Kolumne

Linus Volkmann: Wie ich versuche, die EM im Free-TV zu überstehen


2024, das Sommermärchen aufgewärmt in der Mikrowelle. In dieser Kolumne sieht Volkmann das ekstatische Gehupe bei ARD & ZDF. Hier seine Überlieferungen dazu.

Fußball, das ist immer auch Popkultur. Mit Hilfe dieses erratischen Pauschal-Arguments möchte ich mich imprägnieren gegen den möglichen Anwurf, dieses Kolumnenthema überschreite die Grenze eines Musikmediums – wie der Musikexpress zweifelsohne eines ist. Doch der Beckham-Iro, Sportfreunde Stiller, ausgewrungene Stadion-Hymnen wie die von den White Stripes, der Song „Gute Freunde“ von Franz Beckenbauer und deine Mutter seien mein Zeuge, Fußball lässt sich einfach nicht ohne einen gewissen Sound denken. Dennoch richte ich mich auf langwierige Zivil-Prozesse mit erbosten User:innen und dem Presserat ein. Doch seid gewarnt: Habe Haftpflicht! (Und werde am Ende des Text noch eine Liste mit den sieben schrägsten Fußballsongs parken – das soll die Karlsruher Richter lehren!)

Alptraum: Moderner Fußball

Ich erzähle kein Geheimnis, wenn ich sage, dass moderner Fußball sich gegen die Menschen richtet. Spätestens als 2010 der kahle Dämon Joseph Blatter einen DinA4-Zettel hochhielt, der verkündete, dass die WM 2022 in Katar stattfinden würde, sollten doch alle Zweifel beseitigt gewesen sein. Die WM davor – also 2018 – hatte sich übrigens Putin für Russland organisiert. Und erinnert ihr euch noch, wo die letzte EM ausgetragen wurde? Nein? Kein Wunder, denn sie sah sich ja auch einfach in zehn Stadien Europas abgehalten – sowie in dem ölreichen Baku auf dem asiatischen Kontinent. Klingt wie ein Flugmeilen-Alptraum, bei dem man nicht mehr von einem CO2-Fußabdruck sondern einem CO2-Faustschlag reden sollte? Stimmt, aber im Jahr 2021 wusste die UEFA eben noch nichts vom Klimawandel. Wer sich also als Fan heute noch vom professionellen Fußball gemeint fühlt, muss wirklich einen sehr toxischen Crush auf korrupten Raubtier-Kapitalismus besitzen.

„Das lässt sich nie wieder umkehren“ – Linus Volkmann über früh verstorbene Musikikonen

Wie dem auch sei: Aller emotionalen Abnabelungs-Entwicklung der letzten Epoche zum Trotz findet mit der EM der Herren aktuell mal wieder ein Fußball-Großereignis in Deutschland statt. Die Welt zu Gast bei Freunden! Wer da keine belastenden Flashbacks auf Freewheelin‘ Goleo und Sidekick Pille bekommt, tut mir leid (oder ist ein Kind). Aber so geschieht es nun. Die (europäische) Welt sitzt bei uns zu Tisch und freut sich über die bienenfleißigen Krauts, die den ganzen Faulenzernationen en passant mal wieder zeigen, wie „es“ richtig geht.

Jogis Jungs!

Und ganz ehrlich, ein bisschen Bock hat man doch schon, sich mal wieder richtig in so etwas Harmloses wie Fußball hineinzusteigern? Die anderen Themen, die in diesem Jahrzehnt in der Auslage liegen, sind allesamt fürchterlich, niederschmetternd, zum Eingraben. Warum also nicht die Heldenreise von Jogis Jungs begleiten – bis zu ihrem fulminanten Ausscheiden im Achtelfinale. Oops, für alle, die das vor Samstag 29.06.2024 18 Uhr lesen, wollte nicht spoilern!

