Mein Gott, Gahan


Vom Profan-Pop zur Techno-Messe: Mit der „Devotional"-Tour begeben sich Depeche Mode endgültig auf Sinnsuche

Eine Nobelherberge im Herzen Brüssels. Goldene Portiere, livrierte Diener, Marmor und Glas. Dicke Teppiche dämpfen den Schritt. Hier ist der Gast noch König. So auch Depeche Mode, die sich an diesem hochsommerheißen Maitag im Hotel Conrad an der Avenue Louise angekündigt haben.

Man sieht’s bereits, wenn man vorfährt: Autogrammjäger und Fans in verräterischem Outfit lungern vor dem Eingang herum. Cool, wie es sich für echte Depeche Mode-Jünger gehört, und doch in ständiger Alarmbereitschaft. Denn der Zerberus an der Tür macht schon wieder Anstalten, sie zu verscheuchen.

Depeche Modes „Devotional“-Welttournee, die Mitte Mai im französischen Lille mit zwei Warm up-Gigs startete, dann in Zürich Premiere hatte, ist inzwischen in Brüssel angelangt. Der dritte Tag also. Zwei Shows im „Forest National“, einer akustisch deprimierenden Spielstätte, die alles andere als „devotional“ („andächtig“) ist und an diesem Abend bis unter die Decke ausverkauft ist.

Hinter der Bühne ein Bild trügerischer Gelassenheit. Die Tournee, die bis ins nächste Jahr hineinreicht und allein in Europa 41 Konzerte umfaßt, ist noch jung. Nichts ist eingespielt, jeder Handgriff ein Abenteuer. Nur Andy Flechter, der sich nach dem Soundcheck in der Lounge, dem Aufenthaltsraum der Künstler, zu einem Interview einfindet, spricht von Routine. „Es ist schon seltsam: Wir haben seit gut zweieinhalb Jahren kein Konzert mehr gegeben, aber kaum hat man das erste hinter sich, kommt es einem vor, als hätte man überhaupt nie aufgehört. Da ist es wieder: das alte Gefühl, die altbekannte Routine.

Aber wir hatten auch enormes Glück. Denn das Publikum an den beiden kritischen Abenden der Generalprobe in Lille war einfach phantastisch. Das hat uns natürlich den richtigen Kick fiir die Tour Und den werden die Vier auch brauchen. Das Pensum, das sich die Elektroniker aus Basildon diesmal vorgenommen haben, ist so immens, daß die Tour in punkto Quantität selbst U2, Metallica oder Guns N‘ Roses auf die Ränge verweist. Als Auftakt 41 Daten in 13 europäischen Ländern — mit einem Abschlußkonzert im Londoner „Crystal Palace“ am 31. Juli. Amerika von September bis November ’93. Der Dezember gehört dem englischen Publikum. Dann folgt der Rest der Depeche Mode-verrückten Welt: Südamerika, Australien, Japan und — „mit einigen Fragezeichen versehen und nur wenn alles stimmt“ — auch Südafrika. Fletcher, ein typischer Vertreter der englischen Rasse — blaßhäutig, blutarm und von unverwüstlich jungenhaftem Aussehen — kommentiert die weltweite Popularität ebenso unbescheiden wie emotionslos: „/ think we’re a global band.“

Depeche Mode, 1980 von Schulfreunden in dem englischen Provinznest Basildon gegründet, gehören spätestens seit „Violator“ zu den Bestsellern der Branche: sechs Millionen weltweit, allein in Deutschland 750.000 verkaufte Einheiten. Und so ging es nach drei CD-losen Jahren auch weiter. In zwei Monaten ging die aktuelle Scheibe „Songs Of Faith And Devotion“ knapp 500.000mal über den Ladentisch. Sechs Wochen lang rangierte das Depeche-Opus, das vom Image der Teen-Gruppe endgültig Abschied nimmt und folglich ein kommerzielles Risiko war, an der Chartspitze.

