Mick Jagger – Ein Stein kommt selten allein
Welch Luxus! Welch göttliche Verschwendung! Gleich zweimal stand uns der Stein der Steine Rede und Antwort. Während sich andere Gazetten vergeblich bemühten, hatte Mick Jagger für ME/Sounds reichlich Zeit reserviert. Zum einen kommentiert er- Song für Song seinen musikalischen Seitensprung SHE'S THE BOSS, um sich im zweiten Teil mit den Stones und ihren Plänen & Perspektiven zu beschäftigen. Denn für Keith & Co. schlägt natürlich nach wie vor sein Herz. Schlitzohrig, wie er nun mal ist, meint Mick: "Die besten Songs habe ich eh für das nächste Stones-Album reserviert."
ME/Sounds: Deine Solo-Platte ist das erste Produkt, das CBS im Rahmen eures 25 Millionen Dollar-Deals bekommt, ist man zufrieden damit?
Jagger: „In Amerika ja. Dort hält man das Album für sehr kommerziell und ist davon überzeugt, daß es einschlägt. In Europa ist es schwieriger, ein derartiges Meinungsbild zu erstellen, weil hier alles so zersplittert ist.“
ME/Sounds: Bist du selbst hundertprozentig damit zufrieden?
Jagger: „Nun, das bin ich nie. Unter den Umständen ist es das Beste, was ich leisten konnte. Und das ist gut genug.“
ME/Sounds: Vor 18 Monaten hast du gesagt, deine Solo-Scheibe werde entweder eine Hit-Kollektion für den US-Markt oder eine Rock n‘ Roll-LP in der britischen Tradition. Oder aber sie werde hauptsächlich jazzige, experimentelle Musik bieten. Jetzt ist sie fertig und nichts von alledem trifft zu.
Jagger (lacht): „Daran kannst du sehen, wie sinnlos solche Spekulationen sind. Ich kann allerdings in dem Umstand, daß auf der LP die verschiedensten Stile zu ihrem Recht kommen, keinen Nachteil erkennen. Jeder Track wurde eben individuell behandelt. „
ME/Sounds: Gehen wir sie doch der Reihe nach durch. „Lonely At The Top“ ist der einzige Song hier, den du mit Keith geschrieben hast…
Das Pariser CBS-Gebäude liegt in der Rue du Chateau im Geschäftsviertel Neuilly, an einem geschäftigen Boulevard. In der Plüsch-Lobby des Hochhauses empfangen mich vier in Pflichterfüllung strahlende Gesichter. Sie gehören französischen Empfangsdamen und einem smarten Schwarzen, der wohl als Pförtner fungiert. Der Flüsterton der emsig hin und her eilenden Angestellten ist fast schon devot und gilt natürlich keineswegs mir, sondern einem Mann, der das Haus noch gar nicht betreten hat.,.He shouldbe here any minute now“, wispert es, und.“We just heard that He already had breakfast.“
Eine Presse-Betreuerin läßt mich wissen, das Er gestern gut aufgelegt war, und daß ich mit einigem Glück auch heute Seiner Freundlichkeit teilhaftig werden könne.
Eine andere Dame weiht mich in die Kunst ein,Ihm wohlzugefallen: „Ich mag es nicht, wenn man Fragen zu seinem Privatleben stellt!“ Gute Güte, die Atmosphäre in einer Kathedrale, kurz bevor der Papst zur Messe erscheint, könnte nicht andächtiger sein.
Als Michael Philip Jagger endlich eintrifft, wird das Treiben noch einen Grad nervöser, doch bemüht sich jeder nach Kräften, Seine Anwesenheit zu ignorieren. Mick kennt das „Gaffen ist verpönt“-Ritual und scheint es zu genießen; jedenfalls zieht ein höhnisches Grinsen seine Mundwinkel nach unten, als er durch die Reihen angestrengt Jagger: „Es ist auch der einzige Song, der älter ist als ein Jahr. Ich habe ihn schon mit den Stones probiert, aber es hat nicht hingehauen.“
ME/Sounds: Warum hast du ihn nochmal aufgenommen?
