Musik aus der Steckdose Teil 4


Elektronische Musik ist zumeist die Sache von Individualisten. Als erfolgreiche ,Einzelkämpfer' stellten wir in der letzten Folge Rick Wakeman, Vangelis, Fast, Battiato, Schulze, Eroc und Seiler vor, und mit den Tangerine Dream wurde über die erfolgreichste deutsche Gruppe berichtet. Auch im abschließenden Bericht über die deutsche Musikszene halten sich In- und Ausland die Waage: Ja es scheint, daß lassen wir mal Jazzrock und das aufwendige Nachspielen klassischer Partituren beiseite - die rein elektronische Musik und Experimente in neuen musikalischen Dimensionen mittels Synthesizern ein deutsches Phänomen wurden. Leider weniger von der Erfolgsund Publikumsseite, doch auf Seiten der Musiker. Es sei die Spekulation erlaubt, daß die elektronische Musik ähnlich dem Free Jazz auf eine bestimmte Weise mit der deutschen Mentalität korrespondiert...


Miles Davis: Wegbereiter

Im allgemeinen ist man sich klar darüber, daß die größte Leistung des Trompeters, schwarzen Prinzen und Lieblingskindes des modernen Jazz nicht im Bereich seines Instruments liegt, sondern in der Fähigkeit, bahnbrechende Talente zu versammeln und ihnen den Weg zu ebnen. Machte er in den SOern mit Coltrane, danach mit Gil Evens Furore, so scharte er ab Mitte der 60er eine Reihe Musiker um sich, die heute weltweit akzeptiert sind: McLaughlin, Joe Zawinul, Chick Corea, Keith Jarrett, Herbie Hancock, um nur ein paar zu nennen. Vermutlich gab Davis als einziger Musiker dem Jazz drei- oder viermal eine völlig neue Richtung, das letzte Mal sicherlich mit dem Durchbruch des elektrischen Jazz‘. Waren vorher höchstens die Gitarren der Beatles elektrisch verstärkt, so schloß er plötzlich seine Trompete an den Verstärker an und gab damit das Signal zu einer Art musikalischer Befreiungsbewegung. Nachzuhören u.a. auf „Miles Davis Live“ (CBS S 67219) und „Bitches Brew“ (CBS S 66236), zwei Doppelalben aus einer langen Reihe von Davis-Einspielungen.

Herbie Hancock: Flucht aus dem Jazz-Ghetto

Er gehört zu jenen, die sich erst bei Davis richtig entwickeln konnten. Nach autodidaktischen Studien wie einer Zeit als Sideman berühmter Leute wie dem Saxophonisten Hawkins stieg Hancock in der Band des Trompeters Donald Byrd ein. Drei Jahre später, 1963, wechselte er zu Miles Davis, blieb bis ’68, ist auf allen wichtigen Aufnahmen dieser Zeit vertreten und schwimmt sich musikalisch frei:

„Bei Miles entwickelte ich mich von einem Allround-Musiker ohne irgendwelche besonderen Eigenheiten zu einem Pianisten mit einer ganz bestimmten Vorstellung, mit einer persönlichen Aussage“, bekannte er in einem Interview. Davis wird für ihn das Sprungbrett zur Karriere als Komponist (auch wenn Hancock bereits als 20jähriger seinen Superhit „Watermelon Man“) geschrieben hatte) und als Keyboard-Spieler mit eigener Gruppe. Hancock vertont Filme wie Antonionis „Blow Up“ und Di Laurentis‘ „Ein Mann sieht rot“; 1968 gründet er die eigene Band, und bereits die Debüt-LP „Mwandishi“ (auf Warner Brothers) deutet mit einem für damalige Verhältnisse ungewohnt reichen elektronischen Instrumentarium die Marschrichtung an. Für „Head Hunters“ (CBS 65928) gab’s dann sogar eine Goldene Schallplatte, und Mr. Hancock hatte inzwischen die Erklärung für seinen Stilwechsel parat: „Warum sollte ich Idealen nachjagen, anstatt einfach gute und schöne Musik zu spielen, die vielen Leuten gefällt und sie fröhlich macht?“ Sicher eine legitime Sache, doch man kommt ins Grübeln bei der Entdeckung, daß jede Hancock-LP das gerade neue Gerät auf dem Elektronik-Markt präsentiert: „Sextant“ (CBS 6SS82) mit elektrischem Klavier und Mellotron, „Head Hunters“ mit ARP’s Odyssey- und Soloist-Geräten, „Thrust“ (CBS 80193) dann mit dem 260er ARP und einem String Synthesizer usw. Ob sich „the funky thing“, wie Hancock seine Musik nennt (und sie ist funky), nur mit neuen Geräten weiterentwickelt?

