ME hat gewählt: Das sind unsere Alben des Jahres 2023
50 Alben, die uns begeistert haben – mit Platten von Boygenius, Mitski und Lana Del Rey.
20. Bar Italia – TRACEY DENIM
Während andere Künstler:innen ihr Schaffen fleißig per Social Media dokumentieren und promoten, übt sich das Londoner Trio Bar Italia in digitaler Zurückhaltung. Sie posten nur wenige, dafür umso kryptischer Posts auf Instagram, auch Interviews geben sie selten. Ihre ersten zwei Alben veröffentlichten Nina Cristante, Sam Fenton und Jezmi Fehmi auf dem Label World Music des Experimentalkünstlers Dean Blunt. Das im Mai erschienene dritte Album Tracey Denim erschien erstmals bei Matador Records. Darauf führt das Trio seine eigenwilligen, teils spleenigen Mix aus Post-Punk, Britpop, Shoegaze, Grunge und weiteren Einflüssen fort. Die Band ist nicht nur innovativ, sondern auch hochproduktiv. Im November erschien mit The Twits ihr zweites Album innerhalb eines Jahres. – Louisa Zimmer
19. Kelela – RAVEN
RAVEN zeigt, wie experimentell R‘n‘B sein kann. Trotzdem wäre es zu leicht, die Platte auf ein Genre zu begrenzen. Es ist eher ein Mix aus Drum’n’Bass, Garage und Baltimore Club, die durch Kelelas Stimme Harmonie finden. Die 40-Jährige zelebriert die queere Leidenschaft Schwarzer Frauen und unterstreicht dies mit einer Abwechslung von sinnlichen Balladen und pulsierenden Beats. Gegensätze, die sich wie in „Contact“, einem Track über den Rausch der Lust, zu ergänzen scheinen: Eine zarte Melodie, die durch verzerrte Synthies aufgerissen wird. Dieser Intensität kann und möchte man nicht entkommen. – Christin Rodrigues
18. Laurel Halo – ATLAS
Vielleicht lag es an einer gewissen Corporate-Pop-Müdigkeit, dass das vierte Album von Laurel Halo außerhalb der üblichen Zirkel so wohlwollend aufgenommen wurde. Die 38-jährige Klangkünstlerin, die mittlerweile in Los Angeles lebt, hat sich von der Club-Musik-Dekonstrukteurin zu einer Künstlerin entwickelt, die in der Grauzone zwischen Ambient und zeitgenössischer Komposition arbeitet. ATLAS ist ein konstanter, aber sich stetig verändernder Fluss aus Sounds, bei dem sich elektronische Texturen mit „echten“ Instrumenten verbinden: Klavier, Gitarre, Vibraphon, Streicher, Saxophon. Meisterhaftes Genre-Bending. – Albert Koch
17. Caroline Polacheck – DESIRE, I WANT TO TURN INTO YOU
Ob Indie-Nerds, Musikkritiker:innen, TikTok-Kids oder Avantgardist:innen: Auf den Namen Caroline Polachek können sich alle einigen. Immerhin bediente die 38jährige New Yorkerin seit ihrem Karrierebeginn Anfang der 2000er Jahre sämtliche Stilrichtungen. Nachdem das Album „Pang“ den Liebeskummer nach ihrer ersten Scheidung thematisierte, widmet sie sich auf Desire, I Want To Turn Into You den verschiedenen Zuständen des Verlangens und Verliebtseins. Mit Polacheks schwindelerregendem Gesang und ihrem teils sinnbefreiten Songwriting klingt das sexy, durchgeknallt, witzig und immer zukunftsweisend. Kein Wunder, dass Desire… sowohl von der internationalen Musikpresse, als auch der digitalen Fancommunity frenetisch aufgenommen wurde. – Louisa Zimmer
16. Oneothrix Point Never – AGAIN
Zuletzt war Daniel Lopatin The Weeknd und Soccer Mommy zu Diensten, auf seinem zehnten Studioalbum kehrt er zu sich selbst zurück – mit Konzept: Der 41-Jährige tritt in Dialog mit seinem jüngeren Teenage-Selbst, schickt dessen Vorlieben für Shoegaze und Post-Rock auf die Avantgarde-Achterbahn. Dabei entstand ein Album der, natürlich, Extreme: Zugänglicher Kammerpop wie „Elseware“ trifft auf haarsträubenden Loop-Wahnsinn wie „World Outside“, einen Schlüsseltrack. Denn immer wieder entflieht er hier dieser hektischen Außenwelt, schöpft in ruhigen Seitenstraßen Kraft für den Weg zurück in sein Jugendzimmer. – Stephan Rehm Rozanes