Jagger: „Es gibt solche Songs. Man trägt sie eine Weile mit sich herum. Diesen mochte ich immer sehr, auch wenn er für die Stones nicht richtig war. Das kommt häufig vor. Ich habe ihn für meine Zwecke etwas umgearbeitet.
So haben auch die Stones immer gearbeitet. Wir schreiben selten für ein bestimmtes Datum. Manche Songs begleiten uns Jahre, bis wir sie im Studio in den Griff kriegen.“
ME/Sounds: Der nächste Titel ist „1/2 A Loaf“.
Jagger: „Darin geht es um eine Affäre mit einem Mädchen, die unbefriedigend verläuft. Es muß alles heimlich ablaufen, man darf nicht zusammen gesehen werden, man wartet auf sie frierend im Hauseingang. ,1/2 A Loaf‘ ist der letzte Song, den ich für das Album geschrieben habe.“
ME/Sounds: „Running Out Of Luck“…
Jagger: „Ist eigentlich ein Blues-Song, ziemlich altmodisch ….“
ME/Sounds: …doch sehr variationsreich gespielt. Mich erinnert dieser Track ein wenig an „Turd On The Run“, weil er auch keinen richtigen Anfang und keinen ‚ ihren Schreibtisch aufräumender CBS-Chargen geht, im Schlepptau seinen persönlichen Manager, einen freundlichen, graumelierten Herrn, dessen wachsamem Auge nichts zu entgehen scheint.
Wir werden einander vorgestellt; Mick entschuldigt sich für sein Zuspätkommen. „Was sind schon 30 Minuten“, höre ich mich sagen. Immerhin bin ich der einzige deutsche Journalist, dem ein Interview, pardon, eine Privat-Audienz eingeräumt wurde. Wir gehen essen, dann in einen Studio-Raum, wo ich die Gelegenheit bekomme, seinem ersten Solo-Werk dreimal hintereinander zu lauschen. Jagger besteht darauf, weil erst so ein Gespräch über die Musik sinnvoll sei.
Als wir uns später ungestört gegenübersitzen, habe ich endlich die Muße, mir den Mann näher anzusehen, der mit seiner Combo den wichtigsten Soundtrack wohl nicht nur zu meinem Leben geliefert hat. Ebendas versuche ich ihm so mitzuteilen, daß es nicht wie Anbiederung klingt.
Er lächelt leicht ironisch und nickt. Es sei schon seltsam, meint er, wie das Leben so spiele.“Um ganz ehrlich zu sein, habe ich nie das Gefühl gehabt, eine Art Idol zu sein. Vielleicht habe ich es verdrängt, weil ich die Vorstellung beklemmend fand.“
Im übrigen sei es ja wohl vorteilhafter, ein Vorbild wie ihn zu haben, als… Er spricht den Satz nicht zu Ende und lacht schallend. Überhaupt wird viel gelacht und geschäkert
richtigen Schluß hat. Beide Cuts kommen und gehen, scheinbar ohne Dramaturgie.
Jagger: „Stimmt. Eine langsamere, bluesige Version davon. Ich spiele sogar Harmonica.“
ME/Sounds: Der Anfang klingt wie ein Tape-Loop…
Jagger: „Nein, das klingt nur so. Herbie Hancock hat meine Stimme durch den Fairlight gejagt – und wir haben dann eine Weile rumprobiert, bis es genau zum Rhythmus paßte. Von Jeff Becks Gitarren-Part bin ich begeistert. „
ME/Sounds: Das ist doch nicht etwa jenes berüchtigte Solo, das du zum Schein hast löschen lassen, um Jeff zu ärgern?
Jagger: „Doch genau jenes.“
ME/Sounds: Aber der Tontechniker hat es doch versehentlich wirklich gelöscht und du warst der Angeschmierte, weil Jeff sich angeblich weigerte, das Solo nochmal zu spielen.