Das Zahlenwerk der laufenden Tour ist nicht minder beeindruckend: 120 Menschen reisen per Nightliner (Crew) bzw. Privatjet (Band) durch die Lande. Elf Videoleinwände auf der Bühne, neun riesige Trucks für den Transport. Eine Waschmaschine, zwei Trockner, bedient von der „Wardrobe“-Lady Carol, die Überflieger-Lichtanlage aus dem Hause Vari-Light als Leihgabe der Firma Genesis, Keyboards und Synthesizer im Dutzend, neuerdings auch Gitarren und Trommeln. „Wir machen viele Dinge, die wir noch nie gemacht haben“, bekennt Andrew stolz. „Alan (Wilder) spielt Schlagzeug, Martin (Gore) Gitarre. Wir haben zwei Gospelsängerinnen dabei. Ein großer Konzertflügel kommt zum Einsatz. Es gibt viel mehr .action‘ auf der Bühne. Das ist alles ganz neu fiir uns. Alan hat zwar früher Schlagzeug gespielt, aber das ist schon gut zehn Jahre her. Darum hat er die letzten Monate nur geübt und geübt und geübt. „

Viel hat es nicht genutzt — jedenfalls haben Depeche Mode mit handgespieltem Rock noch immer so- ¿

viel zu tun wie eine Kuh mit Squaredance. Wäre da nicht die Sauna-Temperatur im aufgeheizten „Forest National“ gewesen, man hätte als distanzierter Beobachter ins Frösteln kommen können. Große Gesten, einer Lern Riefenstahl würdig, eine machtvolle Demonstration schmächtiger Gefühlchen, musikalische Tiefkühlkost.

„Wir wollen und müssen uns ständig selbst überraschen“, meint Andy Fletcher. den man hier nur Fletch ruft.

„Sonst wird’s langweilig. Wir brauchen die Herausforderung. Vor allem, wenn wir 18 Monate lang auf Tournee gehen. “ Zu den Herausforderungen gehört es auch, daß sie „viele langsame Songs präsentieren und mit dem jüngsten Album von der Techno-Bewegung abrücken. Ich denke, wir haben uns ganz bewußt in die entgegengesetzte Richtung entwickelt und auf .Songs Of Faith And Devotion‘ wieder mehr natürliche Instrumente benutzt. Nicht zuletzt auch, um nicht vorhersagbar zu werden. „

Ein schwieriges Unterfangen, schließlich gelten Depeche Mode mit ihrem ausgeprägten Hang zu klanglicher Synthetik als die „Grandfathers of Techno“ (Fletch). Nach Kraftwerk gehören Depeche Mode mit OMD allerdings erst zur zweiten bzw. dritten Generation der Elektro-Pop-Bands. Zuhause in England galten sie zwei Alben lang als „kult“ und wurden dann von der seriösen Kritik gerne mit spitzer Feder niedergemacht. „Warum“, fragte seinerzeit ein NME-Kritiker, „drängt sich bloß jemand nach einer Band, deren Sänger nicht singen kann, deren Melodien zum Verzweifeln überraschungsarm und infantil sind und deren Musik sich anhört, als hätten Uhravox total verkatert einige Kraftwerk-Nummern verhunzt?“

In Brüssel jedenfalls drängte es ein sichtlich in die Jahre gekommenes Publikum, die immer noch bubenhaften Techno-Teddys zu sehen. Depeche Mode sind nach 14 Dienstjahren, zehn Alben und fünf entscheidenden Singles („Just Can’t Get Enough“, „Everything Counts“, „People Are People“, „Personal Jesus“ und „Enjoy The Silence“) ins kritische Alter gekommen. Dreißig ist für ehemalige Teenstars oft die Schallmauer. Aber siehe da: In Brüssel konnte man beobachten, daß die einmal gewonnenen Fans ihrer Band die Treue halten. Ein Phänomen, das selbst dem soziologisch bewanderten „Spiegel“-Kritiker zu denken gab: „Mit melancholischkühlem Synthesizerpop“, so heißt es da, „lieferten Depeche Mode den Soundtrack fiir die sensibel Pubertierenden der achtziger Jahre — jene Generation, welche, den Yuppies entfremdet, nach Ernsthaftigkeit, Poesie und ein wenig Dekadenz suchte.“

