Lollapalooza Berlin 2018: Auch Kraftwerk haben den Festival-Sonntag genossen
Am Sonntag zeigten sich beim Lollapalooza Berlin das Wetter, das Gelände und diverse Acts von ihrer besten Seite. Wer anderes empfand, gehörte wohl nicht zur jeweiligen Zielgruppe: Lest hier, wie es bei Wolf Alice, Freundeskreis, Liam Gallagher, Jorja Smith, SXTN, Fink, Imagine Dragons und Kraftwerk war.
Seht oben unsere Fotos von Kraftwerk, Fink, Trettmann und dem Publikum und lest unten, was wir bei Wolf Alice, Freundeskreis, Liam Gallagher, Jorja Smith, Imagine Dragons, SXTN, Fink und Kraftwerk erlebt haben.
Texte von Annette Schimanski (as), Dominik Sliskovic (ds), Vanessa Sonnenfroh (vs) und Fabian Soethof (fs)
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Wolf Alice beim Lollapalooza Berlin 2018
Wolf Alice kämpfen am frühen Sonntagnachmittag mit dem Format Festival. Es gelingt ihnen einfach nicht, die Opulenz der VISIONS OF A LIFE-Aufnahmen auf dem offenen Vorfeld des Olympiastadions als Livesongs zu duplizieren. Zu dünn, zu zentriert ist der Sound.
Nichtsdestotrotz spielt das Quartett ein unterhaltsames Konzert, bei dem es die grungigeren, simpleren Songs ihres Debüts MY LOVE IS COOL sind, die zu überzeugen wissen. Umso überraschender, wie wenig Besucher den Weg vor die Alternative Stage geschafft haben – für eine Band, die Glastonbury-Festival-Chefin Emily Eavis als kommende Headliner von Europas bekanntestem Festival bezeichnet. Aber hey, in Deutschland ist nunmal David Guetta die Richtnorm für potenzielle Headliner. Während nämlich bei Wolf Alice Leere nach den ersten fünf bis zehn Reihen herrscht, stehen sie am Marathontor des Olympiastadions Schlange, um für die auf der Perry’s Stage auflegenden Nachwuchs-Guettas die Arme in die Luft recken zu können. (ds)
Freundeskreis beim Lollapalooza Berlin 2018
60 Minuten Spätneunziger-Flashback: 2017 gingen Freundeskreis nach 10 Jahren Livepause und zum 20-Jährigen ihres Debüts QUADRATUR DES KREISES wieder auf Tour; am Sonntagnachmittag beim Lollapalooza feiern Max Herre, Joy Denalane und ihre Liveband, darunter die FK Allstars, ihr 21-jähriges Jubiläum. Nach tiefwummerndem Liveintro eröffnen sie mit „Esperanto“ und erinnern zumindest die Ü-30er daran, wo der Soul im deutschen HipHop mal lag und wie schimpfwortfrei er war. Ihr Klassiker „A-N-N-A (Immer wenn es regnet)“ konterkariert das Wetter, „1ste Liebe“ von Herre und Denalane ist nach „Mit Dir“ noch immer eines der besten unpeinlichen Liebeslieder im deutschsprachigen Pop und die zwei Livegäste Afrob (der mit dem FK u.a. sein „Reimemonster“ zum Besten gibt) und Megaloh tun ihr Übriges: 1999 war die Welt gefühlt noch mehr in Ordnung als heute.
