Metallica: Die Band mit dem Verdröhnaroma
Ihr Verdienst ist klar: Metallica überführten den Metal in den Mainstream. Statt tumbem Trash kreierten James Hetfield, Lars Ulrich und Co. eine wegweisende Mischung aus Lärm und Verstand. Im Gespräch mit ME/Sounds ziehen die vier Amerikaner Zwischenbilanz.
„Was bedeutet Metal? Heavy Metal als Musik oder Kunstform ist tot. Die letzten zwei Bastionen, in denen die Fahne hochgehalten wird, sind Deutschland und Japan. Auf dem Rest der Welt interessiert das keinen mehr. In den späten 8oer Jahren wurde Metal sehr uninspiriert, die Musik stagnierte. Es passierten kaum mehr neue Dinge, und die Leute begannen sich zu langweilen. Wie oft kann man sich Bands anhören, die Jahr für Jahr immer die gleiche Platte mit neuem Albumcover veröffentlichen?“ Deutliche und für eingefleischte Fans womöglich blasphemische Worte ausgerechnet aus dem Munde von Lars Ulrich, dem 32jährigen Schlagzeuger und Sprachrohr von Metallica. Jener Band immerhin, die das Genre der harten Gitarrenriffs und des adoleszenten Machogehabes Anfang der 80er Jahre entschlackte, modernisierte, revolutionierte und für ein neues Jahrzehnt definierte. Fünf Jahre ist es nun her, daß sich Metallica zuletzt musikalisch zu Wort gemeldet haben.
Nicht nur die Songs auf ‚Metallica‘, dem einzigen Metal-Meilenstein dieses Jahrzehnts bislang, konnten einem den Atem rauben: Unfaßbare 14 Millionen mal setzte die Gruppe ihr mit Abstand zugänglichstes Album weltweit ab und sicherte sich damit einen sicheren Platz im Luxus-Penthouse des Rockolymp. Im Sog des ‚Black Album“, so genannt aufgrund seiner spartanischen Coverart, erlangten auch alle vorangegangenen Scheiben Platinstatus. 400 Shows auf mehreren intensiven Tourneen und eine wohlverdiente Pause vom Bandstreß nach 13 Jahren Dauerbelastung später sind Metallica wieder bereit, ins Geschehen einzugreifen. Mit Hochdruck wird in New York an der Fertigstellung von ‚Load‘ gearbeitet, dem sechsten Füll-Length-Album der Band. Einen weiten Weg ist man gegangen seit dem ersten Sichten der in Jahren angehäuften Demotapes im Dezember 1994. Aus den fragmentarischen Ideen destillierte James Hetfield 29 Songs, die die Band in gewohnt minutiösem Perfektionismus im Heimstudio in Lars Ulrichs Anwesen in Sausalito aufnahmen.
„Insgesamt war der Aufnahmeprozeß bequemer“, erläutert der Drummer sichtlich ausgelaugt nach einem langen Arbietstag im Studio, während er sich auf einer Couch sammelt. „So hat es aber auch drei Monate länger als normal gedauert. Dennoch liegen wir noch vor dem ausgearbeiteten Zeitplan. Der ist wichtig für uns: Wenn wir uns keine Veröffentlichungs- und Abgabetermine setzen, hören wir nie auf. Das ist auch der Grund, warum wir jetzt nur 14 Songs fertigstellen. Bei einer Doppel-CD würden wir uns noch vier Jahre im Studio vergraben.“ Die restlichen 15 Tracks sollen nicht verloren sein: Nach dem Vorbild von U2’s ‚Achtung Babyl‘-Begleitalbum ‚Zooropa‘ will man den zweiten Teil von ‚Load‘ noch dieses Jahr fertigstellen und bereits 1997 auf den Markt bringen. „Wir haben uns dieses Mal nur eine Vorgabe gemacht“, METALLICA meint Ulrich, „als wir uns mit unserem Produzenten Bob Rock trafen: Wir sagten ihm, wir wollten einen flüssigeren Sound. Wir wollten nicht wie üblich an Riffs festkleben. Lose, natürlich, nicht so definiert, sollte alles werden, ohne daß wir genau gewußt hätten, wie wir das anstellen sollen. Das beste Wort ist greasy.