George Duke: Gegen-Spezialist

Daß man sich durchaus nicht von einer verständlichen Faszination, die von den modernen elektrischen Instrumenten ausgeht, verführen lassen muß, beweist seit einigen Jahren George Duke. Besonders „Faces In Reflection“ (MPS 21 22018-4) demonstriert, wie gut sich neuartiges Tasteninstrumentarium im relativ festen Rahmen des traditionellen Jazztrios unterbringen läßt. Duke bleibt ein typischer Westcoast-Musiker, und von dieser Warte aus verliert der Synthesizer bei ihm den Charakter des Künstlichen, des Laborproduktes. Diese Tendenz bleibt selbst dann erhalten, wenn (wie bei „Feel“/MPS 21 22318-4) zahlreiche perkussive und südamerikanische Elemente einbezogen werden. „Bei meiner Musik“, sagte Duke in einem Interview, „interessieren mich mehr die Gefühle als die Zahl der Noten, die ich in einem Takt unterbringen kann. Auch wenn das das Zeitalter der Spezialisten ist, so hab ich ’ne Menge dagegen, mit einem Stil identifiziert zu werden.“ Ständiger Wechsel als künstlerisches Ideal, typisches Anzeichen für einen Jazzmusiker.

Jan Hammer: Jazzflüchtling anderer Art

Im Gegensatz zu Hancock stand der junge Tschechoslowake einige Zeit lang in eher traditioneller Jazzumgebung: Begleiter von Sarah Vaughn, Clubgigs und die bekannte Trioformation waren seine frühen Stationen in den USA, wohin er von Prag über München flüchtete. In einem Haus voller Jazz aufgewachsen, faszinierten ihn früh die Beatles, Jimi Hendrix und James Brown. Elvin Jones setzte seine Maßstäbe als Drummer und prägte seine spätere Philosophie als Musiker. Schon sah er sich ewig im Trio mit Baß und Schlagzeug, da kamen die elektrischen Klaviere auf (zwischen Tasten und Trommel hin- und hergerissen, hatte sich Jan Hammer bereits in Prag für das Klavier entschieden). „Das elektrische Klavier ist ungeheuer ausdrucksvoll, doch beim Spielen mit einem Drummer läßt sich mit einem elektrischen Klavier das nötige Understatement kaum erreichen“, sagte er in einem Interview. „Der Synthesizer rettete mich, das war’s, wonach ich so lange gesucht hatte. Er wurde meine Stimme, und ich spürte, daß ich sagen konnte, was ich fühlte. Besser als auf jedem anderen Instrument.“ Zur Möglichkeit, mit dem Instrument auch den musikalischen Bereich wechseln zu können, kam Hammers Abneigung gegen das ständige Suchen der Avantgarde. „Ich denke, man sollte zu Hause oder bei den Proben nach Neuem suchen und auf der Bühne wissen, wo’s lang geht“, schimpfte er und legte mit seinem Solodebüt das Gegenbeispiel vor: „The First Seven Days“ (Nemperor NE 432) ist ein faszinierender Ausflug in Hammers spielerische Klangwelt (er nennt seine Maschinen „meine Spielzeuge“) und seine perfekte Kunst des Vielspur-Aufnehmens. Zumeist breite und lange Melodien schufen das Fahrwasser, in dem er sich von zwei Jahren Mahavishnu Orchester, dessen neuer musikalischer Geist er war, freischwimmen konnte. Von daher erscheint die neue „Oh, Yeah?“-LP (Nemperor 50 276), die wesentlich rockiger und perkussiver ist, als Schluß- und zugleich Ausgangspunkt.

