Leseliste

Musikalische Weiterbildung: Diese aktuellen Bücher solltet Ihr gelesen haben


Von Madonna über Joni Mitchell bis hin zu Joy Division: Diese Werke lohnen einen genaueren Blick. Schaut Euch hier unsere momentanen Lese-Empfehlungen an.

Schon wieder eine Serie weggebingt, ohne sich irgendwas gemerkt zu haben? Es wird Zeit für etwas mehr Bindung. Schnappt Euch ein Buch, lest es von vorne bis hinten und fühlt Euch besser. Hier kommen unseren aktuellen Lieblingsbücher, die entweder musikalische Größen zum Thema haben oder sogar von den musikalischen Größen selbst geschrieben wurden. Los geht’s mit unserer aktuellen Top 8:

1. „Madonna“ von Lady Bitch Ray

Reyhan Şahin zeigt in ihrem ganz eigenen Sprachstil, wie Popmusik zu einem Lebensstil mit emanzipativer Kraft werden kann. Die anderen Mädchen „… machten auf à la turka, ich machte auf Madonna, yallah, Baby, yallah, so fing das damals wallahi an, here we go!“ Im neuen Band der KiWi-Musikbibliothek haut Lady Bitch Ray den Leser*innen ihre Lebensgeschichte um die Ohren. Reyhan Şahin heißt sie als Linguistin. Lady Bitch Ray heißt sie als tabubrechende Brachialrapperin. Der Weg vom Einwanderermädchen zur Rapperin war hart. Aber die Begegnung mit Madonna bot der Elfjährigen Orientierung. Beim Einkaufsbummel stößt sie auf ein T-Shirt der Sängerin. Das sei eine „lesbische Schlampe“, sagen die Freundinnen. Das weckt Reyhans Interesse: „Ich will auch eine lesbische Schlampe sein!“ Bitch Ray identifiziert sich vor allem mit der Ikone Madonna, mit Bildern, ihren Posen, ihrer Kleidung, ihrem Körpergefühl. Und mit ihrem Umgang mit Sex „unabhängig von Kategorien wie Geschlecht, Race oder Klasse“. Die italienische Klosterschülerin Madonna wird zum maßgeblichen Empowerment-Vorbild der Tochter eines alevitischen Geistlichen.

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Vier Sterne von: Jens Buchholz

„Bitch I'm Madonna“: Wie Madonna einer der drei größten Stars der Popgeschichte wurde

2. „Die 70er: Der Sound eines Jahrzehnts“ von Ernst Hofacker

Vom L.A.-Folkrock bis zu Nina Hagen: ebenso fundiert wie unterhaltsam erzählte Pop-Chronik. „Jede Pop-Generation braucht (…) ihren Exklusivbesitz, ihr Wir-Gefühl, ihr Credo, ihren Code.“ Diesen Satz schreibt Ernst Hofacker, wenn es in das Jahr 1972 geht, er besitzt aber für das gesamte Buch Bedeutung: Anhand von Schlüsselmomenten wird beschrieben, mit welchem Werkzeug, mit welchem Besteck, von welchen Künstlern, aber auch von welchen Strippenziehern im Hintergrund dieses Wir-Gefühl jeweils ausgelöst wurde. Reisen in eine andere Zeit also, die vom Autor chronologisch gegliedert wurden. Er stellt Einzelmomente heraus, um die Dekade zu erklären; das legendäre Meetup von Bowie, Pop und Reed im Dorchester Hotel am 16. Juli 1972 gehört da ebenso dazu wie Elton Johns Auftritt bei der Fernsehsendung „Soul Train“ und die Eröffnungsnacht des „Studio 54“, bei der auch ein gewisser Donald Trump unter den Gästen war. Etwas schade ist eine – wohl nicht bewusste – Vergeichsliebe im Soul-Kapitel zu weißen Künstlern: Muss man Marvin Gaye unbedingt als „Bob Dylan von Motown“ und Don Cornelius als „schwarze Ausgabe von (…) Jason King alias Peter Wyngarde“ bezeichnen?

