ME-Spätlese
Anstelle der üblichen Special-Story stellen wir Euch in diesem Heft das ME-ROCK-ARCHIV 1 vor: Zehn LP’s, die im Schnitt ein Jahrzehnt auf dem Buckel haben, wählten wir für eine Kassette aus, die nicht nur bei Veteranen nostalgische Schauer auslösen soll, sondern auch nachholbedürftigen Jüngeren auf einen Schlag ein ganzes Spektrum musikalischer Meilensteine beschert. Das ME-ROCK-ARCHIV gibts im Handel zum unverbindlichen Richtpreis van DM 98,-. Aus diesem Anlaß veröffentlichen wir persönliche Rückblenden von drei ME-Kritikern – ausgelöst durch besagte LP’s. Gabriele Meierding findet Santanas Latino-Sound und Janis Joplins Stimm-Exzesse zu Bruce Springsteen. Hermann Haring erinnert sich bei den Moody Blues an Knutschfeten und Eindrücke, die Stones und UFO auslösten. Wolfgang Bauduin nahm sich zuguterletzt die Gitarristen vor: Johnny Winter, John Mayall, Jeff Beck und Alvin Lee mit Ten Years After. Ten years after (so über den Daumen jedenfalls) sieht bekanntlich alles anders aus. Von Verklärung kann allerdings nicht die Rede sein.
Eine gute Diskothek mußte einfach „Maddox“ heißen. Fast neidisch starrten wir auf die Gogogirls, die sich in fransigen Mini-Gewändern in Käfigen (!) produzierten. (In den neuen Psychedelia-Clubs in London soll es das ja schon wieder geben.) Speziell wenn in dieser spanischen Disco, der exklusivsten am Ort, die Lichter noch schwächer wurden und eine schier endlose Kette magischer Rhythmen auf die Tanzfläche niederging. Der suggestive Reiz dieser schwulen Perkussion-Nummer verfolgte mich bis zurück nachhause. Keine Ahnung, wie die Gruppe hieß. Ich ging ins bestsortierte Plattengeschäft am Ort und verlangte nach „so ’ner Platte mit ’ner umheimlichen langen Schlagzeugpassage drin“. (Das sowas Perkussion hieß, habe ich erst später gelesen.) Und da geschah das Wunder: Der Verkäufer griff ins Regal, begleitete mich in die Kabine und ließ die Nadel direkt auf „Jingo“ niedergehen. Der Tip der Stunde hieß Santana, er hatte es wohl geahnt!
SANTANA, die Debüt-LP, war der Rohschnitt dessen, was unter dem neuen Logo „Latino Rock“ über uns hereinbrechen sollte. Vielleicht gefällt sie mir darum von allen Santana-Platten auch am besten. Natürlich war aber ABRAXAS für einen neuen Santana-Fan noch Pflicht! Fasziniert von einer neuen wilden Eleganz, die sich in der Rockmusik breitmachte, stürzten sich die Fans in der westlichen Welt auf diese zweite Santana-LP, als ahnten sie, daß von Carlos und seiner Band nichts Komplexeres mehr kommen würde.
Der unaufhaltsame Aufstieg der Band begann 1969 mit einem Zufall. Der mächtige Bill Graham brauchte für ein Konzert in seinem legendären Fillmore West einen Lückenbüßer und zwar für Paul Butterfield’s Bluesband. Der Rest ist bekannt. Der 1962 aus Mexiko Richtung Kalifornien ausgewanderte Carlos Santana, der die Gruppe 1967 in San Francisco ursprünglich als „Santana Blues Band“ formierte, sorgte für neue Begriffe. Die neuartige Instrumentierung der Band und ihr dichtes perkussives Konzept ließen plötzlich Begriffe wie „Polyrhythmen“ in den Reviews sprießen. Carlos kreierte einen Gitarrensound zwischen Feedback und breitem, melodischem Volumen; zwischen schwüler Romantik und jazziger Präzision. Tastenmann Gregg Rolie wechselte speziell auf ABRAXAS vom edlen Bar-Piano an eine nahezu psychedelische Orgel. Doch auch diese Tasten hackte er im vorgegebenen Latino-Rhythmus, um dieses Breitwandinstrument dem südamerikanischen Temperament anzupassen. Jose Areas arbeitete feinfühlig und rasant an Timbales und Conga, Mike Caraballo konzentrierte sich nur auf Congas. Dazwischen drummte ein kleines Wunderkind, Mike Shrieve. Und Baß spielte Dave Brown.
