LIKE A HURRICANE
09:41 Das Erste, was beim Betreten des Festival-Geländes auff.shortällt, ist der Matsch. Knöcheltief sinkt man an einigen Stellen ein, wenn man nicht schaut, wo man hintritt. Der Schreiber dieser Zeilen trägt weiße Turnschuhe. Schön blöd. Das Zweite: Die tun hier wirklich alles, um die Spuren des schlimmen Nachtgewitters zu verwischen. Radlader fahren Erde und Mulch umher, an allen Ecken und Enden wird quasi abgetrocknet. Das Festival ist eine riesige, wieselflinke Baustelle, der man nicht ansieht, dass da in nicht einmal fünf Stunden 70 000 Menschen ihren Spaß haben werden. Wir gehen in den Backstage-Bereich. Wo ist die Band? Keine Spur von The National! Was uns auffällt, ist dagegen der riesengroße Truck des holländischen Liedermachers Herbert van Veen. Seltsam, der stand gar nicht auf dem Ablaufplan.
10:59 Ah! Da ist Heather, die Tourmanagerin. Sie sieht müde aus, was aber kein Wunder ist. Am Abend vorher spielte die Band in Kopenhagen, erst gegen drei Uhr in der Nacht ging es mit dem Bus nach Scheeßel, gegen halb zehn kam man an. Dazu kommt der Jetlag, die Band ist erst seit vier Tagen in Europa. Sie übergibt uns an Scott Devendorf. Der Bassist ist der Einzige der Band, der wach ist. „Willst du was trinken? Oder soll ich dir ein Sandwich aus dem Catering-Bereich holen“, fragt er den Journalisten. Heather interveniert. „Gib ihm bitte nichts zu essen“, sagt sie streng. „Sonst bleibt er noch.“ Scott lädt zu einer kleine Führung durch die Backstage-Räumlichkeiten. Drei Zimmer, jeweils etwa zehn Quadratmeter. Ein Tisch, ein Kühlschrank mit Energy-Drinks, ein Schminkspiegel, ein Poster des Festivals. In der Ecke eine Vase mit Weizenhalmen. „Weizenhalme verwendet man gerne in öffentlichen Bereichen. Niemand ist gegen Weizen allergisch“, wird später der Fotograf sagen. Klugscheißer.
11:03 The National stehen auf dem Plakat in der dritten Reihe, nach Kollegen wie Queen Of The Stone Age, The Gaslight Anthem und den Arctic Monkeys. Machen sich Bands über so etwas eigentlich Gedanken? Scott lacht. „Eigentlich ist das egal. Aber irgendwie ist es doch immer wieder ein hochbrisantes Thema. Neulich hieß es, wir würden bei einem amerikanischen Festival auf dem Plakat in der Größe ,100 Percent‘ stehen. Normalerweise bedeutet das: erste Zeile, ganz groß. Als wir die PDFs der Poster geschickt bekamen, war da aber noch eine Reihe Bandnamen über uns. Unser Management hat dann zart nachgefragt. Die Bands hatten dann Schriftgröße 120 Prozent.“ Eigenartig. Genau so eigenartig wie die hohe Positionierung der Gruppierung Ska-P auf dem Hurricane-Poster. Wer ist das?
12:07 Es ist etwas langweilig im Backstage-Bereich. Die Hoffnung, die im Nachbarzimmer untergebrachten Hives würden eine Prügelei mit den schräg gegenüber residierenden Gogol Bordello anzetteln oder IRGENDETWAS anderes würde passieren, erfüllt sich nicht. „Komm, wir schauen uns mal das Gelände an“, schlägt Scott vor. Die Bauarbeiten sind immer noch in vollem Gange. Wir spielen ein wenig am Riesenrad herum und checken anschließend das Angebot des Merchandise-Standes. Apropos Merchandise: The National haben bald ihre eigene Eiscreme-Linie. Ein Hersteller aus den USA ist an die Band herangetreten, nach der Tour soll ein Geschmack entwickelt werden, der alle Mitglieder befriedigt.
