Mit Einem Bein Im Universum


Jetzt sind sie endgültig dort groß, wo andere größenwahnsinnig wären: Auf THE RESISTANCE behandeln MUSE die brisanten Themen ihres Heimatplaneten und beamen ihre Botschaft mit überirdischer Klanggewalt ins All. Matt Bellamy und seine Kopiloten über den Luxus einer Eigenproduktion, den Staat Eurasien und den FC Chelsea.

Irgendwann mussten sie ja kommen, die Songs, die ins Unendliche wachsen. Aber was heißt denn hier Songs? Muse schrieben noch nie einfach nur Songs. Dieses dreiköpfige Orchester hat schon immer Rocksinfonien komponiert, die kaum von dieser Welt stammen. Als die drei schmächtigen Burschen vor zehn Jahren und mit knapp 20 Lenzen ihr Debüt SHOWBIZ herausbrachten, wurden sie von vielen für ihren breitbrüstigen, ja geradezu bombastischen Sound belächelt. Schon damals waren Muse ein Tsunami, der alles davonschwemmte und dem selbst Phil Spectors „Wall of Sound“ bestenfalls die Kraft einer Sandburgmauer entgegenzuhalten hatte: Sie kombinierten Rock mit wuchtiger Opulenz und Pathos, die ab und zu an die Türe zum Kitsch klopfte, sie jedoch nur selten durchschritt. Zu verdanken war dieses letzte bisschen Bodenhaftung vor allem den Produzenten (John Leckie, Rieh Costey, Paul Reeve und David Bottrill), die die ausbrechende Klangfülle der Band gekonnt einfingen, ohne sie ihrer Bewegungsfreiheit zu berauben. Auf THE RESISTANCE lösen sich Muse nun bewusst von jeglichen Beschränkungen, sie überschreiten erstmals die besagte Türschwelle und sind so overthetopwienie zuvor. Es wimmelt von Übertreibungen und Zuspitzungen, etwa im chansonhaften Liebeslied „I Belong To You“, in dessen (nach einer Arie aus „Samson et Dalila“ von Camille Saint-Saens betiteltem) Outro „Mon Coeur s’ouvre ä ta Voix“ („Mein Herz öffnet sich zu deiner Stimme“) Bellamy französisch singt. Und doch: So zu viel das alles ist, so zu gut ist es auch.

Im bandeigenen Studio am Corner See wagten sich Muse nun erstmals daran, eine Platte selbst zu produzieren. Es sei keine bewusste Entscheidung gewesen, erklärt Bassist Chris Wolstenholme, Eigentlich hätten sie nur an einigen neuen Songs gefeilt, bis sie plötzlich mittendrin in den Aufnahmen zum fünften Studioalbum steckten. Mit Adrian Bushby als Toningenieur arbeiteten sie an der Platte wie an einem Puzzle, an mehreren Songs gleichzeitig, setzten die einzelnen Teile zu Ausschnitten zusammen, bis sich die Fragmente zu einem Ganzen zusammenfügten und die Band vor dem fertigen Album stand, dem Mischer Mark „Spike“ Stent den finalen Schliff verpasste. „Wir haben uns oft im Kreis gedreht, bis wir den Charakter der Songs entschlüsselt hatten“, meint Drummer Dominic Howard. Die größte Herausforderung habe im Zusammenhalt bestanden, sagt Matt Bellamy lachend, aber nicht ganz unernst. Erstmals auf sich allein und damit vor unbekannte Probleme gestellt, rieb sich das Trio immer wieder in Diskussionen und musste gemeinsam und ohne fremde Hilfe einen Ausweg finden. Nicht zuletzt deshalb spricht Howard davon, sie seien mit keiner anderen Platte ihrer Idee vom „Sound of Muse“ näher gekommen.

„Trotz den schier unbegrenzten Freiheiten ist es uns noch nie so leicht gefallen, uns auf eine Platte zufokussieren“.

Gewiss, diese Band lebt in einer eigenen Welt. Doch dem rasanten Höhenflug in den letzten Jahren zum Trotz waren Muse noch nie so sehr auf aktuelle politische und gesellschaftliche Themen bezogen wie heutzutage und damit irdischer – wie auch das Artwork der neuen Platte unterstreicht: eine zum All hin durchlässige Wabenhülle, durch deren Zentrum man auf die Erde blickt und von der aus ein Weg zu derselben führt.

Die Faszination fürÜbernatürliches und Metaphysisches ist auf THE RESISTANCE genauso allgegenwärtig wie die bekannten Ausflüge in andere Galaxien und das Jenseits. Doch erstmal muss die Welt, auf der wir leben, eine neue Ordnung erhalten: Beispielhaft dafür ist neben „Uprising“ (vgl. ME 09/2009) das hymnenhafte Stück „United States Of Eurasia“, das mit orientalischen Streichern eine Brücke in den Nahen Osten schlägt. Hier greift Bellamy die Theorien aus „The Grand Chessboard“ (deutsch: „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“) auf, einem Buch des polnischamerikanischen Politikwissenschaftlers Zbigniew Brzezinski, der derzeit unter anderem als außenpolitischer Berater von Barack Obama amtiert. Demnach müssten Europa und Asien ein Gegengewicht zur Weltmacht USA bilden, um die Kräfteverhältnisse auszugleichen und nicht dem Interessendiktat Amerikas zu unterliegen. „Why split these states if there could be only one?“, fragt Bellamy, scheinbar unbeeindruckt von den ethnischen Kleinkriegen, die im Nahen Osten geführt werden, und den politisch-kulturellen Spannungen, die um den halben Globus reichen. Er habe versucht, mit dem Song eine Friedensbotschaft ä la John Lennon auszusenden, die aber sowohl musikalisch als auch inhaltlich ironisch gedacht sei.