Der Titel des Albums, ABRAXAS, ist Zeugnis des allgemeinen Hermann-Hesse-Trends, der zu jener Zeit speziell die Westcoast-Kinder befallen hatte. (Ein Hinweis findet sich auf dem wie ein Märchentrip gestalteten Cover. Dort ist die entsprechende Passage aus Hesses Roman „Demian“ zitiert.) ABRAXAS enthielt Titel, die den Erfolg von Jingo“ noch bei weitem übertrafen. Peter Greens „Black Magic Woman“, im black magic sound von Santana interpretiert, geriet zum Welthit, fast schon zum Evergreen. Desgleichen das stimmungsvolle „Samba Pa Ti“, das sogar später zu einem deutschen Schlager mutierte („Mit den Augen der Liebe“) und genau wie „Oye Como Va“ inzwischen zum festen Bestandteil der angestaubten Schallarchive unserer konservativen Rundfunkanstalten wurde.
Diese Mixtur aus Latino-Temperament, gerade verendendem Underground, jazzigen Eingaben, Eleganz und Ursprünglichkeit macht ABRAXAS in meinen Augen zur vielleicht wichtigsten Veröffentlichung Santanas auch wenn mir persönlich die rauhere erste LP mehr gibt. Santanas präziser Gitarrenstil, improvisatorische Passagen und die gebremste Ekstase lassen hier noch eine interne Disziplin erkennen, die später sehr schnell verloren gehen sollte. Die Versuchung, in virtuose Selbstgefälligkeiten abzudriften, war für Carlos offenbar doch zu groß.
Als dieses zweite Santana-Album Wellen schlug, hatten die progressiven Rock-Jünger gerade wieder Abschied von einem ihrer Idole nehmen müssen: Am 4. Oktober 1970 starb die inzwischen zur Legende aufgestiegene Sängerin Janis Joplin. Vermutlich an einer Überdosis Heroin. Über sie zu reden, bedeutet heute, eine Reihe von Allgemeinplätzen aneinanderzureihen. Aber als sie mit 27 Jahren starb, hatte sie get it while you can die live fast, love hard, die young-Philosophie so exzessiv hinter sich gebracht wie sie mit ihrer Stimme umgegangen war.
I GOT DEM OL‘ KOZMIC BLUES AGAIN, MAMA erschien 1969. Mit ihrer ersten Band, Big Brother And The Holding Company, war es nach zwei LPs (BIG BROTHER AND CHEAP THRILLS) zum Bruch gekommen. Janis, durch Unmengen Whiskey und dem Überbewußtsein, der eigentliche Star der Band zu sein, schon nahezu außer Kontrolle geraten, war längst unberechenbar geworden. Also spielte sie diese LP hier mit einer Besetzung ein, die im weitesten Sinne unter Tilt Boogie firmierte.
Janis Joplin gestaltete ihre vorletzte Platte mit einem Höchstmaß an Intensität. Heute, wo jeder ihre Geschichte kennt, sind es speziell „One Good Man“ und „Cozmic Blues“, die voll ins Schwarze treffen. Sie hat sie geschrieben und breitet gerade in diesen beiden Tracks die volle Skala ihrer persönlichen Misere aus: eine Persönlichkeit, die zu jenem Zeitpunkt nur noch aus einer souveränen Stimme besteht; Wimmern und Schreien nach Liebe, Geborgenheit Sehnsucht nach einem Mann. „Kozmic Blues“ bleibt im Rückblick eines ihrer größten Lieder – auch im Verein mit Highlights wie „Move Over“, „Me And Bobbie McGhee“ oder „Take Another Little Bit Of My Heart“. Wie eine sanfte Ballade beginnt es leise allein mit Piano und endet in einem Inferno. Janis Joplin singt, zetert, leidet nicht nur gegen ihre Band, sondern auch gegen den vollen Bläserchor an. Diese LP besitzt mindestens so viel Soul wie Blues. Leider ist sie stellenweise überinstrumentiert. Janis Joplin hatte längst alle Schranken und Bezugspunkte überwunden. PEARL, ihr letztes Album, war schon ein Vermächtnis. Sie starb, bevor es fertig war.