12:22 Was ist eigentlich das Schlimmste auf einem Festival? Das Wetter? Nö, das sei meistens mies, sagt Scott. Schlimmer seien wunderliche Line-ups oder die Platzierung zwischen zwei Speed-Metal-Acts. Und gegen Beyoncé zu spielen. Die sei zwar sehr gut. Aber auch sehr laut.
14:30 Der Rest der Band schläft immer noch. Nach drei Stunden Konversation mit Scott haben alle das Gefühl, ein bisschen Pause wäre jetzt nicht schlecht. Der Schreiber und der Fotograf schauen also mal, was sonst so passiert. Das passiert: Es regnet, auf dem gerade wieder aufgehübschten Grünbraun bildet sich eine Schmierschicht. Vorm erhöht positionierten VIP-Zelt wischt ein Ordner das Wasser von der Veranda, während es gleichzeitig in Strömen vom Himmel gießt. Es ist Einlass, trotz des Schmuddelwetters rennen etwa 50 Fans über das Gelände und positionieren sich direkt vor der Hauptbühne. Wie sie sich da mit ihren Schirmen auf engstem Raum aneinanderdrängeln, sehen sie ein bisschen aus wie ein Trupp römischer Soldaten in einem Asterix-Heft. Das Equipment auf der Bühne trägt formschöne Regenjacken.
15:02 Wir schauen erneut im Backstage-Bereich der Band vorbei. Mittlerweile herrscht Betriebsamkeit, alle sind da, nur Drummer Bryan ist im Bus geblieben, er fühlt sich nicht wohl. Auch Sänger Matt Berninger wirkt etwas zerknäult. Scott kämpft mit der Internetverbindung. Aaron hat aus dem Bus ein „Rolling Stone“-Sonderheft über Grateful Dead mitgenommen und versucht, uns den Reiz der Band zu erklären. Ansonsten auf dem Couchtisch: ein vier Wochen alter „New Yorker“. Berningers Ehefrau hat lange für das Heft geschrieben, Scott hat es im Abo. Komplettiert wird die Literaturauswahl durch „The Philosophy Of Andy Warhol“. Aaron löst dem Journalisten eine Vitamintablette in Wasser auf. „Da ist alles drin, was du brauchst“, sagt er. Schmeckt eher so naja.
15:09 Ganz praktisch: Es gibt im Backstage-Bereich einen eigenen Waschsalon, der bei dem Matschwetter ausgiebig genutzt wird. Auch Matt und Aaron Dessner geben jeweils einen Sack ab. In der linken Maschine drehen karierte Geschirrtücher ihre Runden. Es regnet schon wieder, vielleicht auch immer noch.
Matt möchte trotzdem raus. Nicht raus-raus, also ins Publikum. Aber wenigstens mal herumgucken. Wir schlendern an den Einsatzkräften von Feuerwehr und Polizei vorbei rüber zu den alten Tribünen. Hier wurden früher Motocross-Rennen gefahren. Zwischen den Holzbänken sprießt das Gras, fast ein verwunschener Ort. Der Regen wird stärker. Berninger schwärmt vom Wetter auf dem Coachella Festival.
15:35 „Wollt ihr eigentlich Bands anschauen, Aaron?“ – „Eigentlich nur Tame Impala.“ Pech: Tame Impala sind zwar da, ihr Equipment aber nicht, das Konzert muss ausfallen.
16:00 Matt und Aaron geben ein paar Interviews. Wahnsinn, wie generalstabsmäßig das alles organisiert ist. Im Pressebereich gibt es durchnummerierte Kabinen, und vermutlich einen sehr genauen Plan, wer wann wo zu sein hat. Scott erzählt von einem Interview am Vortag. Dort sollte er verraten, welcher dänischen Band The National am ähnlichsten seien. „Ich kenne nur Efterklang“, sagt er. Passt eigentlich ganz gut.
17:03 Aaron berichtet von seinem neuen Baby: Er hat sich vorige Woche in Toronto eine Fender-Jazzmaster von 1963 gekauft. „Wenn die Dinger in gutem Zustand sind, kosten die locker 10 000 Dollar. Die Sache ist: Fender hat im Jahr danach irgendwas an der Bauweise verändert. Billigeres Holz oder so. Die alten sind einfach viel, viel schöner.“ Heute abend wird er sie das zweite Mal spielen.