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Vier Sterne von: Jochen Overbeck

Mit Nick Cave & Patti Smith: 7 gute Bücher von Musiker:innen

3. „Flüchtig“ von Hubert Achleitner

Spätes, aber umso beeindruckenderes Debüt des österreichischen Nicht-nur-Volks-Musikers. Nein, dass Hubert Achleitner ursprünglich Musiker ist – die meisten werden seine unter dem Namen Hubert von Goisern aufgenommenen Lieder wie „Koa Hiatamadl“ oder „Brenna Tuat’s Guat“ kennen – verheimlicht er in diesem Buch nie. Das Buch hat einen Klang, er setzt sich aus der Brandung des Meeres an Griechenlands Küsten und den Liebesliedern von André Heller, aus „Jodlerschleifen westafrikanischer Pygmäen“, der „Zauberflöte“ und einem Joik zusammen, das ist die Melodie, die jedes Sami-Kind zu seiner Geburt quasi geschenkt bekommt. Nur Volksmusik kommt nicht vor, so wie Achleitner in seinem Debütroman, für den er 67 Jahre alt werden musste, ohnehin auf jede Heimattümelei verzichtet. Das ist interessant, weil Heimat trotzdem etwas ist, über das er schreibt: Achleitner erzählt die Geschichte von Maria. Geboren in einer Winternacht in der Kabine einer Bergseilbahn. Früh heiratet sie Wig. Bald wird sie schwanger, doch sie verliert das Kind. Aus der Ehe wird eine schwierige Angelegenheit, die sich durch die Dekaden schleppt.

Maria flüchtet sich in den Sport. Wig kifft zu viel und beginnt eine Affäre mit der erheblich jüngeren Nora. Als die schwanger ist, haut Maria ab. Für Wig beginnen Monate des Zweifelns und eine Suche, die ihn vom örtlichen Polizeirevier bis in die Berge der griechischen Mönchsrepublik führt. Das Weglaufen. Das Ankommen in einer wie auch immer gearteten Heimat. Die Suche nach so etwas wie einem guten Leben und einer inneren Ruhe. Und, der Titel deutet’s ja an, die Flucht aus der westlichen Wohlstandsgesellschaft: Das sind große Themen, Achleitner verpackt sie in ein Buch, das immer in Bewegung bleibt, in dem die Perspektiven ebenso wechseln wie die Schauplätze. Zusammengehalten wird all das inhaltlich von einer Erzählfigur, die – nun, nicht am Rande steht, aber doch eher eine Nebenrolle spielt. Sprachlich ist Achleitners lakonischer Alltagssound die Klammer, der ebenso kompatibel mit kleinen Anekdoten wie mit großen Gedanken ist, bei dem man als Leser*in gerne dranbleibt.

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Fünf Sterne von: Jochen Overbeck

Musik, die zu Literatur wird: Was Autoren hören, wenn sie schreiben

4. „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ von Jon Savage

Eine bisweilen verstörende Oral History der Gruppe Joy Division. Spoiler: Der mysteriöse, schöne Mann stirbt am Ende. Auf den Suizid von Ian Curtis muss jede Joy- Division-Biografie zulaufen, auch diese Collage von Zeitzeugenstimmen läuft hinein in die Katastrophe, die die Band abrupt zerstörte. Jon Savage, der mit „England’s Dreaming“ und „Teenage“ zwei der kompetentesten Beiträge zur Popgeschichtsschreibung geliefert hat, ergänzt nun quasi Simon Reynolds’ Oral History des Post Punk „Rip It Up And Start Again“ von 2005. Während Reynolds das Panorama zeichnet, konzentriert sich Savage auf eine Band in Manchester. Man muss Fan sein, um sich einzulassen auf die detaillierten Beschreibungen einzelner Punk-Konzerte vor 43 Zuschauer*innen anno 1976. Zugegebenermaßen: An Joy-Division-Fans herrscht kein Mangel. Andere Zielgruppe: Archäologen toxischer Männlichkeit. Fast schmerzhaft ist, wie diese Typen (natürlich in überwältigender Mehrheit) kaum in der Lage waren, empathisch zu sein, wie sie bis heute das Trauma des Todes eines Freundes nicht aufgearbeitet zu haben scheinen. Bei allem Neid auf diese crazy Zeiten: Gut, dass wir heute anders miteinander umgehen.