Inzwischen verdichtete sich die sogenannte „Westcoast-Szene“ zu einem Markenartikel, der bis Mitte der 70er Jahre – wie alle Trends – professionell verramscht werden sollte. Nach und nach richtete sich der Blick jetzt in den Osten der USA. Und dort wollte jemand sogar die neue „Zukunft des Rock’n’Roll“ gesehen haben, endlich einen neuen Dylan (blablabla…). Ein Straßenjunge aus New Jersey war’s, mit unverbrauchtem Charisma. Seine bildreiche Asphaltlyrik lebte durch einen realistischen Clubsound und schien geradezu prädestiniert, den weltfremd gewordenen Westcoast-Klängen etwas Handfestes entgegenzusetzen. Sein Name: Bruce Springsteen.
Als man ihn 1976 an zwei Abenden hintereinander im Londoner Hammersmith Odeon vor ein großes Publikum zerrte (darunter Medienleute aus ganz Europa), zeichnete sich sein erster Karriere-Knick unweigerlich ab. Vor der professionellen Pose seiner E Street Band schien er sich jeden einzelnen Ton seiner älteren Balladen unter Schmerzen aus der Seele zu reißen, während er das Repertoire seiner damals aktuellen LP BORN TO RUN schon in allgemeinverbindlicherer Rock’n’Roll-Manier präsentierte. Fünf Jahre später – eine kreative Pause eingeschlossen – gilt er als einer der souveränsten Entertainer der Rockszene. Das tragische Flair seiner Balladen erreicht sein (Massen-) Publikum heute in weltmännischer Verpackung.
Dabei gab es ursprünglich nichts, was Springsteen mehr scheute als die Massen. Wie ein scheuer Hund, dem man plötzlich am Umherstreunen hinderte, reagierte auch Springsteen auf die Veränderung seiner kreativen Ausgangsbasis. Ohne die Crazy Janeys, die Wild Billies und go-cart Mozarts, die seiner ersten LP. GREETINGS FROM ASHBURY PARK, NJ, (1973) eine zum Teil unvergleichliche Atmosphäre verschafften.
Als Manfred Mann mit seiner Earthband „Spirit In The Night“ und später „Blinded By The Night“ eriolgsträchtig interpretierte, wußten hierzulande nur wenige Eingeweihte, daß diese beiden Balladen zu den bisherigen Sternstunden eines neuen Rock-Poeten aus Amerika gehörten. Vielleicht hatte seit Dylan wirklich lange niemand so bildhaft getextet, niemand so viel Schmerz investiert. Als GREETINGS … ’73 erschien, mag die Versuchung derartiger Vergleiche groß gewesen sein. Vielleicht lag es auch daran, daß Springsteen seine traurig funkelnde Backstreet-Welt hier und da nur mit Gitarre und Mundharmonika vertonte. Übrigens wirkte bei diesem ersten Album bereits der Saxophonist Clarence Clemmons mit, nach wie vor Mitglied der renommierten E Street Band. Hier sorgte er für ein aufregendes Intro von „Spirit In The Night“.
Springsteens Impressionen ergießen sich bei diesem Debüt-Album nicht selten wie schwer versiegende Wasserfälle. Auf endlose Trips betäubender Action folgen quälende Phasen des Leidens an den Perspektiven. Heute, immerhin schon acht Jahre nach Erscheinen dieser Platte und fünf Jahre nachdem ich sie zum erstenmal hörte, ruft GREETINGS … bei mir zum überwiegenden Teil noch immer eine Faszination für diese fast unerschöpfliche, lebendige Poesie hervor. Trotzdem fühle ich mich erschlagen, als hätte ich einen Wälzer „Balladen“ verdaut. Springsteens Epen über zwei volle LP-Seiten Zeile für Zeile zu verfolgen, seiner Atemlosigkeit und seinem Gefühlspotential I ausgesetzt zu sein, kostet Kraft. Wer kann an einem einzigen Tag schon mehrere CinemaScope-Filme verdauen?
Gabriele Meierding
In Search OF The Lost Chord -Auf der Suche nach dem verlorenen Gleichklang, als die Träume noch keine Schäume waren und das Leben noch was hergab. Kaum eine andere Band vermag heute soviel Nostalgie und Wehmut ans Tageslicht zu holen wie Moody Blues. Ist da irgendjemand aus den Jahrgängen 48 bis 55, der zu „Nights In White Satin“ kein Mädchen, keinen Jungen geküßt hat? Gibt es irgendeine Schülerfete in den spätsechziger Jahren, bei der nicht die Moody Blues zu vorgerückter Stunde auf den Plattenspieler gelegt wurden? Trotz Cream und Stones und Hendrix und Otis Redding? Die Moodies waren, so ihr Schlagzeuger Graeme Edge, „jedermanns vierter Favorit“, sie waren immer präsent.