Jagger: „Hübsche Geschichte, nicht? Leider hat sie einen Fehler: Sie ist nicht wahr. Ich habe allerdings einen Moment lang selbst geglaubt, daß es unwiederbringlich verloren sei. „
ME/Sounds: Trotzdem: Ich muß sagen, daß mir die ursprüngliche Version der Story besser gefällt. Können wir nicht die Wahrheit unterdrücken und dabei bleiben, daß du dir selbst ein Bein gestellt hast?
Jagger: „Okay, du hast recht. Lassen wir es dabei bewenden und behalten wir die schnöde Wahrheit für uns. „
ME/Sounds: „Turn The Girl Loose“… Jagger: „Das ist ein Shuffle. Die sind rar an diesem Nachmittag. Wider Erwarten scheint ihm der Interview-Rummel Spaß zu machen.
Die ihm am häufigsten gestellte Frage, verrät er kopfschüttelnd, sei die nach der Diskrepanz zwischen seinem Image und seinem Alter. Wir machen einen großen Bogen um Banalitäten dieses Kalibers und wenden uns der psychologischen Infrastruktur der Rolling Stones zu.
Keith soll verärgert darüber sein, habe ich gehört, daß Mick das Solo-Album gemacht hat.
„Bullshit!“, wird mir beschieden. Keith hätte seine eigene Solo-Scheibe längst draußen haben können, wäre er nicht so ein fauler Bastard. Daraus werde in allernächster Zukunft auch nichts, weil Keith derzeit seine ganze Energie in die Stones stecke und das sei auch gut so.
Auch mit den anderen Stones verbinde ihn ein sehr freundschaftliches Verhältnis. Wie Mick das sagt, klingt es, als sei ihm das eben erst aufgefallen. Je älter sie würden, sinniert er, desto enger rückten sie zusammen. Mit Charlie gehe er regelmäßig zum Cricket, wenn immer sich die Gelegenheit biete.
Was ist an den Gerüchten dran, daß Bill sich geweigert habe, dir mit einigen Informationen aus seinem Archiv für deine Autobiographie auszuhelfen.
Mick beugt sich vor; sein Ärger ist nicht gespielt: „Ich weiß nicht, wer derartige Lügen in die Welt setzt. Ich habe Bill gar nicht darum gebeten. Diese ganze Story hat sich jemand aus den Fingern gesogen – und alle geworden. Den letzten Shuffle habe ich bei den Honeydrippers gehört, doch bei denen ist es nur Imitation. Ich liebe Shuttles.“
ME/Sounds: Die Art, wie Nile Rodgers hier Gitarre spielt, ist sehr untypisch für ihn.
Jagger: „Richtig, er spielt hier sehr minimalistisch, fast ein wenig African-style. Klingt toll.“
ME/Sounds: Hast du den Musikern gesagt, wie sie spielen sollen, oder hast du ihnen freie Hand gelassen?
Jagger: „In den meisten Fällen wußteich sehr genau, was ich wollte. Das soll nicht heißen, daß da nicht auch noch Raum für andere Ideen gewesen wäre. Aber ich hatte zu jedem Track Demos gemacht, die schon ziemlich genau festlegten, wie ich mir die Aufnahmen vorstellte.“
ME/Sounds: Lassen sich denn Musiker wie Edwards, Rodgers, Dunbar, Shakespeare, Leavell oder Hancock so genau vorschreiben, was sie zu spielen haben?
Jagger: „Natürlich, das ist ihr Job. Ich habe ja keine Musik-Diktatur ausgeübt, war offen für Vorschläge, von denen wir ja auch einen Teil miteinarbeiten konnten. Aber ich kann doch mit jedem einzelnen Musiker nicht arbeiten wie mit den Stones, wo jeder ein Mitspracherecht hat. Hätte ich zu denen gesagt: ‚Spielt, wie ihr es für richtig haltet ‚, wäre es im Resultat nicht mehr mein Album gewesen.“
ME/Sounds: „Hard Woman“ ist mein Lieblings-Track. Sehr gefühlvoll, sehr dramatisch. Du hast dir für diese Ballade auch einen neuen Gesangsstil angewöhnt.