Karlheinz Stockhausen: Lebenslänglicher Avantgardist

aß der weltberühmte Rheinländer überhaupt in unserer Serie auftaucht, hat verschiedene Gründe. Zum einen wird er in der Umgangssprache gern mit elektronischer Musik gleichgesetzt, zum anderen gibt es Musiker wie die Beatles, die ihn als Anreger nennen (man denke nur an die gefilterten und vermischten Klänge im 66er „Strawberry Fields Forever“ und das „Sgt. Pepper“-Album). Unbestritten hat Stockhausen seit den 50er Jahren durch Mitarbeit bei Messiaen und danach im Körner Elektronikstudio viel Pionierarbeit, in den späten 60ern bis heute zudem eine Menge propagandistische Arbeit geleistet. Propaganda aber eher im Sinne von Werbung und PR, weniger als Aufklärung. Seine Fans sehen in ihm den unbestrittenen Guru, und er selbst strickt fleißig an seinem Nimbus mit. Seine Musik, so auch das jüngste Werk „Ceylon“ auf dem Rock-Label Chrysalis (6307 573), entzieht sich in den letzten Jahren immer mehr einer Interpretation. Die liefert Stockhausen dann wortgewandt selbst, während seinen Kritikern höchstens die Beschreibung seiner Aktivitäten bleibt. „Wer nicht auf unserer Wellenlänge ist, wird verzweifelt diskutieren, anylysieren, reden, reden.“ Nicht nur um diesem Schicksal zu entgehen, schieben wir eine Betrachtung Stockhausens an dieser Stelle auf. Man muß sich auch nach Stockhausens Einschätzung seines Publikums und dessen Exklusivität fragen und sollte darüber spekulieren, ob in letzter Zeit des Meisters Klangproduktionen nicht vielleicht nur noch ein Alibi und/oder Illustrationen seiner Worte sind… Zur intensiven Beschäftigung mit der modernen, sogenannten E-Musik sei Hans Vogts Buch „Neue Musik“ bei Reclam empfohlen.

Eberhard Schoener: Verbindungsmann zwischen Musikwelten

„Der Journalist in Deutschland sollte seine Spezialisierung aufgeben und sich nicht darüber aufregen, ob ein Rockmusiker, der klassische Elemente verwendet oder ein anderer, der Elektronik einbaut, noch on the road ist, sondern die Musik in größeren Zusammenhängen sehen. Am schwierigsten ist die Situation in den Funkhäusern. Ein Funkjournalist müßte die Möglichkeit haben, in seinen Sendungen (die ja sowieso geradezu lächerlich gesplittet sind in Schlager, Halbpop, Zwischenpop, Überpop etc.) diese neuen Musiken hineinzunehmen. (Fünf Minuten Terry Riley wiegen 20 Stunden Schnulzen-Schwachsinn auf).“ Der Münchner Musiker weiß, wovon er spricht: Mit klassischer Ausbildung und als Chef der Münchner Kammeroper praktiziert er die traditionelle Seite der Musik, mit Konzerten in Kombination mit Rockgruppen (Deep Purple) erweiterte er sein musikalisches Spektrum, und seit Ende der 60er, nach einem Arbeitsbesuch bei Altmeister Robert Moog, gilt er auch als ,sog. Elektroniker‘. Als andere noch mit dem Nachspielen klassischer Partituren beschäftigt waren, legte er seine „Destruction Of Harmony“ (vergriffen) vor, bei der er versuchte. „Bach und Vivaldi Klängen unserer Zeit auszusetzen und beide Welten miteinander zu verbinden.“ Dann folgte u.a. die unaufdringliche, schwebende „Meditation“ (Ariola 87 131 IU) und kürzlich „Bali-Agung“ (EMI C 062-29 647), das Ergebnis vielmonatiger Studien und der Zusammenarbeit mit dem besten balinesischen Gamelanorchester. Schoener räumte dieser musikalischen Reise (mit Drummer Pete York, Gitarrist Siegfried Schwab und eigenem rollenden Studio) den Vorrang innerhalb seines bisherigen Werkes ein: „Erst auf Bali lernte ich das verstehen, wonach ich als westlicher Musiker immer strebte — das Selbstverständnis der Musik zu ihrer Umwelt.“ Kaum vorstellbar, daß jemand, der fürs „Feuerrote Spielmobil“ und Filmemacher Schaaf komponierte, bei den musikalisch verwöhnten Balinesen akzeptiert wurde. Doch Schoener, undogmatisch wie eh und je, wird sogar in diesem Monat mit dem Gamelan-Orchester auf Tournee durch unser Land gehen. Als Musiker und nicht als Showman, auch wenn das sensible „Bali-Agung“ mit unpassenden Buntfotos wie ein Reisekatalog verpackt wurde…