Ursprünglich waren die Moodies aus dem britischen Birmingham eine zum Rhythm & Blues hin orientierte Band – unschwer herauszuhören aus ihrem ersten Top-Hit „Go Now!“ aus dem Jahre 1965. Als ein Jahr später Justin Hayward den Sänger und Gitarristen Denny Laine (wir treffen ihn bei Wings wieder) ersetzte, war – so will es die Band-Legende – ein Kurswechsel fällig: Hayward schaffte es nicht, bei Konzerten den spezifischen Denny Laine-Gesang der Paradenummer „Go Now!“ zu reproduzieren.
Die Moody Blues sprangen über ihren Schatten und schufen – inspiriert natürlich durch die gewaltige kulturelle Aufbruchstimmung jener Jahre – ein Konzeptalbum, auf dem die Gruppe sowie ein komplettes Sinfonieorchester parallel sieben episch breite Eigenkompositionen interpretieren, darunter den Evergreen und mehrfach erfolgreich wiederveröffentlichten Welthit „Nights In White Satin“. Die Moody Blues legten mit DAYS OF FUTURE PASSED den Grundstein für den Klassik-Rock.
IN SEARCH OF THE LOST CHORD war die LP, mit der die Moody Blues ihr fortan typisches musikalisches Konzept erstmals umfassend in Szene setzten. Um das mild schäumende Klangmeer des von Justin Hayward und Mike Pinder gespielten Mellotrons rankten sie voluminösen Chorgesang, dramaturgische Erzählkunst („Departure“), hin und wieder aber auch einen kräftigen Schuß erdverbundener Rock-Dynamik („Ride My See-Saw“). Sie schrieben schöne Songs („Voices In The Sky“) und unsäglich seichte Balladen („House Of Four Doors“). Und sie leisteten sich – in ihren Texten – einen Überbau religiös-mystischer Botschaften, eine von der Hippie-Bewegung inspirierte Mischung von Esoterik und Science-Fiction, in der sich Gott, Stanley Kubrick und Neil Amstrong (der erste Mann auf dem Mond) trafen. Die Evolution des Menschen zu einem friedlichen, geistvollen, all-umfassenden Wesen, die Rückkehr zum Licht, zu den Pforten des Paradieses, wurde ihr Thema, das konsequent bis zum schaurigschönen LP-Cover umgesetzt wurde.
1968 jedenfalls war diese Art von Rock aufregend und Seelenbalsam zugleich, und der nunmehr lawinenartig anschwellende Erfolg seiner Schöpfer zeigt, daß er genau zum passenden Zeitpunkt in die Welt gesetzt wurde. „Scheinbar“, resümiert der Rockkritiker Werner Zeppenfeld, „rührte und rührt die Moody-Musik an einen kollektiven Publikumsnerv, der im Schnittpunkt von Melancholie und Mystizismus zu schwingen beginnt. Sie ist dazu gemacht, tagträumerische Sehnsüchte nach innerer Harmonie und Geborgenheit mit dem grandiosen Wohlklang von ‚Visionen des Paradieses (Songtitel) zu übertönen.“
Als BEGGARS BANQUET 1968 auf den Markt kam, waren die großen Schlachten schon geschlagen, der Stellungskrieg speziell zwischen den Fans der Beatles und der Stones beigelegt (nur in der albernen Sendung „Battle Of The Giants“ im englischen Programm von Radio Luxemburg wurden die Sandkastenkämpfe auch weiterhin per Fanclub-Karte ausgefochten). Rockmusik war mittlerweile nicht mehr nur aufregend, sondern auch ernsthaft geworden, und angesichts der immer exotischer werdenden Musikstile, die von Rockkomponisten verarbeitet wurden, gab es genug Platz für die Beatles und die Rolling Stones, die intellektuellen Virtuosen mit Hang zur schmutzigen Straßenmusik und die schmutzigen Straßenvirtuosen mit Hang zum Intellektuellen.
