ME-Jahresrückblick 2020: Die 50 besten Alben des Jahres
Der Jahreswechsel naht und damit wird es mal wieder Zeit, die besten Alben zu küren. Welche 50 Platten uns 2020 besonders begeistert haben, seht Ihr hier.
10. SUFJAN STEVENS – THE ASCENSION
Asthmatic Kitty / Cargo (VÖ: 25.9.)
Klanglich liefert Sufjan Stevens den ganz großen Breitwandklangkinoentwurf: ausufernde, beatgetriebene Skizzen gesellen sich zu Avantgardeklangkaskaden. So sehr es sich viele nach seinem letzten Meisterwerk gewünscht hätten: Der 45-jährige Songwriter hatte offenkundig keinen Bock (oder schlicht nicht mehr die Energie), nach CARRIE & LOWELL aus dem Jahr 2015, ein weiteres, deprimierendes Album voller Todesschmerzballaden über seine gestorbene Mutter zu machen, spärlich mit Gitarre, Banjo und Piano. Dabei geht er nach wie vor ans Eingemachte: Sufjan Stevens, der live gern mit Engelsflügeln auftritt, hat, trotz Titels und Choral-Einsatzes, kein religiös verblendetes Himmelfahrtsalbum aufgenommen, sondern er gesteht, dass er manchmal, vor lauter Angst in die Hosen kackt und das Bett nässt („Ativan“). Geht’s ehrlicher? Niemals. Stefan Hochgesand
09. TAYLOR SWIFT – FOLKLORE
Universal (VÖ: 24.7.)
FOLKLORE ist eine Arbeit, die in einer Reihe mit den bisherigen der wichtigsten Popstar-Songwriterin der Gegenwart steht. Swift verbindet hier einen Sound, der eine ähnliche DNA besitzt wie jene ihrer ersten Platten, mit der textlichen Gewitztheit, die sie sich über die Jahre draufgeschafft hat und holt das Ganze mit sehr aktuellem Personal in die Gegenwart. Über die Zusammenarbeit mit Aaron Dessner ist genug geschrieben worden, ebenso über den Gastauftritt von Justin Vernon auf „Exile“, deshalb hier der Hinweis: Die Songs, die Swift gemeinsam mit Jack Antonoff erarbeitete, allen voran „August“, „Illicit Affairs“ und „Betty“, sind ebenso interessant. Sie verzichten auf Klappern und Klopfen, folgen der reinen Lehre des Pop und siedeln sich zwischen Sheryl Crow und Natalie Imbruglia an. Jochen Overbeck
08. PERFUME GENIUS – SET MY HEART ON FIRE IMMEDIATELY
Matador / Beggars / Indigo (VÖ: 15.5.)
Ocean Vuong, Schöpfer des epochalen Buchs „Auf Erden sind wir kurz grandios“, auf dessen queere, post-identitäre Autofiktionalität dieses Album zu antworten scheint, schrieb zum Erscheinen von SET MY HEART… ein Essay, das die Frage nach der Schönheit der Störung stellt. „Can it, through new ways of embodying joy and power, become a way of thinking and living in a world burning at the edges?“ Mit Vuong muss man antworten: Ja. Perfume Genius schreibt sich selbst und sich selbst frei, weg von der früheren Zerbrechlichkeit, hin zu einer Vielfalt zwischen dem Muskelmann-Cover, dem überstürzenden Cembalo-Pop des dichten One-Night-Stand-Haikus „Jason“ und dem Twee-Funk von „On The Floor“. Auch nachhaltig grandios. Steffen Greiner
07. MOSES SUMNEY – GRÆ
Jagjaguwar / Cargo (VÖ: 21.2.)