17:12 Wir dürfen das Allerheiligste sehen. Den Tourbus. Eigentlich ganz nett in dem eisblau-metallic gestrichenen Ding, das hier gleich in doppelter Ausführung herumsteht, einmal für die Band, einmal für die Crew. „Zieht bitte eure Schuhe aus“, sagt Matt, als wir die vier Stufen hochgehen. Vorne so eine Art Loungebereich mit Sesseln, großem Fernseher und Obstkorb. Auf dem Tisch ein kleiner Drucker für Setlisten und Ablaufpläne. Hinter einer Tür dann vier Reihen Schlafplätze. Der Busfahrer, ein freundlicher Hanseat mit Rammstein-Käppi, freut sich über die Aufmerksamkeit, die seinem Arbeitsplatz zuteil wird und erzählt ein bisschen aus seinem Alltag. Acht Jahre lang kutschiert er schon Musiker durch Europa, zuletzt Lana Del Rey bis nach Moskau. War ganz eine Nette.
17:32 Ein schönes Wiedersehen: Wir begegnen bei den Tourbussen Adam Olenius von den Shout Out Louds, die eben auf der blauen Bühne gespielt haben. Kurzer Smalltalk.
17:48 Nachdem es eine gute Stunde lang trocken war, regnet es schon wieder. Wir sitzen im Bus, der Fahrer zeigt uns sein Lieblingvideospiel. Es heißt „Bulletstorm“. Praktisch, der Name ist gleichzeitig die Handlung. Wir übersetzen für die Band die Dialoge der Spielcharaktere, die derart explizit sind, dass wir sie an dieser Stelle nicht wiedergeben können. Als es ein wenig aufklart, gehen Aaron und Bryce joggen. Aaron trägt ein T-Shirt vom Michelberger Hotel in Berlin – jenem Ort, an dem die Band ihr aktuelles Album TROUBLE WILL FIND ME erstmals live vorstellte. Mit den Betreibern des Hotels ist die Band seit Jahren eng befreundet.
17:50 „Hey, Matt. Ist Langeweile eigentlich ein Thema bei einem Festival?“ Berninger lacht. „Und ob. Vor allem auf Festivals, die auf dem flachen Land sind. Hier kannst du ja nichts anschauen. Die anderen hängen gerne mit den anderen Musikern herum und machen Party. Ich bin da anders. I don’t party. Ich schlafe lieber.“ Offenbar ein gutes Stichwort. Er zieht sich für ein halbes Stündchen in seine Koje zurück.
19:45 Es dauert noch eine Stunde bis zum Auftritt, und es ist ein wenig so, als hätte jemand einen höheren Gang eingelegt. Die Wäsche wird sortiert, das Produktionsteam des Festivals bespricht mit Heather letzte Details. Wo dürfen die Kameraleute hin, die das Festival mitfilmen? Was passiert bei welchem Song? Verwendet die Band Pyrotechnik? Ben, der Posaunist, der mit der Band reist, macht sich in der Zwischenzeit Gedanken über die richtige Weinbegleitung für das Konzert. Zwei Flaschen Bordeaux hat er aufgetrieben, beide eher mittel. Sie werden mit anderen Getränken in eine Kiste gepackt, die Heather in den Van lädt, mit dem die Band zur Bühne fährt.
20:08 Vorm Bus treffen wir das erste Mal den Drummer Bryan Devendorf, der sich gerade auf Pads warmspielt. Er sagt den Satz aller Kranken: „Komm‘ mir lieber nicht zu nahe“.
20:11 Die In-ear-Monitors werden verteilt. Kleine, schwarze Funkempfänger, die – wie auch die Gummistiefel der Band – säuberlich mit den Namen der einzelnen Musiker beschriftet sind. Scott hat bereits morgens erklärt, dass die Dinger ein totaler Segen sind. Viel besserer Sound als früher. Einen klassischen Soundcheck gibt es übrigens nicht mehr – ist alles mit dem Computerprogramm ProTools Song für Song vorprogrammiert. Die entsprechende CD muss nur noch in das Mischpult geschoben werden. Der Rest ist Feintuning.