Allerdings waren es die Rolling Stones selbst gewesen, die diesen im Verlauf eines halben Jahrzehnts gewachsenen Rockorganismus vorübergehend aui den Kopf gestellt hatten‘ Als Antwort auf das Meisterwerk SGT. PEPPERS LONELEY HEARTS CLUB BAND veröffentlichten sie THEIR SATANIC MAJESTIES REQUEST, ein ziemlich mißglückter Versuch, sich in der Welt der headtrips, der Psychedelia und Psychopharmaka zurechtzufinden.
Aber sie machten diese Scharte wett, schafften ein grandioses Comeback, produzierten mit BEGGARS BANQUET und gleich anschließend mit LET IT BLEED die besten Alben ihrer langen Karriere. BEGGARS BANQUET markierte nicht nur die simple Rückkehr zu den Wurzeln, zum Rhythm & Blues, BEGGARS BANQUET entpuppte sich auch als brillantes Spiel mit vielenSchattierungen der großen Blues-Palette, war sinnliche roots-Musik mit intellektuellem Überbau, war endlich die perfekte Synthese von Keith „The Riff“ Richards und dem Derwisch Mick Jagger. Ich gebe zu, daß ich dieses Album damals zwar hörte und akzeptierte, ansonsten aber nicht viel damit anfangen konnte. Ich hatte gerade Pink Floyd entdeckt und den Blues auf die Reservebank geschoben. Daß ich Jahre später BEGGARS BANQUET als Meilenstein der Rockmusik ausgraben konnte, unterstreicht jedoch den klassichen Charakter dieses Albums.
Klassisch sieht sie in der Tat aus, diese Langspielplatte. Ein schlichtes fast leeres Cover mit Goldrand, nur illustriert durch eine elegant geschwungene Schrift. Die Ähnlichkeit zum Cover des im gleichen Jahr veröffentlichten weißen Doppelalbums der Beatles ist unübersehbar. Welche Ironie der Geschichte, daß eben diese Hülle den Stones von ihrer Plattenfirma aufgezwungen der ursprüngliche Entwurf, eine Toilettenwand voll obszöner Sprüche, dagegen als anstößig und unverkäuflich abgetan wurde. Um all den Kritikern an THEIR SATAN1C MAJESTIES REQUEST ins Gesicht zu schlagen, aber natürlich auch, um sich selbst zu rehabilitieren, hatten die Stones tiefer im Schmutz gewühlt als je zuvor. Der „Stray Cats Blues“ war Wasser auf die Mühlen der emanzipatorischen Frauenbewegungen, die den Sexismus Jaggers in zunehmendem Maße brandmarkten. Die Sympathie für den Teufel („Sympathy lor the Devil“
eröffnet programmatisch die Platte) fiel so stark aus, daß die negativen Kräfte dieses Planeten sich bemüßigt fühlten, zu antworten: Die Stones spielten diesen Song auf demFestival im amerikanischen Altamont, als die Hell’s Angels auf der Bühne einenZuschauer niedermetzelten. Der Zwischenfall von Altamont zerstörte den Mythos von Woodstock und machte auch den blauäugigsten Optimisten klar, daß der alternative Traum von Frieden und Freiheit zwar Teilhaber, aber nicht Alleinherrscher in der Rockszene war.
BEGGARS BANQUET markiert also in mehrfacher Hinsicht eine Wende – in der Geschichte der Stones, die sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zogen, was ihnen später noch zwei weitere Male gelingen sollte (mit ITS ONLY ROCK’N’ROLL nach GOATS HEAD SOUP mit der Live-LP und nach BLACK AND BLUE); in der Geschichte der Rockmusik insgesamt, die mit dieserGruppe exemplarisch die Regenerationskraft der roots demonstrierte; im ideellen Überbau dieser Musik,‘ für den mit der flower power doch noch nicht die Endzeit angebrochen war. Der Streit, ob .Street Fighting Man“ nun der definitive Song für den Straßenkampf war oder aber die definitive Parodie eines solchen Songs, wirkt demgegenüber reichlich banal; it’s only rock’n ‚roll, but I like it, hat Mick Jagger später gesungen und hoffentlich dabei bedacht, daß es eben doch nicht nur rock’n’roll ist.