Das Publikum ist jedenfalls älter als erwartet und kennt die Depeche Mode-Songs in- und auswendig. Alle singen mit, alle kreischen mit. wenn ihr „personal Jesus“ Dave Gahan einmal ansatzweise Körperlichkeit andeutet und als blutarmer Westentaschen-Jagger mit dem nicht einmal hosenfüllenden Arsch wackelt.

Gahan, inzwischen überwiegend in Los Angeles zuhause, ist ein Fall für sich: Für die einen ein rotes Tuch und prätentiöser Anti-Typ, für DM-Fans aber schon optisch einer der ihren. Vor den Hallen sind die Dave Gahan-Lookalikes stets in der Mehrzahl: coole Pose, schulterlanges Jahr, der männlich machende Kinnbart, der das einstige Babyface aber noch nicht so recht vergessen macht.

Eins muß man ihm aber zugute halten: Gahan, der vergleichsweise ; wenig zur DM-Musik beiträgt, ist live der Focus, das einzige bewegliche ; Ziel auf der gigantischen Bühne. Zwei Stunden lang wirft er trotzig die Haare in den Nacken, läuft einsam vor ¿ .

der nackten Empore hin und her, auf der die drei Tastendrücker ihre Maschinen bedienen.

Depeche Mode-Konzerte sind mehr denn je Inszenierungen. Bevor die Manager-lose und demokratisch funktionierende Band, die alle Entscheidungen stets mehrheitlich trifft, auf den holländischen Fotografen Anton Corbijn stieß, waren sie laut Fletch „sehr unzufrieden mit ihrem optischen Erscheinungsbild“. Seit Corbijn, der die Engländer als Einziger exklusiv ablichten darf, hat sich das geändert. Es ist für alle „visuals“ zuständig, dreht die Depeche-Videos und entwickelte auch das Bühnendesign der Devotional-Tour.

Und nach dem kommerziellen Erfolg von „Violator“ wurde wirklich an nichts gespart: „Higher Love“, den ersten Song, spielen sie noch hinter einem unscheinbaren blauen Vorhang. Nur Dave schaut, klein wie ein Streichholzmännchen, zwischen den wehenden Stoffbahnen hindurch. Dann der Blick auf die Bühne: eine kühl kalkulierte Mischung aus Filmdekoration und Videobild. Die Empore mit tiefergelegener Galerie besteht aus fünf Videoleinwänden, auf denen mal synchron, mal asynchron Bilder zu den einzelnen Songs ablaufen — Vogelfrauen, Frauenporträts, monochrome Farbflächen. Oben auf der Empore stehen die Keyboarder — drei Schatten hinter ihren Pulten. Die Gospelsängerinnen werden ihnen als Garnierung zugeordnet. Zwei riesige Videoleinwände bilden den Bühnenhintergrund: metallische Objekte komplettieren das 2001-Space Odyssey-Ambiente; unter der Bühnendecke schließlich kreisen zwölf Licht-Zeppeline.

