovert worden, am schönsten vielleicht von der Wiener Band Die Buben im Pelz, die die ikonische Cover-Banane durch eine Wurst austauschten.