Ich hab‘ Hardrock und Heavy Metal nie gemocht, aber wenn ich kopfschüttelnd und fassungslos am Rande eines Konzertes von Uriah Heep, Rush oder Motörhead stand, dann mochten mich die Headbangers wohl auch nicht. Welche Barbarei, von diesen Bands eine Platte zu kaufen, wenn es für das gleiche Geld auch Musik von Keith Jarrett, den Rolling Stones oder Kate Bush gibt! Ich bin über harte, schnelle Rocknummern gestolpert, die mir sehr gut gefallen haben: „Tough Guys“ von REO Speedwagon, „Katmandu“ von Bob Seger— das ist Kraft, Größe, Schnelligkeit von Leuten, die ihr Handwerk und ihre Inspiration verstehen. Aber aus dem ewig gleichen Boogie-Riff, den ewig gleich jaulenden und dröhnenden Gitarren, den ewig gleich rammelnden Drums eine ganze Musikrichtung machen? Keine Frage, das Phänomen existiert. Obwohl das ganze Genre seit „Whole Lotta Love“ von Led Zeppelin (1969) nichts Neues mehr hervorgebracht hat, regierte HM in den vergangenen zwei Jahren zwar nicht gleich die Welt, aber doch einen beträchtlichen Teil der Musikszene, vor allem in England und Deutschland.
Die Stunde des Dampframmen-Rocks schlug, als sich eine Generation ihre Musik suchte, der unsere Leistungs-und Techno-Zivilisation auch den letzten Rest Sensibilität aus der Haut gedrückt hatte. Entsprechend funktioniert die HM-Kultur auf zwischenmenschlicher Basis: Man säuft zusammen, ergeht sich in den feuchten chauvinistischen Träumen, die die HM -Rocker auf der Bühne aus ihren Gibson-Gitarren rauslassen, schüttelt zum dumpfen Rhythmus den Kopf bis zur Besinnungslosigkeit.
Was das alles mit Ufo zu tun hat? Nun, angesichts der Hitparaden-Erfolge von Truppen wie Iron Maiden oder Motörhead klingt der Hardrock, den UFO zeitweise in der Besetzung mit Michael Schenker gespielt hat, geradezu wie eine Rock’n’Roll-Offenbarung. Da war wenigstens ein Gitarrist, der sein Handwerk gelernt hatte und in lichten Momenten auch Lautstärke nicht mit Musik verwechselte. Inmitten von vergeblichen Ufo-Versuchen, mit anderen Rock-Spielarten zu hantieren, produzierte diese Gruppe daher zumindest ein paar Hardcore-Nummern, vor denen man nicht davonlaufen muß, zu denen man sich sogar bekennen kann als zeitgenössisch relevanter Musik.
Als UFO im Jahre 1970 erschien, gab es davon indes nur einen Keim: ein Stück mit dem Titel „Boogie“, von vier Engländern im Alter zwischen 18 und 20 Jahren in die Welt gesetzt. In jenem Jahr, als Santana ABRAXAS veröffentlichten, die Pink Floyd-LP UMMAGUMMA schon einige Monate alt war, legendäre Debütalben von Bands wie Led Zeppelin, Chicago oder Crosby Sülls & Nash gerade erschienen waren, trauten sich diese vier Engländer mit einer Platte ans Licht, die sich heute anhört wie der Gehversuch einer dilettierenden Schülerband. Mit anderen Worten: nicht unbedingt ein Meilenstein der Rockgeschichte, aber für HM-vertraute Ohren zumindest ein interessantes Zeitdokument.
Hermann Haring
Wenn ich mich nicht irre, war’s im Spätsommer 1969 – im Kölner Nobel-Konzertsaal Gürzenich. Da trat John Mayal, zu unser anfänglichen Enttäuschung, mit einer akustischen Band ohne Lead-Gitarre und Schlagzeug aui. Zwei Stunden später allerdings waren wir aus dem Häuschen und nicht zuletzt angetan von der Art, wie der alte Fuchs einerseits unsere Erwartungen ignoriert, uns zugleich aber mit elektrisierenden Klängen doch wieder eingefangen hatte. Die entsprechende Platte, TURNING POINT, haben wir uns jedenfalls umgehend besorgt.