Aber was heißt überhaupt „Jogis Jungs“? Der legendäre Kotnascher mit dem sanften Nivea-Swag musste ja nach nur drei komplett vergeigten Turnieren seinen schwarzen V-Ausschnitt-Pullover an den Nagel hängen. Sein Nachfolger wurde der freundliche Hausmeister Hansi Flick, der sich damit begnügte, die wunderbare Reise ins Homohass-Capital Katar zu monitoren. Dieser Tage befindet sich mit Julian Nagelsmann ein forsches Kerlchen im Amt, dessen Hemden immer ein paar Knöpfe zu viel an der ohnehin langen Knopfleiste haben. Ich bin kein Experte, aber wenn das nicht für unbehandelte Bindungsängste steht, bestelle ich mein „Psychologie Heute“-Abo ab.

Linus Volkmanns Kolumne: Schocken, obwohl Oma Love-Parade auf RTL2 guckt? Die Millennial-Punk-Story

Die Vorrunde der EM 2024 ist mittlerweile gespielt und ich habe hier ein paar Eindrücke gesammelt. Wobei ich mich nicht mit einzelnen Spielen und Mannschaften aufhalten möchte (#tagesgeschäft), sondern das Erleben der TV-Übertragung für euch dokumentiert habe. Deutschland deine Öffentlich-Rechtlichen Powersender – und was sie für unser bereit halten, wenn es ernst wird.

Abenteuer im Free-TV – ARD und ZDF am Limit!

Ich werde EM- und WM-Spiele nicht „im Außen“ sehen. Kein Public Viewing, keine Kneipe, kein Campen vor dem Schaufenster eines Elektronikfachhandels. So verlockend es sein mag, sich mit 18 Leuten in überfüllten Gaststätten eine Bierbank zu teilen und spätestens ab der zweiten Hälfte gemeinschaftlich unter den Tisch zu urinieren. Ebenfalls verpasse ich, mit anderen aus der zugeteilten Volksgemeinschaft ein nationales Wir-Gefühl zu erschaffen, es rhythmisch herauszubrüllen und irgendwann in Geifer zu ertränken, wenn es nicht so gut läuft „auf dem Rasen“. Alles herrliche Vorstellungen. Ich weiß, ich verpasse viel!

Doch mich zieht es vor die Couch. Ich sage bewusst nicht „vor den Fernseher“, denn wie alle jenseits der Boomer-Generation besitze ich natürlich keinen Fernseher im klassischen Sinne mehr. Also versammle ich mich vor einem großen Bildschirm der eigentlich einen Rechner darstellt. Das schreibe ich deshalb so konkret, um klarzumachen, dass sich Free-TV heute wirklich nur noch auf den Live-Stream der Mediatheken von ARD und ZDF beschränkt. Denn um RTL über einen Rechner zu empfangen, muss man kostenpflichtige Abos eingehen. Da gelten strenge Regeln bei mir: Der Gratis-Monat von RTL ist für mich auf Januar beschränkt wegen „Dschungelcamp“. Und ich wünschte wirklich, ich würde lügen, Leute!

Klar, wenn ich noch einen Grundig-Röhren-TV im Keller fände und mit dem analogen Antennenkabel sowie viel Urvertrauen in irgendeine Buchse in der Wand einstöpseln würde, wer weiß, vielleicht könnte dann sogar RTL laufen. Dennoch kann man darauf kaum zählen und ich zähle stattdessen lieber die EM-Spiele, die auf ARD und ZDF laufen: 34 sind das. Von 51 insgesamt. Da allerdings RTL nur zwölf überträgt, fehlen weitere fünf Partien? Wo stecken die denn? Ach, super! Um die kümmert sich exklusiv der EM-Sponsor T-Online mit seinem Angebot Magenta-TV. Ein Geschenk für alle, die sich wünschen, so viele Abos wie nur möglich bei immer fragmentierteren Streamingdiensten abzuschließen. Danke, Consumer-Capitalism!

