Mit Jazz und Elektronik sprengen die Postrocker The Notwist den Rahmen ihres Genres


Im Souterrain ihrer Münchner Plattenfirma herrschen diffuse Lichtverhältnisse. Im Rechteck des Fensters unterhalb der Decke spazieren Frauenbeine vorbei. Es wird Sommer, aber The Notwist haben sich mit seriösen Herbstgesichtern eingefunden, um Fragen zum neuen Album zu beantworten. Markus Acher, Sänger und Gitarrist der Band, wirkt ernst und selbstversunken. Man könnte ihn rütteln und schütteln und ihm ins Gesicht schreien „‚Shrink‘ ist eine geniale Platte!“-die Falten auf der Stirn des notorischen Denkers würden trotzdem nicht aus seinem Gesicht weichen. Also antwortet Martin Gretschmann, der als viertes Rad am Wagen die Kombo elektronisch abrundet: „The Notwist, das ist Pop mit Widerhaken.“ Pop mit Widerhaken? Eine reichlich anämische Selbstbeschreibung für eine Gruppe, die sich seit ihrer Gründung 1989 permanent gehäutet und stetig neu definiert hat. Drummer Martin Messerschmid präzisiert: „Wir machen halt unser Ding.“

Ihr „Ding“ sind Spurrillen und ausgetretene Wege jedenfalls nie gewesen.

The Notwist schälten ihr Profil aus der frühen Phase des Postpunk, als Kurt Cobain noch ein nervöser Junge mit Magenproblemen und Mudhoney weitgehend unbekannt war. Ausgedehnte Low-Budget-Tourneen mit den Waffenbrüdern von Fugazi oder Sick Of It All generierten allerdings bald einen harten Kern an knallharten Fans. So spartanisch die damalige Besetzung, so gewaltig der Sound. Mit Martin und Markus Acher an den Saiten und dem stoisch polternden Messerschmid türmten The Notwist beängstigend mächtige Gitarrenwände auf, surften durch funkenstiebende Wellentäler und schufen schlichten Lärm. Das Debüt „Hallo! Lachen und Singen,Tanzen und Springen!“ ist heute eine gesuchte Rarität. Über den Nachfolger „Nook“ und ein paar „Bavarians“, die plötzlich in College-Radios und Club-Playlists auftauchten, geriet sogar die New York Times ins Schwärmen: „The Notwist benutzen die atonalen Jams der frühen Sonic Youth als Sprungbrett, verwandeln mit Dissonanzen, sanftem Gesang und elektronischen Effekten Punk in Pop – die Deutschen sind wieder da.“

Vielleicht nicht unbedingt die Deutschen – die Weilheimer aber ganz bestimmt. Es kann nicht von The Notwist die Rede sein, ohne den fruchtbaren Humus zu erwähnen, deren bedeutendste Sumpfblüten sie sind. Denn was sich am Ammersee im Dunstkreis des Labels „Hausmusik“ kondensiert hat, ist eine der kreativsten und innovativsten Szenen des Landes. Ob es nun die ostwestfälischen HipYoung Things, Avantgardisten wie Locust Fudge oder die Münchner Punktruppe Stiller sind, die sich in den Weilheimer Studios der Gebrüder Acher die Klinke in die Hand geben – es ist der kommunikative Flow, der Platten wie die aktuelle“Shrink“erst möglich macht: Bläser schwimmen gegen Stromgitarren an, ein Tenorsaxophon schwebt über sparsam elektronischem Rhythmus, um schließlich doch noch in einen Song, in sehnsuchtsvollen Gesang zu münden. Der einzige Luxus, den sich The Notwist dabei gönnen, ist der der Bescheidenheit. Markus Acher: „‚Shrink‘ ist die Fortsetzung von Hardcore mit anderen Mitteln. Und es ist egal, bei welchem Stil wir landen, denn alles andere wäre Stillstand.“ Gewiß ließe sich derzeit eine bessere deutsche Band finden – man müßte nur verdammt lange suchen.