Jagger: „Ich habe ein bißchen mit meiWelt hat den Mist nachgedruckt. Es gibt auch keinen Sinn. Bills Buch und meines stehen nicht in Konkurrenz miteinander. Er schreibt die Stones-Geschichte anhand von harten Fakten, ich schreibe über mein Leben. Die Stones kommen zwar darin vor, stehen aber nicht im Mittelpunkt.“
Wie weit ist dein Buch schon gediehen?
„Nun, die Kapitel über Kindheit und Jugend sind fertig. Hat Spaß gemacht. Wenn du gezwungen bist, darüber intensiv nachzudenken, steigen viele Dinge in dir hoch, die du längst vergessen geglaubt hast.
Die sechziger Jahre sind, glaube ich, insgesamt sehr gut geworden. Es sind politische Beobachtungen drin und die gesellschaftlichen Entwicklungen aus meiner Sicht. Und Futter für die Klatsch-Kolumnisten. Es wird ein richtiges Gossip-Book.“ Er lacht.
„Es wird Leute geben, die sich darüber ärgern, aber es wird sicher unterhaltsam zu lesen sein. Doch um noch mal auf Bill zurückzukommen: Diese Unterstellungen haben ihn arg mitgenommen. Er würde mir im übrigen nie eine solche Bitte abschlagen. „
Dann sind womöglich auch die Presseberichte falsch, wonach Bill behauptet hat, im Verlauf eurer Karriere mit mehr Mädchen geschlafen zu haben als die restlichen Stones zusammen?
Jagger verdreht in gespielter Verzweiflung die Augen und lehnt sich lachend zurück. „Doch, die Story stimmt unglücklicherweise. Bill ist das entsetzlich peinlich, aber er ist selbst schuld daran. Er war mit ner Stimme experimentiert. Herausgekommen ist dabei etwas in der Art, wie Sam Cooke manchmal gesungen hat, oder Aaron Neville.“
ME/Sounds: „Just Another Night“ ist die Single.
Jagger: „Ja, obwohl sie nicht so unmittelbar ist wie einige andere Tracks: aber sie bleibt auch nach mehrmaligem Hören interessant, nützt sich nicht so schnell ab. „
ME/Sounds: Jeff Beck spielt Spanish Guitar…
Jagger: „Ja, ein gelungenes Überraschungsmoment. Damit rechnet niemand, aber es funktioniert. Frag‘ mich nicht wieso.“
ME/Sounds: „Lucky In Love“ ist ziemlich lang, wird aber nie langweilig.
Jagger: „Weil ständig etwas passiert. Es fängt funky an, dann wird die Melodie eingeführt, dann wechselt der Rhythmus wieder. Eine Menge Arbeit steckt in diesem Track. Aber er war es wert.“
ME/Sounds: „Secrets“ ist ein Rocker und ideal fürs Radio, während einige andere Tracks wahrscheinlich besser in Clubs aufgehoben wären.
Jagger: „Stimmt. .Secrets‘ ist einer jener Songs, die gerade und ohne Umwege wirken. Was nicht heißt, er wäre mir besonders leichtgefallen. Im Gegenteil. Gerade auf die Struktur von , Secrets‘ habe ich sehr viel Zeit verwendet.“
ME/Sounds: „She’s The Boss“. Warum hast du die LP danach benannt?
Jagger: „Nicht etwa, weil ich diesen für den besten oder wichtigsten Track halte. Ich diesem ekligen John Blake (einem „Sun“-Sensations-Reporter) in einem Lokal und betrank sich. Das geht bei Bill so (schnippt mit den Fingern), ein Glas Bier und er ist hinüber. Dabei muß es passiert sein.