“ Wie geschmiert klingt die Auswahl von Songs, die man dem kleinen Grüppchen Journalisten im Mischraum der New Yorker Right Track Studios vorstellt, auf alle Fälle. Sofern diese sieben Tracks stellvertretend für das gesamte Album stehen, haben es Metallica geschafft, wie Ulrich es ausdrückt „immer weniger nach Metal, doch dafür 110 Prozent nach Metallica Jen ging lange Zeit in dieser Rochstar-Scheiße auf “ (Lars Ulrich) zu klingen.“ Und Bassist Jason Newsted, dem 1987 die wenig beneidenswerte Aufgabe zufiel, den von den Fans abgöttisch verehrten Cliff Burton nach dessen tragischem Unfalltod zu ersetzen, erklärt: „Das ‚Black Album‘ ist die Blaupause für ‚Load‘: Jetzt ist uns das gelungen, was wir 1991 schon wollten.“
Tatsächlich ist nicht zu überhören, daß ‚Load‘ eine konsequente, präzise Fortführung des letzten Albums ist. Da hatte man erstmals das Experiment gewagt, wie im Fall von ‚Enter Sandman‘ in Songs mit nur einem einzigen Riff zu arbeiten und mit Dynamiken zu spielen. Von der davor veröffentlichten ‚… And Justice For All‘, Metallicas vertracktem Prog-Thrash-Magnus-Opus aus dem Jahr 1988, von dem Ulrich sagt, er könne es sich 1996 beim besten Willen nicht mehr anhören, ist ‚Load‘ Universen entfernt. Ohne die gruppentypische Kompaktheit zu opfern, setzt die Band weniger auf ihr Markenzeichen, jene granitschweren Riffs, die jeden Metallica-Song bis jetzt förmlich in ein Text:Thomas Schu tze rechtförmiges Matrixsystem zu prügeln schienen, sondern läßt sich die Freiheit, den Swing der Songs zu finden. Das Resultat sind durchaus bluesige, boogie-artige Kompositionen im ‚Wherever I May Roam‘-Tempo, die bisweilen einen Touch Lynyrd Skynyrd haben. Sehr spannend! Dann wiederum ist der Einfluß der Metallica-Spezis Alice In Chains un-überhörbar: Vor allem bei verspielt-verqueren Mittelparts und düsteren Gesangsstrecken sind Layne Staley und Co. präsent. Trotzdem ist ‚Load‘ Metallica in Reinkultur. Nicht jene Metallica, die Mitte der 80er Jahre mit Bands wie Slayer, Anthrax und Exodus den Speedmetal-Boom auslösten. Mit jugendlicher Aggression hat die Band heutzutage nichts mehr am Hut.
Wie auch? Alle vier gehen auf Mitte 30 zu. Metallica ’96 haben sich kraftvoller, relevanter Rockmusik härterer Gangart verschrieben, die deutlich von den Charakteren der vier Musiker geprägt ist. In besonderem Maße ist ‚Load‘ das Baby von James Hetfield, dem Frontmann, Sänger, Rhythmusgitarristen und Songschreiber der Band. Während Lars Ulrich die Rolle des Sprachrohrs und Spezialisten in Businessfragen zufällt, seitdem er 1982 das erste Demo ‚No Life ‚Til Leather‘ eigenhändig verpackte und verschickte, ist Hetfield deutlich Seele und Herz der Band. Wie die anderen präsentiert er sich jetzt mit kurzen Haaren, doch die majestätische, löwenhafte Erscheinung ist ihm geblieben. Er scheut Interviews, läßt lieber Songs sprechen und gilt als ruppig und verschlossen, sofern er nicht zu einer seiner berüchtigten Trinksessions auf seiner Farm in Nordkalifornien einlädt. Bis vor kurzem wußten nicht einmal seine Bandmitglieder von seiner Kindheit. Anders als Ulrich, der in Dänemark behütet in einem sehr progressiven und antiautoritären Umfeld aufwuchs, verbrachte Hetfield die ersten Jahre seines Lebens unter der rigiden Aufsicht der Christian-Science-Sekte. Die Erfahrungen fanden ihren Niederschlag in Songs wie ‚Leper Messiah‘ oder ‚Dyers Eve‘. Bis heute hat er ein extrem gestörtes Verhältnis zu seinem Vater, nachdem der die Familie nach der Scheidung von Hetfields Mutter sitzen