Live


EIN ABEND, DER SICH VÖLLIG SCHAMLOS IM KONJUNKTIV aufhält. Ein Abend, der so überbordend mit „hätte“s, „könnte“s und „würde“s gespickt ist, dass am Ende nur eine Erkenntnis bis ins unbarmherzige Präsens durchbricht: Live haben endgültig den Übergang vom überzeugenden Pathos zum Prätentiösen vollzogen. Handelte es sich bei früheren Konzerten der Band aus York, Pennsylvania, noch um Ereignisse, bei denen ganze Baseball-Stadien zurecht von kollektiver Gänsehaut erschüttert wurden, so haben sich Live nun in jenen Himmel verabschiedet, der voller Plastik-Geigen hängt. Womit man beim verhängnisvollen Konjunktiv angelangt ist: Was hätte entstehen können, wenn Ed Kowalczyk und Co. bei ihrer Tournee auf den massiven Einsatz verkitschter Synthetik-Sound-Teppiche verzichtet, und sich stattdessen auf jenes Laut-Leise-Wechselspiel konzentriert hätten, das einige stilistische Weltreisen zuvor noch ihre Stärke war? Welche Form von Dynamik wäre entstanden, hätten der großartige Drummer Chad Gracey und die Saitenfraktion Patrick Dahlheimer (Bass) und Chad Taylor (Gitarre) die Emotionen noch höchstselbst in die Musik legen müssen? Doch dank der Gefühls-Götter aus der Tasten-Maschine konzentriert sich die Band im Wesentlichen auf die üblichen leeren Gesten des Stadion-Rock: Kowalczyk auf den Knieen, Taylor mit coolem Sonnenbrillenblick et cetera pp. Vielleicht wäre das alles nicht so schlimm gewesen, vielleicht hätte man ihnen dieses Konzert nicht auch noch persönlich übel nehmen müssen, wenn sie bloß einen Bogen um den größten Fettnapf der Rockmusik geschlagen hätten. Aber dann mussten sie ja unbedingt Lennons „Imagine“ covern,auf weltverbrüdernde Geste machen und dem ohnehin mit Vorsicht zu behandelnden Original noch mit besagtem Synthie-Geseiere zu Leibe rücken. Das wirkt so überzeugend wie seinerzeit der Versuch des sich von der Milch junger Stuten ernährenden Lenny Kravitz, den Heroin-Exorzismus „Cold Turkey“ auch nur mit einem Hauch von Bedeutung zu füllen. Und weil Live bereits in der Mitte ihrer Show derart tief ins Spülbecken greifen, können sie im weiteren Verlauf nur noch alles falsch machen. Da haut Kowalczyks direkt nach der Pietätlosigkeit eingeschobene „How the fuck are you doing now?“ nur noch tiefer in die Kerbe. Möglicherweise sind Live einmal angetreten, um eine Antwort auf Pearl Jam oder die Stone Temple Pilots zu geben. Heute jedenfalls sind sie nicht mehr viel mehr als das Fragezeichen hinter dem aus der Mode gekommenen Wörtchen „Grunge“.