„Ungeübte Begegnungen erwünscht“: Eine Liebeserklärung an den Schlachthof Wiesbaden

Für mich jetzt schon ein Sommermärchen: Nicht alle Spiele bei der „WM im eigenen Land“ kann man frei empfangen? Bleibt umso mehr Zeit für Körperpflege, Zimmerpflanzen oder BeReal. Doch trotz aller Unterversorgung schlägt sie ja dann doch immer wieder: Die Stunde der Öffis! Sie senden im kostenpflichtigen Free-TV (#rundfunkgebuehr) einigermaßen abwechselnd – und wie! Besonders die ZDF-Übertragung hat es mir angetan. Kommentatoren-Ton und den jeweiligen Live-Sound aus dem Stadion sollte man unbedingt gleich laut abmischen. Warum kam da vorher noch niemand drauf? Einheitliches Vorbeugen Richtung „Mattscheibe“ und mit den wenigen Gästen auf meiner Couch rätseln, was der Kommentator wohl genau gesagt hat – vor lauter Lärm (#atmo) nichts mehr deutlich zu hören, das pusht doch das Gemeinschaftserlebnis!

Was aber auf jeden Fall sowieso nicht mehr oft benannt wird, sind die Namen all der Figuren, die die Kameras für uns einfangen. Wieso auch? Die Spieler tragen Nummern auf ihren Trikots, da kann man Namen also jederzeit im Lösungsbuch nachschauen, viele kennt man eh schon aus der Werbung. Aber wer ist der Typ, der Bastian „Schweini“ Schweinsteiger (einen der unzähligen Co-Kommentatoren) gerade kurz umarmt hat? Die Moderatorin will von „Schweini“ lediglich wissen, wie ist es, „ihn“ mal wieder zu sehen? Der Name jenes Mannes, der kurz im Halbschatten am Rand des Bilds umarmte wurde, fällt nicht. Später finde ich anhand seiner Augenbrauen raus, dass es sich um Philipp Lahm gehandelt haben muss – einen beliebten Ex-Nationalspieler, der jetzt eine Art Funktionär zu sein scheint – vermutlich so lange bis noch ein weiterer Platz im schier endlosen Co-Kommentatoren-Pool bei ARD und ZDF frei wird.

Tanz nicht bei Juden: Boykott und Pop – Linus Volkmanns Kolumne

Bereits vor dem Eröffnungsspiel (Deutschland gegen Schottland) gönnte das ZDF uns ein ähnlich kollektives Rätseln. Drei Zivilisten – eine Frau, zwei Männer – stehen ungelenk auf dem Rasen herum. Sie tragen den Pokal herein, sehen aber nicht wirklich wie ehrenamtliche Volunteers aus. Vielmehr kann ich Jürgen Klinsmann als einen der Drei erkennen. Was ein interessantes EM-Sudoku, Jogging fürs Gehirn! Denn die Kommentator:innen halten sich längst nicht mehr mit so drögen Erläuterungs-Basics auf. Recht so! Wenn ihr wissen wollt, wer gerade im Bild der Kameras ist, kauft euch bitte ein Schwarz-Weiß-Gerät und eine Zeitmaschine zurück zum Absturz der Hindenburg. Auf Social Media kann ich mir Tage später durch das Postings von jemand aus dem Ruhrgebiet zusammenreimen, dass der zweite Mann Bernard Dietz darstellte (MSV Duisburg, wie Klinsmann war er mal Kapitän einer siegreichen deutschen EM-Auswahl / in dem Fall 1980). Mit diesen beiden Namen im Sinn kann ich nun auch die Frau ergooglen: Das war also Heidi, die letzte Frau Beckenbauer gewesen! Sie trug den Pokal stellvertretend für den Anfang des Jahres verstorbenen Franz Beckenbauer (Kapitän der EM-Elf 1972) bei der Verleihung herein. Gänsehaut – wenn man es doch nur gleich gewusst hätte! Aber „die Öffis“ halten einen halt für totale Cracks, die jedes Gesicht des Sports der letzten 50 Jahre drauf haben. So eine hohe Meinung pflegt der Rundfunkrat über seine Kundschaft. Nur noch rührend, wenn ihr mich fragt!