Es kann gut sein, dass dieser Songzyklus im Nachgang zu 2020 als Soundtrack der Isolation gefeiert wird. Und damit als eine Art Inklangsetzung der Pandemie, deren Folgen Moses Sumney nicht erahnt haben konnte, als er die 20 Songs aufnahm. Bei Sumney, dem Sohn eines ghanaischen Priesters, der früher im Kirchenchor sang, handelt es sich um eine in der Schwebe befindliche Form von Innerlichkeit, die sich in Übergängen Bahn bricht. R’n’B, Gospel, Soul, Art-Rock, Jazz und Gitarren-Balladen zerfließen zu schwer definierbaren Soundbildern, angeführt von einer flatterigen, manchmal extremen Stimme. Sie transportiert Zweifel an überkommenen Bildern von Männlichkeit, kreist um Selbstermächtigung. Mit GRÆ hat Sumney der allgemeinen Verwirrung ein persönlich formuliertes Denkmal gesetzt. Frank Sawatzki
06. FIONA APPLE – FETCH THE BOLT CUTTERS
Sony (VÖ: 17.4.)
Diese Künstlerin ist so unglaublich gut und veröffentlicht so unglaublich selten, dass jedes neue Album zur Sensation wird. Was noch hinzu kommt: Die Songs erscheinen Mitte April 2020, die Welt wirkt wie gelähmt, Fiona Apple übernimmt die Weckfunktion. Diesen Sound hätte man nicht erahnen können. Die 13 Stücke leben vom Rhythmus, wobei: Einen solchen Groove hat man vorher noch nie gehört. Er wird nur selten von Drums erzeugt, sondern von Körperteilen und Alltagsgegenständen. Man hat vor Augen, wie sich Apple durch ihr Apartment bewegt und diese Stücke lebt, wie sie Melodien und Rhythmen mit Versen füllt, die von schmerzlichen Erinnerungen, gewonnenen Kämpfen, verbliebenen Wunden handeln. Dass die Platte dennoch zuversichtlich nach vorne schaut, macht sie zum Rettungsanker des Jahres. André Boße
05. RUN THE JEWELS – RTJ4
BMG Rights / Warner (VÖ: 3.6.)
Killer Mike rappt in „Walking In The Snow“ die Zeile: „You watch the cops choke out a man like me until my voice goes from a shriek to whisper, ‚I can’t breathe‘“, und zitiert damit die letzten Worte von Eric Garner, der aufgrund von Polizeigewalt 2014 ums Leben kam. Sechs Jahre später sind es auch die letzten Worte von George Floyd. Kaum zu glauben, dass der Track bereits aufgenommen war, als die Black-Lives-Matter-Proteste weltweit zunahmen. Killer Mike und El-P beweisen mit ihrem vierten Album nicht nur ihr Gespür für Breitwand-Bässe und Retro-Beats, sondern auch für so aktuelle Themen, dass man glaubt, das Duo hätte eine Glaskugel. Wobei ihr Vorausahnen dann mächtig düster wäre, denn die Polizeigewalt scheint kein Ende zu nehmen. Die politischen Ansagen der Rapper stehen hier aber auch beständig in Verbindung mit smarten wie witzigen Punchlines, die vermitteln: Bloß nicht aufgeben, immer weiter kämpfen. Hella Wittenberg
04. SAULT – UNTITLED (RISE)
Forever Living Originals (VÖ: 18.9.)
Wie genial und perfekt war denn bitte UNTITLED (BLACK IS)? Und kaum drei Monate später diese Platte, die den Sault-Sound weiter ausdehnt und mit mehr Afro-Beat und Disco anreichert. Cleo Sol, Kid Sister und Inflo scheinen tatsächlich immer weiter musikalisch zu wachsen. Dieses Album steht für das Wiederaufstehen, für Hoffnung und hat selbst dann eine befreiende Wirkung, wenn die Textzeilen besonders niederschmetternd daherkommen. Black Lives Matter: Diese Message muss untermauert, aber auch danach gehandelt werden – dafür wollen Sault mit ihren 15 breit gefächerten Tracks sorgen, die auch beständig durch eingesprochene Parts in ihrer Wohlfühl-Tanzbarkeit aufgebrochen werden. Das in London wohnhafte Studiotrio hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft (2019 erschien ihr erstes Werk), sowohl für Protest als auch für Zuversicht zu stehen. Unter Chanting, Percussions und Trommeln besingen sie ihre Black Identity, ihre Wunden, ihre Zerrissenheit. Wobei Sault immer das „We“ und „Us“ benennen und so zur großen Umarmung ansetzen. Hella Wittenberg