„Der Track ist absichtlich anfangs noch cheesy, ehe er sich zu einem beängstigenden Monster entwickelt. Der Gedanke dahinter ist, dass beim Prozess der Vereinigung – oder allein schon durch das Herstellen von Frieden — etwas Größeres, eine Supermacht oder eben ein Monster entstehen kann.“

M onströs sind mittlerweile auch Muse selbst: BLACK HOLES AND REVE1.ATIONS katapultierte die Engländer endgültig von einem großen zu einem riesigen Act. Durch den Ruhm, der zwar nicht plötzlich kam, aber in beachtliche Höhen gewachsen ist, sei ihnen klar geworden, dass einerseits Band- und Privatleben nicht dasselbe ist und andererseits nur ein Ausgleich zwischen den beiden Seiten auf Dauer funktionieren kann, sagt Bassist Chris Wolstenholme:

„Wenn du im Privatleben nicht glücklich bist, kannst du auch in der Band nicht glücklich sein. So viel Zeit die Band auch braucht, sie muss auch Freiräume bieten.“

Auf ihren Tourneen legen sie regelmäßig Pausen ein, um den Kopf zu lüften und die Batterien aufzuladen, sogar während der Aufnahmen gönnten sie sich diesmal Auszeiten: „Ich habe bei keinem anderen Album während der Sessions so viel Zeit zu Hause verbracht wie bei diesem. Das macht mich glücklich, weil ich meine Familie sehen kann. So kommst du nicht an den Punkt, wo du ausgebrannt bist, weil du deine Familie vermisst.“

F amilienmensch Chris Wolstenholme ist der ruhende Pol der Band. Während sich Matt Bellamy an den Corner See zurückgezogen und Dominic Howard sich in die Großstadthektik von London gestürzt hat, blieb Wolstenholme als einziger Teignmouth treu, der Heimatstadt der Gruppe. An der südwestlichen Küste Englands genießt er mit seiner Frau und den vier Kindern das Privatleben. Natürlich sei es großartig, durch die ganze Welt zu reisen, „aber gleichzeitig ist es schön, inmitten des Chaos eine Art Beständigkeit im Leben zu haben“, sagt er. Er schätze den langsamen Puls und die Abgelegenheit des 15.000-Seelen-Ortes. „Ich will meine Ruhe haben und brauche keine Leute, die auf Celebrityjagdgehen und vor meinem Haus rumhängen. Oder Fotografen, die mich verfolgen, wenn ich mal Zigaretten kaufen gehe. Ich möchte einfach ein normales Leben führen.“

Nicht zuletzt deshalb sei Teignmouth ein schöner Ort, um die Kinder in einer einigermaßen normalen Umgebung aufzuziehen. Sein zehnjähriger und ältester Sprössling Alfie, dessen Geburt er wegen einer Tournee beinahe verpasst hätte, wird jedoch kaum in die Fußstapfen des Vaters treten: „Er mag ABBA und Muse, aber seine Welt dreht sich momentan nur um Fußball.“ Was eigentlich nicht weiter schlimm sei, denn schließlich habe sich Chris schon damit abgefunden, dass „aus mindestens einem meiner Kinder bestimmt ein Death-Metal-Freak mit Piercings und Tattoos wird“, wie er lachend erzählt. Viel mehr gibt Wolstenholme, der selbst ein leidenschaftlicher Fußballanhänger ist, zu denken, dass das Herz seines Sohnes ausgerechnet für den FC Chelsea schlägt. „Ich hasse es“, schüttelt er den Kopf, „aber wer so erfolgreich ist, erntet Sympathien. Ich unterstütze lieber den Verein aus meinem Geburtsort (Rotherham United, d. Red.), der in den unteren Ligen spielt und nie etwas gewinnen wird. Ich bin lieber mit Leidenschaft dabei, als dass ich aus purer Bequemlichkeit auf den Erfolgszug aufspringe.“

Eine Aussage, die genauso auf die Band übertragen werden kann. Während sich im Fußball beinahe jedes Herz mit Geld kaufen lässt, haben Muse trotz Millionen verkauften Platten nie vergessen, warum sie einst die Instrumente in die Hände genommen haben: aus Leidenschaft. Den Weg des geringsten Widerstandes sind sie noch nie gegangen, sondern stets ihrem Gefühl – oder ist es doch die Bestimmung? – gefolgt. Wohin und vor allem wie hoch hinauf sie dieser Weg führen wird, wissen sie wohl nicht einmal selbst. Over the top sind sie bereits jetzt.

David Gadze Foto: Danny Clinch Albumiritik S.I30 Story ME 9/09