Einen #wirsindmehr-Moment gab es dennoch: Herre freut sich, dass auf Festivals wie dem hier und nach Chemnitz klar würde, wer wirklich in Deutschland in der Mehrheit sei. Komischer Beigeschmack: Im Publikum wehen zwei Deutschland-Fahnen. Auf denen steht zwar „Nazis raus!“ geschrieben, statt Schwarz-Rot-Gold würde Herre trotzdem lieber bunt und Multikulti sehen. (fs)Liam Gallagher beim Lollapalooza Berlin 2018
Wer noch einen Beweis dafür brauchte, dass Rockmusik auf Festivals weiterhin im Sterben liegt: Liam Gallagher lieferte ihn ganz unfreiwillig. Die Songs seines Solodebüts AS YOU WERE locken an der Stelle, an der 18 Stunden vorher Tausende Kids den nichtigen Post-R’n’B von The Weeknd und sich selbst feierten, kaum wen aus der Reserve. Das „Rock’n’Roll“-Banner vorm Keyboarder wirkt wie eine Mahnwache für ein totes Genre. „Are you bored, ye?“, fragt ein sichtlich angepisster Gallagher folgerichtig und zieht sein Programm dennoch durch: „Sind ein paar Oasis-Fans hier?“, fragt er und muss an Tagen wie diesem wirklich froh sein, dass Bruder und Songwriter Noel ihn Klassiker wie „Some Might Say“,„Champagne Supernova“, „Whatever“ und, als Höhepunkt, „Live Forever“ spielen lässt. Die sorgen nämlich für tolle Lolla-Momente – wenn man nur die Augen schließt und sich die Oasis-Reunion vorstellt, die Liam sich schon lange wünscht. (fs)
Jorja Smith beim Lollapalooza Berlin 2018
Jorja Smith kommt einem Segen gleich. Während Liam Gallagher sich auf der Main Stage das zusammengniedelt, was er seit drei Jahrzehnten singen nennt, verzaubert die Britin die Anwesenden vor der Alternative Stage mit warmen Soul und RnB.
Das Lollapalooza ist ihr erstes Konzert in Berlin, dennoch scheint Jorja Smith bereits auf eine treue Fanbase setzen zu können. Ihre ebenso an Amy Winehouse und Alicia Keys als auch Aaliyah und TLC geschulte Stimme wird zu jedem Songauftakt ekstatisch bejubelt – zurecht wohlgemerkt. Ihr fragmentiertes Cover von Frank Oceans ohnehin schon wohligem Soulhit „Lost“ gehört zu den Highlights des Festivals – was nicht bedeutet, Jorja Smiths eigene Songs hätten kein Highlightpotenzial. „Blue Lights“ ist das beste Beispiel. Plötzlich tanzen und – ja, wirklich wahr – weinen Menschen vor Ergriffenheit und Freude, diese Stimme diesen Song singen zu hören. Hier und jetzt. Allzu lange dürfte sich Jorja Smith also nicht mehr mit Coverversionen in ihren Sets aufhalten. (ds)
Imagine Dragons beim Lollapalooza Berlin 2018
Liam Gallagher sucht während seines Sets auf der Main Stage des Lollapalooza nach Teenagern im Publikum – vergeblich. Denn die sind längst zur zweiten Hauptbühne übergelaufen und warten dort sehnsüchtig auf Imagine Dragons, die sich zu Beginn ihrer Show einen übertrieben theatralischen Einmarsch gönnen. Sänger Dan Reynolds läuft nur in Shorts und Sneaker bekleidet auf und sorgt bereits vor dem ersten Song für das richtige Hormonlevel in der Teenagermenge.
Die US-amerikanische Band tischt dem euphorisierten Publikum nicht nur einen Radiosong nach dem nächsten auf, sondern schiebt noch ein paar Plattitüden hinterher, wie etwa, dass Musik die Leute zusammenbringe und man doch bitte für die Länge dieses Auftritts Politik, Religion, Stress und Arbeit vergessen möge. Dinge gezielt nicht anzusprechen, ist natürlich auch ein Statement. Dafür wirbelt nicht nur der Sänger über die Bühne, sondern auch das Konfetti und weiße Ballons durch die Luft. Unterhaltung für die ganze Familie eben, die nirgends aneckt – und nicht im Gedächtnis bleibt.