ließ. Obwohl Hetfield schon auf dem finsteren ‚Ride The Lightning‘ über seine Kindheitserlebnisse reflektierte, fanden seine bemerkenswerten Texte erst nach ‚Metallica‘ die Anerkennung der Kritiker. In Songs wie ‚Of Wolf And Man‘ oder ‚Don’t Tread On Me‘ offenbarte der Hemingway des Nackenbrechersounds nach den konzeptuellen Texten von ‚Master Of Puppets‘ und ‚… And Justice For All‘ eine persönliche, verletzliche, zerrissene, oft auch widersprüchliche Seite, die man bei Metaimusikern zumeist bestenfalls nur erahnen kann. Auf ‚Load‘ geht er noch einen Schritt weiter. „Die Songs sind so persönlich, daß wir zum ersten Mal auf ein Textblatt verzichten wollen. Musikalisch wie textlich geben wir uns Mühe, so vage wie nur eben möglich zu klingen“, lacht Lars Ulrich. Wenn James Hetfield als 32jähriger immer noch angepißt klingt, dann wohl, weil er es ist: Auf der Stadiontour mit Guns ‚N Roses explodierte ein Pyroeffekt direkt neben ihm und verbrannte seinen Arm so schlimm, daß man für einen Teil der Tour einen Ersatzgitarristen engagieren mußte (New–ySted, mit dem tiefsten Respekt: „He’s the man. Fackel seinen Arm ab, und er schaut dich an und sagt: Was glotzt du so blöd, wir müssen noch 30 Songs spielen. Let’s rock!“) Schlimmer noch für den Naturfreak und passionierten Redneck Hetfield war sicherlich ein monatelanger Rechtsstreit mit der Plattenfirma der Band, als man den alten Vertrag neu verhandeln wollte und schließlich sogar damit drohte, das Label zu verlassen (man konnte sich einigen; die Details bleiben unbekannt).
Während Kirk Hammett als enigmatischer Gitarrenheld mehr an seinen Soli als irgendetwas anderem interessiert scheint (optisch befindet er sich gegenwärtig in einer psychedelischen Dave-Navarro-Phase) und Bass-Maniac Jason Newsted sich selbst als „unerschütterlichen Typen, der mit beiden Füßen fest auf dem Boden verankert ist“ beschreibt, dessen Hunger nach immer mehr Musik nicht mit Geld aufgewogen werden kann, gehört das Rampenlicht von jeher Hetfield und Ulrich, den Glimmer Twins der Jägermeister-Generation, den Page und Plant der Jeansjacken-Armee. Ein Zustand, mit dem alle zufrieden sind, mit dem sich alle arrangiert haben. Bei den Aufnahmen zu ‚Load‘ scheinen sich die lange eingespielten Positionen leicht verändert zu haben. Bewußt versuchen Metallica, mehr noch als zuvor als Gruppe aufzutreten – und auch so zu arbeiten. Verständlich, daß die Augen der Medienwelt besonders aufmerksam auf ‚Load‘ ruhen, das Anfang Juni veröffentlicht wird. Es ist das erste Mal, daß sich Metallica einer von Grund auf veränderten Rockwelt stellen, stellen müssen. Während die Band bei der Stadiontour mit Guns ‚N Roses 1992 als eine der letzten Bands die süßen Früchte des klassischen Rockdinosauriertums kosten durfte, ließen Nirvana und Co. das Musikbusiness, wie wir es kannten, in der umfassendsten Revolution seit Punk in den Grundfesten erschüttern und brachten es schließlich zum Einsturz. Metallica waren nicht erfreut. Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, dem Mißfallen über „the year that grunge broke“ in Interviews Ausdruck zu verleihen. Heute sieht Ulrich die Dinge anders: „Ehrlich gesagt, 1992 habe ich eine ganze Zeit lang den Überblick verloren. Ich konnte nicht klar denken, ich ging in diesem Rockstar-Scheißdreck auf. Irgendwie mußte ich damit herumexperimentieren, bis ich merkte, daß das nichts für mich ist, daß das nichts mit mir zu tun hat. Damals habe ich mich blenden lassen von all dem Überfluß, der Guns ‚N Roses umgab. Verdammt, ich habe ein halbes Jahr lang eine weiße Lederjacke getragen! Erst während unseres langen Urlaubs ist mir klar geworden, wie wichtig Nirvana für die Rockszene waren. Ich mußte das erst in Perspektive bringen.“