15. Tristan Brusch – AM WAHN
Die allermeisten Popsongs von Wert wurden geschrieben, weil jede Liebe enden muss. Dem ist sich der Liedermacher gewahr: Ein letztes Mal schmachten seine Protagonisten auf dem Sterbebett, aus Eifersucht stechen sie Messer in Herzen. Wie ein „kurz-vorm-Aufprall-fallendes Klavier“ wird hier geliebt – und dann zerbrochen. Mit großer Geste schwingen die Streicher folgerichtig ihre Bögen: In den Pfaden von französischen Chansonniers wie Jacques Brel oder Serge Gainsbourg hat Brusch sein bis hierhin bestes Album veröffentlicht. – Martin Schüler
14. Speakers Corner Quartet – FURTHER OUT THAN THE EDGE
Mit diesem Debüt der House-Band der Londoner „Speakers Corner“-Nächte hatte nun niemand gerechnet, vor allem, weil die vier Musiker schon knapp 20 Jahre Zeit hatten, mit solch einem Soul-Jazz-HipHop-Hybriden aufzuschlagen. Die erste Platte als Lebenswerk also, das funktioniert auch deshalb so gut, weil die Band ihr weites Netzwerk erzählen und inspiriert singen lässt (von Kate Tempest bis Coby Sey). Der Minimal-R&B-Track „Fix“ lebt von der Stimme von Tirzah und der Lust an der Stille. Besser hat das keiner 2023 hingelegt. Der Rest ist ein Cut-up-Meisterwerk featuring Cello und Flöte. – Frank Sawatzki
13. Foo Fighters – BUT HERE WE ARE
Rund ein Jahr nach dem Tod ihres Drummers Taylor Hawkins brachten die Foo Fighters, deren Frontsympath Dave Grohl außerdem seine Mutter und 28 Jahre früher mit Kurt Cobain schon einmal ein Bandmitglied und einen Freund verlor, eine gehörige Standortbestimmung heraus. BUT HERE WE ARE umfasst Drumming von Grohl selbst, Gesang von Tochter Violet, Dreampop, einen epischen Zehnminüter, Riffs und Refrains, die an ihre Hochzeiten in den späten Neunzigern erinnern, ohne gestrig oder abgedroschen zu klingen, ist stärker als seine drei Vorgänger und beweist: Auch ohne ihr zweites grinsendes Gesicht bleiben die Foo Fighters die größte Alternative-Arena-Rockband der Welt und ewige Festivalheadliner. Zu Recht. – Fabian Soethof
12. PJ Harvey – I INSIDE THE OLD YEAR DYING
Sie erschöpften sich nicht darin, aber die letzten beiden Werke der britischen Singer/Songwriterin funktionierten auch als politische, gesellschaftliche Bestandsaufnahmen. Ihr zehntes Album ist radikal anders. Zu dunklen, hypnotischen Grooves singt Harvey mit hoher Stimme und im Dialekt ihrer frühen Heimat Dorset einlullende und zugleich aufreibende Geister- und Traumlieder, die von Waldgeistern, Engeln und Elvis bevölkert sind. Es gibt uralten Folk, Blues, Elektronik. Und zwischen krachenden, schleifenden Geräuschen und verfremdeten Feldaufnahmen manifestieren sich unwirklich schöne Melodien. – David Numberger
11. Sleaford Mods – UK GRIM
Bei den Mods werden ja Anzahl und Qualität der verbalen Spuck-Attacken von Album zu Album beobachtet, und wir können Entwarnung geben, es gibt kein Nachlassen auf UK GRIM. Notiert werden sollte diesmal aber vor allem: Die neuen Tracks ruckeln mehr als zuvor im Minimal-Beat-Style („Smash Each Other Up“, „Dlwhy“, „I Claudius“), sie brutzeln im HipHop-Feuer und Andrew Fearn kann auch Downtempo. Florence Shaw von Dry Cleaning lässt an Jasons Williamsons Seite auf “Force 10 From Navarone” die Waffen buchstäblich sprechen, mit einer tieferen Stimme als der Mods-Kollege. Modell für die Mods Twentyfive. – Frank Sawatzki