Nach dem Vorfall hat er mich angerufen und sich entschuldigt. Ich sagte zu ihm:, Bill, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Mir ist es doch egal, wenn du einen Idioten aus dir machst.‘ Zwei Monate lang tauchte der arme Bill unter und war für niemanden zu sprechen.“ Wymans ruhmloser Faux-pas löst bei Mick ungeahnte Heiterkeit aus.
Die weicht rasch dem ernsten Bemühen, seine Verbindung zum heimatlichen England als positiv und ungebrochen darzustellen. Er verbringe jeden Sommer dort, im Jahr etwa drei Monate; länger würde er sich auch dann nicht im Vereinigten Königreich aufhalten, wenn er das dürfe, d.h. brav seine Steuern zahlen würde.
Er liebe England, beeilt sich Mick zu versichern, aber die Welt habe noch andere Reize zu bieten. „Schau dir Bill und Charlie an. Die sind in England geblieben und lassen sich ihren Hintern weg-besteuern. Dabei bin ich sicher öfter und länger in London als Bill.“
Steuerflüchtlinge sind nirgendwo beliebt, gebe ich zu bedenken, man hält sie für Leute, die den Hals nicht voll genug kriegen können, für habgierige Menschen.
Jagger reagiert gelassen. „Zeig‘ mir den. der behauptet, er würde bleiben, wenn er dieser Steuerprogression unterworfen wäre, und ich zeige dir einen Lügner.
Für mich war die Entscheidung gefallen,
mag einfach den Klang des Titels. Um ehrlich zu sein, ist es mir eigentlich ziemlich gleichgültig, wie die LP heißt. Den Frauen wird der Titel gefallen, ein bißchen Bestätigung tut gut. Und es ist auch viel Wahres dran. Ich meine, wieviel Familien kennst du, wo der Mann der Boss ist?“
ME/Sounds: Man wird dir wieder irgendeine Art Sexismus unterjubeln.
Jagger: “ Wie denn? Was ist denn daran sexistisch?“
ME/Sounds: Den Berufs-Emanzen und der Moral Majority zwischen Alabama und Utah wird schon was einfallen.
Jagger: „Diesmal müssen sie sich aber wirklich anstrengen.“
ME/Sounds: Hat irgendeiner der Texte auf der LP biographischen Charakter, ich meine, kommst du drin vor?
Jagger (lacht): „Überall, in jeder Zeile. Das ist mein Leben. Nein, ganz im Ernst. Ich würde sagen, die Songs beziehen ihre Substanz zu gleichen Teilen aus persönlicher Erfahrung, aus Beobachtungen und aus meiner Phantasie. Songs, die ausschließlich auf Erlebnissen basieren, sind meist larmoyant und ertrinken in Selbstmitleid. „
ME/Sounds: Warum hast du Nile Rodgers und Bill Laswell als Produzenten eingesetzt. Was haben die beiden anderen Produzenten voraus?
Jagger: „Ganz einfach: Beide sind gute Produzenten und davon gibt es so viele nicht.
Sie haben ihre Erfahrungen auf verschiedenen Gebieten gesammelt. Bill hat seine als ich am eigenen Leibe erfahren mußte, daß wir 98 Prozent unseres Einkommens an den Staat abführten. Es-ist nur vernünftig, sich diesem Diebstahl zu entziehen.
Verfolgt Jagger die tagespolitischen Ereignisse, den Bergarbeiterstreik zum Beispiel?
„Oh ja, sehr genau. Da wird viel Schindluder getrieben mit der Gutgläubigkeit der Leute. Der Streik dauert schon viel zu lange und ist zu einem bloßen Prestige-Kampf verkommen. Keine Seite ist fähig, ein Stück nachzugeben.
Es wird nie einen Sieger geben, so viel ist sicher. Das Resultat ist Bitterkeit. Und Elend. Die meisten betroffenen Städte wurden um das Bergwerk herum errichtet. Wird das dichtgemacht, gibt es auch die Stadt nicht mehr.