„Anton Corbijn war für uns ein Glücksfall. Nicht das übliche Trockeneis-Gewabere, sondern Bilder, die die Show ergänzen und kommentieren. Am Anfang unserer Karriere waren wir in punkto Optik immer sehr unglücklich. Seit Anton unser ,visual director‘ wurde, haben wir auch diese Sache im Griff. Er macht unsere Fotos, unsere Videos, kümmert sich um die Bühne. Wenn jemand anderes Dave dazu auffordern würde, in einem Video eine Krone zu tragen, würde er ihn in die Wüste schicken. Da wir Anton vertrauen, lassen wir uns auf solche Vorschläge ein — und meistens sind wir damit gut gefahren. „

Apropos Effekt: Depeche Mode sind Meister der Show. Ihre Konzerte sind wie Videos, die zu Leben erweckt werden. Nur daß live ein bißchen Schweiß fließt und die manikürte Perfektion ins Fließen gerät. Die Band spielt 19 Songs im Verlauf der zweieinhalb Stunden. Zwei der großen Hits, nämlich „Just Can’t Get Enough“‚ und „People Are People“, fehlen. Die bandinterne Abstimmung wollte es so. Martin Gore, Songwriter der Elektrorüktruppe, findet „People Are People“ heute einfach nicht subtil genug. Und wenn einer sein Veto einlegt, ist die Entscheidung gefallen.

Bei Depeche Mode gibt es in allen Belangen eine strikte Arbeitsteilung: Fletch ist der Kopf und Kaufmann, wenn es um Buchhaltung und andere pragmatische Fragen geht. Gore ist der Schreiber, entwirft Songs mit jeder Menge Anspielungen und Doppeldeutigkeiten — bevorzugte Sujets: Sex, Religion, Sado-Maso und natürlich Liebe. Alan Wilder ist der Tüftler, zusammen mit Co-Produzent Flood, den sie seit „Violator“ beschäftigen, zuständig für alle Soundfragen. Dave

schließlich, präpariert von einem stets mitreisenden Yoga- und Fitnesstrainer, ist der konkurrenzlose Blickfang.

„Als wir 19 Jahre alt waren, hatten wir vielleicht mehr Enthusiasmus“.

sagt rieten über die innere Einstellung, „dajürhaben wir heute die Erfahrung, um größere Fehler zu vermeiden. Und das ist doch auch etwas wert.“

Man kann gegen die Band sagen, was man will, aber sie haben ein Publikum, das ihnen längst aus der Hand frißt. Im „Forest National“ tobt das Volk, während die Familienväter (Fletch wurde Vater, Gore ebenfalls) ihre Elektro-Hymnen mit dröhnender Lautstärke ins Rund hämmern. Von Martins Gitarre hört man in diesem synthetischen Pandämonium herzlich wenig.

Daniel Miller, Vaterfigur, Depeche Mode-Entdecker und Mute-Plattenchef, ist angereist, um seine Schützlinge zu erleben. Er wird hinter verschlossener Tür Positives berichten können: daß der musikalische Kurswechsel, den man mit „Violator“ und dem jüngsten Album vollzog, sich in keiner Weise negativ auf Verkaufszahlen und Konzertbesuche ausgewirkt hat. Im Gegenteil! Internationale Pressevertreter stehen sich die Beine in den Bauch. An den Merchandising-Ständen herrscht Hochbetrieb. „Es gibt kaum eine Band“, erzählt man backstage, „die soviel Umsatz macht wie Depeche“. Konkrete Zahlen aber bleiben unter Verschluß.

Wenn man erlebt, wie die Fans zum Abschluß „Everything Counts“ singen, muß man zugeben, daß irgendetwas an diesem Phänomen dran sein muß. Sind es die scheinbar banalen Melodien, die man dann aber nicht mehr aus dem Ohr kriegt? Ist es die kühle Perfektion, die mit Rock ’n‘ Roll ganz gezielt und absichtlich nichts mehr gemein hat? Ist es das Image einer Band, die auf Starkult verzichtet und sich optisch von ihren Fans nicht unterscheidet? Musiker, die ihr Privatleben konsequent unter’m Deckel halten, Fußball gucken, nach ihrem Konzert alle unters Sauerstoffzelt müssen und dann bei der kleinen Hotel-Party in Brüssel bewußt unter sich bleiben und das eigens eingeflogene „Miller“-Bier trinken …