20:19 Noch elf Minuten bis zum Auftritt. Die Band hat sich noch einmal im Bus besprochen, ist die Setlist des Abends durchgegangen. Jetzt stehen alle auf der Bühne, jeder für sich allein. Der Blick ins Publikum ist schon spektakulär. So viele Leute, dass man den ganzen Matsch nicht mehr sieht. Am Bühnenrand füllt es sich jetzt. 20,30 Leute passen hier locker hin. Die Shout Out Louds haben sich eingefunden, die befreundeten Tegan & Sara, die nachmittags spielten, und jede Menge Crew. Matt trägt zu seinem Anzug Gummistiefel. Er lächelt ein Wird-schon-Lächeln. Die Bläser blasen sich warm.
20:30 Es geht los, absolut pünktlich. Heather und Dawn, die Managerin der Band umarmen sich kurz. Während im hinteren Teil des Bühnenbaus schon am Portishead-Equipment herumgestimmt wird, spielt sich die Band eine gute Stunde lang durch ihre Hits. Es ist ziemlich beeindruckend, ein Konzert mal aus dieser Perspektive zu beobachten, die gereckten Fäuste zu sehen, das Strahlen in den Gesichtern der Fans.
20:39 Die Band stimmt „Bloodbuzz Ohio“ an, das Bühnenlicht taucht die ersten Zuschauer in ein sattes Gelb. Weit hinten am Horizont fährt ein Krankenwagen vorbei, seine Blaulichter blinken im Takt.
21:21 Was jetzt passiert, klingt wirklich nach Legendenbildung: In der Sekunde, in der Matt Berninger seine Stimme zu „Fake Empire“ erhebt, ziert den Himmel ein Regenbogen, der über zehn Minuten lang da bleibt und am Ende des Festivals vermutlich eines der am häufigsten fotografierten Motive überhaupt sein wird. „Es ist unser zweiter Regenbogen auf dieser Tour“, sagt Dawn. „Hoffentlich bringt das Glück.“
21:30 Das Konzert ist vorbei. Der Tag mit der Band hört so auf, wie er angefangen hat – mit Scott. Er zieht die Halbschuhe aus, die er während des Konzerts trug und wechselt in die Gummistiefel. Er grinst über beide Ohren und drückt uns kurz. Ohnehin scheinen jetzt alle glücklich zu sein. Die Zuschauer in den ersten Reihen, die immer noch klatschen. Matt Berninger, der etwas windschief Richtung Bus steuert. Die Dessner-Zwillinger, die mit ihren zerzausten Haaren mehr denn je wie zwei kleine Hobbits aussehen. Sogar Bryan, der kranke Drummer hat sich gefangen. Die Tür des Busses schließt sich. Die Band wird in der Nacht weiterreisen. Aufs Schwesterfestival Southside, danach nach Paris. Man wird sie feiern. Überall und noch eine ganze Weile.
THE NATIONAL
Die ersten beiden Alben von The National erschienen Anfang des Jahrtausends quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit, erst mit ALLIGATOR (2005), dem ersten für das Label Beggars Banquet, gelang ihnen der Durchbruch. Seitdem ist die Band, die aus den beiden Brüderpaaren Bryce und Aaron Dessner an der Gitarre sowie Scott und Bryan Devendorf an Bass und Schlagzeug und dem Sänger Matt Berninger besteht, stetig gewachsen. 2007 fand sich BOXER in fast allen relevanten Jahresbestenlisten. Zuletzt erschien im Frühjahr TROUBLE WILL FIND ME, ein Album, das die Band eine Spur ruhiger zeigt als zuletzt und wie auch der Vorgänger HIGH VIOLET in den USA die Top drei der Billboard-Charts erreichte. Sein Live-Debüt feierte die Platte im vergangenen März im Berliner Michelberger Hotel. The National haben ihre Wurzeln in Cincinnati, Ohio, heute leben sämtliche Mitglieder der Band in Brooklyn.