Massive Attack: Massive Attack live


Bei den meisten Konzerten muss die Realität des Weltgeschehens draußen bleiben - bei Massive Attack ist sie zentraler Bestandteil des Geschehens. Köln, Palladium.

Wer in den siebziger Jahren seine ersten Fernseherfahrungen gemacht hat, verbindet mit „sachdienliche Hinweise“ wohl auf ewig eins: Eduard Zimmermann und das von ihm erfundene „Aktenzeichen XY – Ungelöst“. Wer sich im Frühjahr 2003 mit einem Konzert der 100th Window-Tour auseinandergesetzt hat, kann diesen Begriff für sich enorm erweitern. Sachdienliche Hinweise flimmerten nämlich bei Massive Attack reichlich über-, unter-, gegen- und miteinander um die Wette. In blutrot, hellblau oder giftgrün – und in einer Computeranimation, die man auch als chronischer Gästelistenbesetzer so noch nicht gesehen hat. Einwohnerzahl, Längen- und Breitengrad des derzeitigen Standorts, Wetterbericht für die kommenden Tage: alles vorrätig. Entfernung zum letzten Auftrittsort Mailand: 834 Kilometer. Börsenkurse, Bevölkerungsentwicklung just in diesem Moment, Erdölverbrauch der USA, Ausgaben für Stacheldraht ebendort – ein Informationswust, ein wahnsinniger. Inmitten grollender, stoischer Direkt-in-die-Magengrube-Bassläufe, um die herum Massive Attack gewohnt majestätisch Genres ineinander fließen lassen und Stil-Grenzen überschreiten, kann man sich den Statistiken, relevanten und entbehrlichen Infos einfach nicht entziehen. So wird ein Auftritt mit Anspruch heute zusammengeschraubt: Protestsong war früher, heute sind Massive Attack – als audiovisuelles Gesamtkunstwerk.

Unerbittlich – die Programmierung auf den neuesten Stand zu bringen, dauert täglich acht Stunden – blinkt es auf einen ein, die Statistiken zum Irak-Krieg enden mit einer ebenso simplen wie alles entscheidenden Frage: „Ist die Welt jetzt sicherer?“, kann man lesen, derweil die Band einen Querschnitt ihres Schaffens spielt. Alle Alben kommen dran, von Protection schafft es nur „Karmacoma“ auf die Setlist, und am besten sind die Klassiker vom Blue Lines-Album, die in den Neunzigern den Begriff von Popmusik neu definierten. Dot Allison und Deborah Miller singen „Hymn Of The Big Wheel“ und „Safe From Harm“ schlichtweg fantastisch. Horace Andy ist mehr auf der Bühne zu sehen als 3-D, und Daddy G lässt sich gar nur sporadisch blicken. Nun gut: Wenn man sich ohnehin schon seit Jahren auf die Nerven geht, geht man sich eben auch live möglichst aus dem Weg. „Neustart?“ blinkt es nach 14 Songs links oben am Bühnenrand, auch das wieder eine gleichermaßen einfache und feine Idee, und dann gibt es noch „Unfinished Sympathy“. Das Blinken ist mittlerweile erloschen, und das geht in Ordnung. Neustart? Im Grunde genommen: unbedingt. Nur nicht mehr heute abend. Erschlagen und beseelt von der Wucht der Inszenierung schlendern wir nach Hause. Im „Nachtmagazin“ geht’s da später um den Anschlag von Riad. Die Welt ist nicht sicherer geworden; die Art und Weise, wie Massive Attack auf diesen betrüblichen Zustand hingewiesen haben, ist grandios.

www.massiveattack.com