Überhaupt wirkt Ulrich, Sohn eines dänischen Tennisprofis, der mit seiner Familie 1977 nach Los Angeles übergesiedelt war, gereift und ertaunlich gelassen. Ulrichs einstige an Arroganz grenzende Klugmeierei ist einer selbstrefiexiven Gelöstheit gewichen, die man dem hyperaktiven Schnellsprecher nie zugetraut hätte. Früher sagte man ihm nach, er würde am liebsten noch während Konzerten Interviews geben. Heute ist er die Ruhe selbst. Offensichtlich ein Resultat der mehr als einjährigen Pause, die sich die Band gegönnt hat. „Es war die erste Gelegenheit seit Gründung der Band, aus dem Schatten der anderen zu treten“, bestätigt der Drummer. „Wenn man in einer Band anfängt, macht man zwangsweise alles gemeinsam: Essen, Trinken, Party feiern, Schlafen, Ficken. Da entwickelt sich eine Art Gangmentalität. Jetzt hatten wir die Möglichkeit zu uns selbst zu finden. Deshalb ist die Band jetzt auch so stark wie nie zuvor.“ Nach 15 Jahren, einer Zeitspanne, die bei den meisten Bands erste Alarmzeichen für die bevorstehende Pensionierung auslöst, schließt sich der Kreis für Metallica. Die Gruppe, die immerhin ihre drei ersten Platten (auf Vinyl!) bei Independents veröffentlichte, wird im Sommer als Headliner des Alternative-Rock-Tour-Circus Lollapalooza auftreten, der 1991 von Perry Farrell quasi aus Protest gegen vermeintliche Dinosaurier wie Metallica aus der Taufe gehoben worden war. Die Zusage Metallicas zeitigte bereits Folgen: Farrell zog laut schimpfend seinen Namen zurück, die Lollapalooza-Website wird mit E-Mails debattierender Fans geradezu bombardiert. Ulrich, der sich massiv dafür einsetzt, daß zum bestehenden Lineup mit Metallica, Soundgarden, Rancid, Ramones, Coolio, Screaming Trees und einem Trupp tibetanischer Mönche auch noch Waylon Jennings, Tom Waits, Devo und Black Grape aufgenommen werden, erklärt seine Experimentiertust: „Das ist de r Grund, warum wir nach 15 Jahren nicht ausgebrannt sind. Wir suchen das Abenteuer, sonst sind wir nicht zufrieden. Lollapalooza – das ist eine fremde Welt für uns. Und das ist verdammt spannend. Es gibt nichts besseres, als die Tür zu einem Raum zu öffnen, dessen Inneres man nicht kennt.“
Sollten Befürchtungen von Seiten Metallicas bestehen, wie andere ehemals erfolgreiche Rockacts dem grassierenden Alternativ-Rock-Fieber zum Opfer fallen zu können, dann läßt sich Ulrich zumindest nichts anmerken: „Betrachte Metallica einfach als i5Jähriges Projekt. Die meiste Zeit unserer Karriere waren wir doch auch Underdogs und Außenseiter. Und so, wie sich die Dinge entwickelt haben, sind wir das 1996 wieder: Metallica und Lollapalooza – das macht Sinn. Und so groß ist der Brückenschlag zwischen uns und Weezer auch wieder nicht.“
Und so treten Metallica zum nächsten Abschnitt ihrer immer wieder verblüffenden Karriere. Erst entrissen sie Metal den Idioten und machten daraus Musik für Menschen mit Köpfchen. Dann ließen sie die Grenzen zwischen Underground und Mainstream verschmelzen, jetzt basteln sie am größten Kunststück ihrer Karriere: Metallica könnte der erste Dinosaurier sein, der sich vor dem Aussterben aus eigenen Stücken und mit purer Intelligenz rettet. Wie sagte Jason Newsted so schön: „We’re pretty smart guys!“