ME-Jahresrückblick 2020: Die 50 besten Alben des Jahres
Der Jahreswechsel naht und damit wird es mal wieder Zeit, die besten Alben zu küren. Welche 50 Platten uns 2020 besonders begeistert haben, seht Ihr hier.
02. HAIM – WOMEN IN MUSIC PT. III
Vertigo Berlin / Universal (VÖ: 26.6.)
In was für einem schrägen Film sind wir unterwegs, wenn ein Journalist vom Musikmagazin die Bassistin fragt, ob sie im Bett etwa dieselben Gesichtsausdrücke machen würde so wie auf der Bühne? Im schrägen Film namens Realität. Machoblödelei gibt’s da für umme. Bassistin Este Haim singt in „Man From The Magazine“ davon, begleitet von ihrer Schwester Danielle Haim auf der Gitarre. Zusammen mit Alana Haim sind die drei Schwestern HAIM. Kaum ein Album war 2020 mit so viel Spannung erwartet worden wie ihr drittes: WOMEN IN MUSIC PT. III. Und es hat diese Erwartungen sogar noch haushoch übertroffen. Trotzdem hatte der Verkäufer im Musikalienladen, so erfahren wir in besagtem Song „Man From The Magazine“, Danielle erst mal eine Anfänger-Gitarre in die Hand gedrückt – und sie aufgefordert, paar Takte probezuspielen. Danielle kontert: „Man from the music shop, I drove too far. For you to hand me that starter guitar. ,Hey girl, why don’t you play a few bars?‘ Oh, what’s left to prove?“ Ja, als ob sie noch was zu beweisen hätten! Aber dem Typ war vielleicht nicht klar, wie das so ist, die Fotze zu sein, „to be the cunt“. Touché!
Allerdings ist WOMEN IN MUSIC PT. III trotz solcher Mikro-Lektionen in Sachen Feminismus keineswegs verbittert, sondern voller Lässigkeit, schon von Anfang an im Opener „Los Angeles“ über ihre Heimatstadt, wenn ein Bariton-Saxofon intro-rifft, bevor sich Percussion dazugesellt, nebst groovy Melodiegitarre, Bar-Geplauder, warmen Orgelpunkten, überraschenden Bläser-Einwürfen und schwungvollem Piano-Lauf. Und dann diese heilige Dreieinigkeit der Schwesternstimmen, wow! „Los Angeles“ hat das Zeug zum instant classic und macht sofort unmissverständlich klar: im Zweifel lieber kein Einfall zu wenig, sondern lieber einer zu viel, so wie einst bei Vampire Weekend, aus deren Umfeld die beiden Produzenten Rostam Batmanglij und Ariel Rechtshaid ja stammen.
Die Schwestern sprengen die Grenzen davon, was als Rock-Album zu gelten hat: Sie haben offenkundig ihre Freude an 70s-Yachtrock, der kalifornischen Spielart von Disco; aber auch an hymnischem Gitarren-Folk, karibischer Reggae-Percussion, urbanen HipHop-Samples und auch an dancy Girlgroup-Electro-Pop. Die große Kunst der drei Schwestern, die sicher auch nahtlos einander die Sätze der je anderen zu Ende sprechen könnten, besteht darin, dass all dies aus einem Guss daherkommt, ohne die Sterilität allzu glatter Oberflächen, wie man sie sonst im Sunshine-Rock oft findet. HAIMs Klangkörper lässt Platz zum Atmen und für Noise, der Spaß bringt. Die Stimmung ist zwar Sonnenschein an der US-Westküste, aber, mit den Sujets Einsamkeit, Todesangst und Isolation, eher in den Stunden einer partiellen Sonnenfinsternis – wenn es zwar nicht richtig düster wird, aber das Licht in seinen Grenzregionen am Rande des Mondschattens doch magisch orange und umso intensiver aufscheint. Stefan Hochgesand