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Dreieinhalb Sterne von: Steffen Greiner

Zum 40. Todestag von Ian Curtis: Joy Divisions Vermächtnis

5. „Joni Mitchell – Ein Porträt“ von David Yaffe

Sie verkörperte in den 1960ern einen neuen Typ Frau: unabhängig, provokant, sich gegen Konventionen auflehnend. So zeichnet es der US-amerikanische Autor und Universitätsprofessor David Yaffe nach. Er muss es wissen, traf er Joni Mitchell doch mehrmals zum Interview. Mitchells Vita wird von ihrer Geburt in Fort Macleod, Kanada im Jahr 1943, über ihre musikalischen Anfänge mit Kompositionen wie „Both Sides Now“ – die sie zunächst Judy Collins gab, die daraus einen Top-Ten-Hit machte – bis in die jüngere Vergangenheit erzählt. Yaffe zeichnet die Entstehungsgeschichten von Alben und Songs nach, liefert interessante Einblicke in das Seelenleben, das die „unsterbliche Singer/Songwriterin unserer Sorgen“ zur jeweiligen Zeit hatte. So erfährt man beispielsweise, dass Lieder wie „Willy“ und „Old Man“ vom Musiker Graham Nash handeln, mit dem Mitchell eine Beziehung hatte. „Joni Mitchell – Ein Porträt“ ist ein fast 600 Seiten umfassendes Mammutwerk geworden, das bei all seinem erkennbaren Anspruch auf Komplettheit stets lebhaft und spannend bleibt.

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Viereinhalb Sterne von: Florian Kölsch

„United We Stream“: Live-Streaming soll Clubszene vor Corona-Insolvenz bewahren

6. „100 Gedichte & Mike Oldfield im Schaukelstuhl – Notizen eines Vaters“ von Till Lindemann und Werner Lindemann

Gerammel vom Rammsteinler, dazu Tagebuch-Einträge vom Vater. Das ergibt verschieden lesenswerte Einträge in die Rammstein-Bibliothek. Till Lindemann interessiert sich bekanntlich sehr für Geschlechtsverkehr. Diesen Umstand hält er auch in einem seiner titelgebenden 100 Gedichte fest: „Sie meinten, ich wäre tief gefallen / In ein Meer von Libido / Man sagt, ich sieche vor Verlangen“. Dass das diesbezügliche Informationsverlangen seines Publikums Grenzen haben könnte, scheint er dabei nicht zu erkennen und springt in seinem neuen Gedichtband durch die Seiten wie durch die Betten. Überall wird’s getrieben, fällt ihm die Wollust aus den Ohren, „Huch auf einmal ist er drin“. Das ermüdet schnell und belustigt nur dann, wenn es wie eine Pflichterfüllung wirkt, wie etwa im zunächst harmlosen „Kaffee“. Da freut sich Lindemann mit einem Basisvokabular über sein Heißgetränk („Ich trinke gerne Kaffee / Der schmeckt mir gut“) und dessen belebende Wirkung, um sich dann mit der Zeile „Und dann ficke ich“ zu verabschieden. Deutlich interessanter und völlig anders ist da die parallel erschienene Wiederveröffentlichung des Buchs seines Vaters Werner, „Mike Oldfield im Schaukelstuhl“. Hier beschreibt der 1993, also vor der Gründung Rammsteins gestorbene Kinderbuchautor einen Sommer Anfang der 80er-Jahre in seinem Landhaus in Mecklenburg mit seinem aufmüpfigen 19-jährigen Sohn, gelinde umschrieben als Timm.