Hinzu kommt, daß die englischen Arbeiter die unflexibelsten in ganz Europa sind. Dabei gehört meine Sympathie eindeutig ihnen. Sie haben verdammt harte Zeiten durchzustehen, vor allem die Familien mit Kindern.“
Fragen nach Jaggers eigenem Familienleben werden nur vage beantwortet. Immerhin erzählt Mick bereitwillig von seinen beiden älteren Töchtern, die ein Internat besuchen. Einer eventuell sich anbahnenden Showbiz-Karriere der Mädchen würde er sich nicht entgegenstemmen, sie aber auch nicht fördern. Jade könne ohnehin nicht singen, habe aber schauspielerisches Talent, während Karis sehr musikalisch sei. Er sehe die beiden, so oft er könne, und genieße jede Minute mit ihnen. Man gehe Lorbeeren mit Hip-Hop-Musik erworben, er interessiert sich für afrikanische Musik und ist überhaupt ein sehr kenntnisreicher Musiker. Seine Idee war, ein mehr Pop-orientiertes, kommerzielleres Album zu machen; ich mußte ihn manchmal drängen, in der Auswahl musikalischer Mittel etwas extremer zu sein.
Er wollte weg vom Sugarhill-Einerlei und suchte ein völlig neues Betätigungsfeld. Ich mußte ihm das erst ausreden. Die Zusammenarbeit mit ihm war problemlos.
Nile auf der anderen Seite ist ein erfolgsgewohnter New Yorker Star-Produzent, laut und direkt, offen und ohne Umschweife zur Sache gehend. Wenn ihm etwas nicht paßt, dann sagt er. this is shit‘, während Bill lieber behutsam etwaige Bedenken anmeldet. Die beiden verkörpern wirklich extreme Gegensätze. „
ME/Sounds: Gab es viele Meinungsverschiedenheiten im Studio?
Jagger: „Klar, dazu sind Co-Produzenten doch da! Nile ist dann allerdings abgesprungen, weil ihm das Ganze zu lange gedauert hat. Ich bin Perfektionist, während er immer drängte. Er arbeitet zügiger, aber auch nicht so genau wie Bill oder ich. Ich hab‘ dafür Verständnis – und wir haben uns freundschaftlich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt.“
ME/Sounds: Dein nächster Co-Produzent ist wieder Keith Richards.
Jagger: „Ja, wir haben vorgestern mit den Aufnahmen begonnen. Die besten Songs habe ich eh für das nächste Stones-Album reserviert.“
gemeinsam ins Kino oder ins Theater, man spiele, tanze und singe miteinander. Eitel Sonnenschein. Mick Jagger strahlt.
Damit ist es vorbei, als ich den Namen (des amerikanischen Managers) Allen Klein ins Gespräch einführe. Micks Miene verfinstert sich zusehends. Aus dem, was er brummend von sich gibt, entnehme ich, daß der letzte Prozess mit Kleins Firma Abkco zwar zufriedenstellend für die Stones ausging, sie aber auch in Zukunft auf Gedeih und Verderb an Klein gekettet sein werden.
Zum Schluß die guten Nachrichten: Die große Stones-Herbst-Tournee ist organisatorisch schon so weit gediehen, daß eine Absage schon deshalb nicht mehr in Frage kommt, weil das viel zu teuer käme. Die Tour soll Anfang September starten – und das wiederum bedeutet, daß die nächste Stones-Scheibe spätestens zum Tour-Beginn in den Läden sein muß. Die Stones haben sich also selbst in Zugzwang gebracht?
Mick bejaht. Nur unter Zeitdruck arbeiten die Stones optimal, erklärt er augenzwinkernd. Und: so erfrischend und erholsam die Erfahrung für ihn gewesen sei, einmal über einen längeren Zeitraum mit externen Musikern langgehegte musikalische Wünsche zu realisieren, so sicher sei auch, daß es nichts Aufregenderes gebe, und nichts Abenteuerlicheres, als mit den Stones vorhandenes Roh-Material so lange zu bearbeiten, bis die Funken sprühen. Sein Solo-Werk sei nur ein Exkurs, versichert Mick. Sein Herz schlage weiter für die Stones.