Nun muß man aber einräumen, daß unsere hochgeschraubten Erwartungen keineswegs aus dem leeren Raum kamen: Nachdem uns Mayall’s Album BARE WIRES mit seinen Bläsern schon als definitive weiße BluesPlatte erschienen war, hatte uns 1969 der BLUES FROM LAUREL CANYON erst recht überzeugt – im Prinzip wiederum mit einem Schwenk entgegen unserer vorfreudigen Erwartung. Wo vorher Bläser wie Dick Heckstal]-Smith weite Bögen und flinke Soli spielten, mußte nun auf LAUREL CANYON ein gerade 19jähriger Gitarrist – auf den wir allerdings bei BARE WIRES zu wenig geachtet hatten – die Lücken füllen: Mick Taylor, der später bei den Rolling Stones ein wenig unter die Räder kommen sollte…
BLUES FROM LAUREL CANYON beinhaltete grundsätzlich alle Aspekte, die Mayall-Alben der sechziger Jahre auszeichneten. Der 1933 geborene John Mayall, einst Protege des noch älteren Alexis Korner, war zwar vom Blues besessen, verfügte aber selbst nur über unzureichende (stimmliche) Mittel, denselben adäquat auszudrücken. Klugerweise umgab sich Mayall daher im Lauf der Jahre mit Heerscharen junger Talente, die als unbeschriebene Blätter zu ihm kamen und ihn hernach als bekannte Größen verließen – wodurch Mayalls Reputation wiederum mitwuchs.
Man braucht nicht einmal die Namen Eric Clapton, Peter Green, Jack Brucejohn McVie oder Jon Hiseman ins Spiel zu bringen, (was ohnehin nur ein Bruchteil wäre), um Mayalls Einfluß auf die englische Musikszene der späten Sechziger zu beleuchten. Die LAUREL-CANYON-Besetzung reicht. Da wäre etwa der damals 30jährige Schlagzeuger Colin Allen, der später noch bei Maggie Bell’s Stone The Crows und der holländischen Formation Focus auftauchte und hier ebenso einfach wie effektvoll spielte wie auch Bassist Steve Thompson, damals gerade 18 Jahre alt. Doch Mick Taylor überragte sie alle: Ein hörbar unverbrauchter, elanvoller Gitarrist, der es nie auf schnelle Notenfolgen, dafür mehr auf in sich stimmige Soli anlegte. Keine Instrumentalartistik, dafür Einfühlungsvermögen und eine gute Portion Gefühl für melodische Soli. Speziell im neunminütigen „Fly Tomorrow“ spielte sich Taylor die Seele wund.
Schließlich aber darf John Mayalls Anteil an LAUREL CANYON nicht unter den Tisch fallen: Daß der mäßige Sänger und Instrumentalist seine Schwächen kannte und daher nie strapazierte, war ebenso sein Verdienst wie die Tatsache, daß er fast immer mit gelungenen Kompositionen aufwartete: Was LAUREL CANYON an der häufig zitierten ‚Authentizität des Blues‘ fehlte, machte Mayall wett durch seine Texte (die einen dreiwöchigen Urlaub in seiner späteren Wahlheimat Los Angeles reflektierten), wozu er stets die musikalisch passende Atmosphäre schuf. Und zwar auch hierbei mit Selbstbeschränkung, was den Einsatz von Rhythmusgitarre, Mundharmonika oder Orgel betraf: Nie verkrampft auf akrobatische Soli hinaus, sondern stets dem Suiten-ähnlichen Charakter der Platte angemessen. BLUES FROM LAUREL CANYON stellt den Höhepunkt von John Mayall’s Wirken der sechziger Jahre dar.
Gleiches darf man uneingeschränkt auch von Ten Years After und UNDEAD behaupten – neben
STONEDHENGE das definitive Album von Alvin Lee (g), Ric Lee (dr), Leo Lyons (bg) und Chick Churchill (keys). Die im Londoner ‚Klooks Kleek‘ (wo John Mayall sinnigerweise auch seine erste Live-LP aufgenommen hatte) im Jahre 1968 eingespielte Platte zeigte das enorme Spektrum, mit dem die junge und bis zum LP-Debüt TEN YEÄRS AFTER völlig unbekannte Band aufwartete: Songs wie „Spider In Your Web* trugen dazu bei, TYA in den Trend des seinerzeit aktuellen Blues-Revivals einzuordnen. Doch damit wurde man Alvin Lee & Co. nicht gerecht. Vielleicht gerade weil TYA nichts mit den inzestuösen Verwandtschaften innerhalb der britischen Blues-Szene gemein hatten, konnten sie auch relativ weit vom Purismus eines Alexis Korner und John Mayall wegdriften. Denn neben reinstem Blues boten TYA ansatzweise Jazz in Songs wie „Woodchopper’s Ball“, Boogie in „I May Be Wrong But I Won’t Be Wrong Always“ und – längst legendär – so etwas wie Boogie-Rock in J’m Going Home“.