Mitten in der Show bauen Imagine Dragons noch ein schwülstiges Cover von „Every Breath You Take“ ein und platzieren drumherum einen ganzen Katalog aus Songs, die allesamt ganz heiße Anwärter für den nächsten Werbefilm irgendeiner Automarke oder eines Biermischgetränks sein könnten – oder was die Generation EDM offenbar unter Rock versteht. (as)
SXTN beim Lollapalooza Berlin 2018
Die beiden Berliner Rapperinnen Juju und Nura bekommen am Sonntagabend das Publikum ab, das sich im Olympiastadion mental bereits auf den norwegischen DJ Kygo eingestellt hat. Macht nichts, denn spätestens bei Zeilen wie „Ich fick deine Mutter ohne Schwanz“ ist ihnen die Aufmerksamkeit sicher. Die beiden Musikerinnen spielen gekonnt mit männlichen Klischees in der HipHop-Szene und sind sich keiner Provokation zu schade: „Hey, ihr Behinderten da hinten“, ruft Juju ins Publikum. Im Normalfall ein guter Grund für einen Aufschrei, in diesem Kontext vollkommen im Rahmen. Das Problem ist nur: Nicht jeder im Publikum scheint die Provokation und Ironie als solche zu erkennen. Hier und da werden verwirrte Blicke gewechselt, die ein oder andere Familie mit Kind flüchtet aus dem Stadion. Dabei betonen die Rapperinnen selbst mehrere Male, was ihnen am Herzen liegt: Respekt und Verständnis. Denn das wahre Problem sind diejenigen, die die Bühnenpräsenz inklusive der Texte von SXTN für bare Münze nehmen und nach dem Auftritt nichts mitnehmen außer die Erinnerung an eine kleine Party mit einigen anstößigen Lyrics. (as)
Fink beim Lollapalooza Berlin 2018
Die etwas abseits liegende Alternative Stage ist die perfekte Location für die ruhigen bis E-Gitarren-lastigen Klänge des aus Bristol stammenden Songwriters Fink. Hier sammeln sich die vom Festival Erschöpften, Ruhebedürftigen sowie die treuen Fans von Fink. Mit Songs vom aktuellen Album HARD BELIEVER (erschienen 2014) und Berlin-verwandten Stücken läutet der 46-jährige Finian Paul Greenall, so sein bürgerlicher Name, den Abend ein. Während seiner Stunde Stagetime wird es kalt, die Dämmerung verwandelt sich in Dunkelheit und vom restlichen Festivalgelände wehen Soundfetzen der parallel spielenden Acts Imagine Dragons und SXTN herüber. Fink ist sich der „Konkurrenz“ bewusst: „We know you had other choices, thankyou for choosing us!“ Besonders der Song „Fall into the Light“ geht mit seinen meditativen und beruhigenden Klängen im Dämmerlicht unter die Haut. Man solle auf sich und aufeinander aufpassen, bittet Fink zum Abschied, sagt „Thank You“ und geht so leise, wie er kam. (vs)
Kraftwerk beim Lollapalooza Berlin 2018
Es herrscht ein gewisses Bedenken vor, ob Kraftwerk tatsächlich der geeignete Headliner für das Lollapalooza Berlin sind. Oder wohl eher: Ob das Lollapalooza Berlin das geeignete Festival für den Headliner Kraftwerk ist. Denn um den Status der Pioniere Kraftwerk soll an dieser Stelle beileibe nicht diskutiert werden. Es ist viel eher ein Misstrauen gegenüber dem bisher angetroffenen Publikum: Ob es die Möglichkeit, eine der wichtigsten Gruppen der Musikgeschichte live sehen zu können, angemessen wertzuschätzen weiß?
Doch die Bedenken verschlagen sich, als man erkennt, dass sich einige Zeit vor Kraftwerks Konzert der Altersdurchschnitt irgendwo zwischen 45 und 50 eingependelt hat. Viele Festivalbesucher sind nur mit Eintagesbändchen ausgestattet. Die Gelegenheit, Kraftwerk ohne die bei ihren Solo-Konzerten übliche Ticket-Vorverkaufslotterie live zu erleben, hat viele Menschen zum Lollapalooza getrieben. Dementsprechend freudig erregt ist die Stimmung, als die Männer um Ralf Hütter die Main Stage betreten.
Ein guter Gradmesser, ob Kraftwerk ein Konzert selbst genießen, ist die Laufzeit von „Autobahn“: Ziehen sie den 1974er-Klassiker in absurde 20-Minuten-Längen, kann man sich sicher sein, dass Hütter und Co. Lust am musizieren haben. Bleibt es bei der „knappen“ 8-Minuten-Version, dürften sie den Abend wohl eher als Pflichterledigung ansehen. Heute Abend bleibt „Autobahn“ zwar knapp, dafür werden jedoch etwa „It’s More Fun To Compute“ und „Tour de France“ zu wahren Jamsessions (sofern man bei Kraftwerk von so etwas sprechen kann).
Auch den Abschiedstrialog „Boing Boom Tschak“/„Techno Pop“/„Musique Non Stop“ halten sie überraschend kurz. Doch als Ralf Hütter als Letzter vom Podium ins Scheinwerferlicht tritt und sich nach zweifacher Verbeugung ans Herz greift und den Anflug eines Lächelns zeigt, weiß man: Auch Kraftwerk haben diesen Abend wirklich genossen. (ds)