Wolfgang Dauner: Seriöse Unseriosität

Als Pianist kam der Stuttgarter über den Traditional Jazz und die Swing-Musik zum modernen Jazz. Mit seinem Instrumentarium — vom E-Klavier über Clavinet bis Synthesizer — wuchs sein musikalisches Betätigungsfeld, und spätestens seit seinen LPs „Output“ (ECM 1006) und „Et Cetera“ (Intercord 26 001-8) Anfang ’71 zählt Dauner zu den interessantesten Musikern auf der elektrischen Szene. Wie Schoener beschäftigt sich auch Dauner mit der Verbindung der Synthesizer-Klänge und anderer Schallereignisse. Man muß es so allgemein ausdrücken, denn in kaum beschreiblicher Meisterschaft vermag Dauner inzwischen .normale‘ Instrumentalklänge, Synthesizer-Sounds und Klangfragmente aus dem Alltag (auf Tonband vorproduziert) zu einer Einheit zu verschmelzen. Dabei fließt viel von dem ein, was Stockhausen, Schulze und manch andere Elektronik-Künstler vermissen lassen: Humor. Das „technische Können eines Liszt-Pianisten, die Flexibilität eines Chamäleons, die musikalische Erfahrung eines Jazzveterans und viele Unzen Eulenspiegel“ attestierte bereits vor vielen Jahren Ben Bonzo dem profilierten deutschen Jazzer. Inzwischen stellte Dauner nach Filmkompositionen und beispielhaften Arbeiten mit Kindern eine sehr persönliche und hochelektrische Ein-Mann-Show zusammen. Wobei Show nicht mit optischem Allerlei, sondern akustischer Vielfalt und provozierend-spaßigen Collagen übersetzt werden muß. Wenn er z.B. das studio- und bühnenübliche „testing, testing ins Mikro spricht und dabei per Vocoder eine Reihe unterschiedlichster Verzerrungen zum besten gibt, der Mikrotest zur Darbietung wird, und er spielerisch die Möglichkeiten des Instrumentariums präsentiert, so geschieht das in einer unverwechselbaren seriösen Unseriosität. „Ich setze den Synthesizer als Instrument, aber auch als Mischpult und Studio ein“, erklärte er und deutete damit an, daß trotz der unendlich vielen Klangmöglichkeiten die Maschine ein Hilfsmittel und kein Selbstzweck ist.

Prognose?

Wie’s wirklich weitergehen wird mit der „Musik aus der Steckdose“, das kann niemand mit Sicherheit vorhersagen. Der besonnene Eberhard Schoener meint, daß wir mit dem Instrument, das klar unsere Zeit umsetzen kann, erst am Anfang stehen. Sein Vertrauen in die Kreativität der Musiker ist ebenso groß wie das Mißtrauen der zumeist verständnislosen Musikindustrie gegenüber. Daß es sich um ein modernes Phänomen handelt, zeigt bereits die Vermarktung des Syntehsizers als Schulmusikgerät. So ist der kleine VCS 3 der Fa. EMS bei uns für rund 4000 Mark, direkt in England gekauft für unter 3000 Mark zu haben. Und ernstzunehmende musikpädagogische Zeitschriften veröffentlichen seit längerem Artikel zum Thema „Synthesizer im Unterricht“. Bleibt zu fragen, wie man in einer Wochenstunde schaffen will, was Profis in Jahren kaum erreichen, nämlich das Gerät wenigstens so in den Griff zu bekommen, daß die klingende Vorstellung, die man im Kopf hat, dann auch aus den Lautsprechern kommt. Andererseits sind alle Bemühungen zu begrüssen, die aus bloß hörenden Jugendlichen gelegentliche musizierende machen. Das zentrale Problem bleibt auch weiterhin die Qualifikation des Musikers und/oder Machers. So stellte bereits vor vier Jahren der Musikjournalist Martin Kunzler fest: „‚Technik oder nicht‘ ist eine sekundäre Frage. Es kommt darauf an, wer wann und warum die Knöpfe bedient oder bedienen läßt. Hier unterscheiden sich Ringmodulatoren und Synthesizer trotz gefährlichen Wirkungsgrades in nichts von Klavier und Geige.“