Leider schien aber ein Großteil des Publikums mit der stilistischen Bandbreite der Band nicht ganz klar zu kommen. Daneben wirkte sich allerdings auch das Unvermögen der Band aus, einmal beschrittene Wege zu verlassen. Von all den damals revolutionären Ideen blieb den Meisten schließlich nur noch „I’m Going Home“ im Gedächtnis. Und nachdem dieser Song einer der Höhepunkte des Woodstock-Films, der Höhepunkt auf jeder der achtundzwanzig (!!) TYA-Tourneen durch die USA innerhalb von acht Jahren geworden war, wollte niemand mehr etwas von feinem Gitarren-Jazz oder -Boogie wissen. Man blickte nur noch gebannt auf Alvin, jnd fragte sich, wieviele Noten er denn heute pro Zeiteinheit schaffen würde. Und so erwies sich denn Ten Years Afters UNDEAD, ähnlich wie John Mayall’s LAUREL CANYON, zwar als Spitzenleistung einer Band doch im Falle TYA zugleich als Zeitbombe und Bumerang. Trotz mehrfacher und teils wirklich ansprechender Versuche, von „I’m Going Home“ loszukommen, ist Alvin Lee bis heute nicht zu Hause angekommen.
Überraschende Parallelen weist das Kapitel Jeff Beck auf. Der ehemalige Ersatzmann für Eric Clapton bei den Yardbirds (Clapton wechselte zu John Mayall!), der 1968 mit TRUTH eine überwältigende Heavy-LP abgeliefert hatte, labonerte viele Jahre an den ständigen Zusammenbrüchen diverser Jeff Beck Groups. Unter diesem Stern wirkte BLOW BY BLOW 1975 nicht nur als Beck-Comeback, sondern sogar als eines der wenigen Beck-Werke, in dem des Gitarristen exquisites Spiels in gutem Songmaterial zum Tragen kam. Oft genug nämlich mangelte es dem möglicherweise technisch besten Rockgitarristen an zündenden Kompositionsideen.
Stilistisch konterte BLOW BY BLOW die damalige Philly-Soul-Welle, indem es unerwartet intensiv Funk und weißen Soul verarbeitete, ohne daß Beck seine Rock-Basis dabei verließ. Songs wie „She’s A Woman“ von den Beatles, „Cause We’ve Ended As Lovers“ und „Thelonius“ von Stevie Wonder bewiesen, wie geschmackssicher Beck gelegentlich Fremdmaterial aussuchen konnte. Mit dem Pianisten Max Middleton schrieb Beck sogar die beiden stärksten Songs des Albums: „You Know What I Mean“ und den späteren Höhepunkt der raren Beck-Live-Konzerte, „Freeway Jam“. Schade nur, daß man bei Jeff Beck anscheinend stets Jahre warten muß, bis zwischen zwar immer technisch brillanten LPs dann eine erscheint, die auch musikalisch überzeugt. TRUTH kam 1968, BLOW BY BLOW 1975, also wäre es 1982 wieder soweit…
Mit Johnny Winter schließlich kommen wir zu einem Mann, der, sieht man von seiner desolaten Gesundheit ab, momentan musikalisch frischer wirkt als Alvin Lee, John Mayall und sogar Jeff Beck. Stilistisch hat sich bei Winter seit seiner Entdeckung 1969 eigentlich bis heute nichts geändert: Nach wie vor wieselt er durch Blues, Rock’n’Roll und Rock, ohne daß ihn je ein Modetrend von seinem Weg abgebracht hätte. Daher ist JOHNNY WINTER AND LIVE praktisch ein modernes Winter-Album geblieben, mit nie altmodisch werdenden Klassikern wie Jumpin‘ Jack Flash“, Johnny B.Goode“, »Good Morning Little Schoolgirl“ oder einem Rock’n’Roll-Medley a la „Great Balls Of Fire/Long Tall Sally/Whole LottaShakin‘ Goin‘ On“.Die überzeugende Live-Atmosphäre der Platte ging zu einem Gutteil auf das Konto der drei, die sich hinter der Bezeichnung Johnny Winter And verbargen: die Ex-McCoys Randy Jo Hobbs (b) und Rick Derringer (g) sowie Bobby Caldwell (dr). Doch ebenso wundervoll klangen Winters Heulgesang und sein eher langsames, aber immer gefühlvolles Gitarrenspiel. Hoffentlich bleibt uns Winter noch lange erhalten …