Tagebuchartig und in behutsamer Sprache skizziert die DDR-Literaturgröße den täglich gelebten Generationenkonflikt, unterbricht sich selbst regelmäßig mit teils magenumdrehenden Erinnerungen aus seinem Fronteinsatz im Zweiten Weltkrieg. Ein faszinierendes und kurzweiliges Zeitdokument, in dem der Senior die, teils sogar handgreiflichen, Auseinandersetzungen mit dem Junior auch zum Anlass nimmt, mit sich selbst hart ins Gericht zu gehen, etwa betreffs seiner anfänglichen Hitler-Begeisterung. Nicht hart genug, meint der Sohn im anschließenden, aktuellen Nachwort in Interviewform. Vieles habe der Vater frei erfunden, meist um sich selbst in einem besseren Lichte als angemessen darzustellen, so der Rockstar, der trotz viel lobender Worte mit sichtlichen Schwierigkeiten ringt, mit dem Buch seinen Frieden zu finden. 1981/1982 entstanden, konnte das Werk erst 1988 erscheinen, da es zu starke Systemkritik enthielt. Lesenswert ist es allein schon deswegen.

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Fünf Sterne von: Stephan Rehm Rozanes

Till Lindemann erntet Shitstorm für Vergewaltigungslyrik – so reagiert der Verlag

7. „The Beatles“ von Frank Goosen

Frank Goosen über die größte Band der Welt – und die Liebe zu Michaela, Andrea und all den anderen. Frank Goosen ist ein Meister der autobiografischen Pointe. Liest man einen seiner Romane („Liegen lernen“, „Kein Wunder“), hat man das Gefühl, dass man mit einem alten Kumpel beim Bier in der Kneipe sitzt und sich über gemeinsame Erinnerungen beömmelt. Popmusik ist in Goosens Erinnerungsgeschichten immer die Antwort auf das Leben, die Liebe und einfach alles. Jetzt hat er also für die großartige KiWi-Musikbibliothek über sein Leben mit den Beatles geschrieben. Dabei spielt er seine Stärken voll aus.

Wir sind dabei, wie er in den späten 70ern zu den Beatles findet. Wir lassen uns mit ihm vom Roten Album verzaubern. Wir folgen seinen Gedankengängen, wenn er mit Beatles-Songs über die Liebe zu all den Michaelas und Andreas nachdenkt. Wir begleiten ihn auf eine Pilgerfahrt nach Liverpool, wo er seinen Kindern die Beatles näher bringen will. Vergeblich. Aber lustig zu lesen. Am Ende kombiniert er sein Nerd-Wissen über die Fab Four mit seinen Jugend-Abenteuern. Wenn man das Buch zuklappt, hat man das Gefühl, dass es da jemanden gibt, der einen wirklich versteht.

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Sechs Sterne von: Jens Buchholz

The Beatles: London nutzt den Corona-Lockdown zur Erneuerung des „Abbey Road“-Zebrastreifens

8. „Argumentepanzer“ von Ted Gaier

Texte von Goldene-Zitronen-Bassist Ted Gaier, geschrieben im Verlauf der vergangenen 20 Jahre. Viel hat sich getan in diesen zwei Dekaden. Wobei, Gegenfrage, stimmt das überhaupt? Es gibt die konstanten Konflikte, gegen die der Zeitenkritiker und Musiker Ted Gaier seine „Argumentepanzer“ auffährt: Gentrifizeriung und Gipfeltreffen, die Weltbank und die Marktmacht. Gaier schreibt in diesen gesammelten Magazinbeiträgen weder theorieverliebt noch theatralisch – und damit anders als Goldies-Kollege Kamerun. Seine Gedanken sind klar, nicht jedes Differenzierungsangebot nimmt er an. Auch entstehen am Ende keine neuen Kulturtheorien, sondern, im besten Fall, eben Argumente, zu benutzen für den Streit und die Widerworte.

Tatsächlich aus einer anderen Zeit berichten kurze Texte über den Unfug der „Jägermeister Rock Liga“ oder die unheimliche Marktmacht von Grönemeyer und Westernhagen, hier hat sich das Land verändert. Nicht alle dieser gesammelten Zeitschriftenbeiträge widmen sich der politischen Kulturkritik, zeitlos ist zum Beispiel Gaiers Einordnung der Band The Sweet, die „(…) Pickelhaube, ein Kajal-Hitlerbärtchen und eine Hakenkreuzbinde mit silberner Glitterhose, hyperfeminimem Make-up und schwulesken Posen verbindet. Wahnsinn.“

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Vier Sterne von: André Boße

Pop-Kultur: Das Festival findet am geplanten Datum statt – allerdings digital