Foto: Christian Lehner

Aber der Übertragungs-Wahnsinn ist noch nicht vorbei: Beim ZDF kann man als Co-Kommentatoren die (Ex-)Spieler Per Mertesacker und Christof Kramer dabei bestaunen, wie sie sich gemeinsam unwohl vor den Kameras fühlen – und dieses Manko durch angestrengte Beflissenheit, hölzerne Spaßattrappen und eine aufgezwungene Netzer/Delling-Travestie konterkarieren. Hochinteressante Sozialstudie – und dazu diese weißen Turnschuhe, auf die sich alle Kommentator:innen wie Moderator:innen vermutlich in einer geheimen Facebook-Gruppe geeinigt haben. Einfach ein Fest für alle Sinne!

Collage: Linus Volkmann

Vor allem wenn nach den Spielen ins Studio geschaltet wird: Auf einer Wetten-Dass-Gedächtnis-Couch sitzen hier nun mindestens fünf Gäste, Co-Kommentator:innen, Moderationskräfte – genau weiß das keine:r mehr – vor einer riesigen LED-Wand. Auf der werden Close-Ups des Spiels in Zeitlupe aufgeführt. Wenn man in der Totalen die Person, die gerade im Vordergrund spricht, zu fixieren versucht, starrt man unvermeidlich in übergroße Gesichter, ja Mundhöhlen der Spieler, die in XL-Form hinter der Couch „on top“ versendet werden. Danach gucke ich schnell nochmal eine Runde TikTok, um mich von dieser Reizüberflutung zu erholen und den Augen eine kleine Pause zu gönnen.

Die Schweiz

Kurz darauf mache ich ein paar Tage Ferien in der Schweiz. Und was soll ich sagen? Mein Hohn gegenüber dem kleinen Nachbarn mit Berg-Anmutung kennt kaum Grenzen. Sorry! Denn alle Spiele werden von SFR1 und SFR2 einfach so im Free-TV gezeigt? Wie soll man denn da auf seine monatlichen Abo-Fallen kommen, bitte? Der Jamba-Frosch dreht sich im Grabe um! Im Studio sitzen auch nur höchstens mal drei Leute um ein normales Tisch-Element – ohne vollkommen gestörte LED-Festspiele im Hintergrund. Und wo bitte ist hier die endlose aufgekratzte Riege an Co-Kommentator:innen zu Wasser, an Land und in der Luft? Kann außerdem jemand den Funkhäusern im benachbarten Ausland erklären, dass es ziemlich gestrig wirkt, wenn bei einer Live-Übertragung der Ton des Stadions nicht lauter gedreht wird als der des gesprochenen Worts? Soll man hier am Ende noch verstehen, was gesagt wird?

Erschlichene bis unangenehme Interviews: Linus Volkmann über Pulp, Titanic & Fischmob

Naja, das Ausland hat ja noch ein paar Wochen, um sich von der BRD-Power-Nation abschauen kann, wie Sportübertragungen im Jahre 2024 auszusehen haben.

Und hier noch ein lustiger Sport-Tweet auf Facebook von der Power-Autorin Ella Carina Werner

PS: Die versprochene Liste

Sieben Songs mit Fußballhintergrund, vor denen man gewarnt sein sollte …

1. Die deutsche Fußballnationalmannschaft und die Village People – „Far Away In America“ (in der „Wetten dass…?“-Version)

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2. Dimple Minds feat. Uli Borowka – „Barfuß oder Lackschuh“

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3. Die Atzen – „Das geht ab – WM-Version“

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4. Phantoms Of Future feat. Lars Ricken – „Mary Jane“

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5. Gerd Müller – „Dann macht es bumm“

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6. First Ladies a.k.a. Spielerfrauen des FC Bayern – „Mambo FCB“

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7. Die Fabulösen Thekenschlampen feat. Toni Polster – „Toni, lass es polstern“

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Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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