La Street Rock


der Straße: In den USA läuten die Jungen Wilden die Wachablösung des Rock 'n' Roll ein. Guns n' Roses, L.A. Guns, Jane's Addiction, Junkyard — aufgewachsen mit Punk und Power, schicken die Street-Rocker aus Los Angeles die alte Metal-Garde dorthin, wo sie hingehört: ins Altersheim

Die Wachablösung in der harten Garde war längst überfällig. Spätestens seit sich das Sprachrohr des feinen englischen Geschmacks von übermorgen, das „i-D“-Magazin, mit der Überschrift „Der Tod des Heavy Metal — die Wiedergeburt des Rock ’n’Roll“ voll aus dem Zeitgeist-Fenster lehnte, weiß auch der letzte Mohikaner unter den Headbangern, was die Stunde geschlagen hat: Der in knallenge Spandex-Hosen gezwängte Metal-Mohr Marke Macho, mit haarspraysteifen Frisuren so groß wie Vogelnester, hat endgültig seine Schuldigkeit getan, der Metal-Mohr kann gehen.

Rock ’n‘ Roll — oder, um dem alten Ding wenigstens einen neuen Namen zu geben — der Street Rock, macht sich fit für die 90er Jahre. Trainingslager sind die Garagen an den Straßen rings um Los Angeles. Rotzfrech, zugesoffen und mit echtem Körpergeruch unter den Achseln drängen die neuen bösen Buben an das Licht der großen Bühnen und LP-Charts. Sie nennen sich Guns n‘ Roses, Faster Pussycat, L. A. Guns oder Junkyard, und sie lassen die alten Metal-Heroen à la Iron Maiden, Judas Priest bis hin zu Ozzy Osbourne plötzlich so aussehen, wie sie wirklich sind: verdammt alt.

„Sie sind nicht Hardcore, sind nicht Trash. Sie bersten vor Energie, sind draufgängerisch und total unprätentiös. Mit einem Wort: Sie kommen direkt von der Straße. Street Rock ist kein Musik-Stil, Street Rock ist eine Art zu leben. Es ist genau die Freiheit, die der Punk einst verkörperte, dann aber verlor, als er zur Mode verkam.“

Perry Farell, Sänger der ultraharten L.A.-Rocker Jane’s Addiction, erzählt damit auch ein Stück seiner eigenen Lebensgeschichte: Er hat nach seinen wilden Punk-Jahren die Haare auf Street-Rock-Länge wachsen lassen.

Nicht ganz bis zur Oberlende reicht die Matte von Ricky Warwick, vormals Gitarrist von New Model Army und inzwischen Frontman der Street Rock-Debütanten The Almighty. Auch er ist ein neues Kind des Bürgersteigs, selbst wenn er akademisch fabuliert: „Die Straße als Sinnbild eines gewandelten Lebensgefühls rückt auch im Rock immer stärker in den Vordergrund. Wir lassen uns zum Beispiel vom Geist und den Eigenschaften der Punk-Generation inspirieren, gepaart mit Anleihen bei AC/DC und Motörhead. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sind die Schlüssel zum Verständnis der neuen Rock-Szene. „

Exzessiv, ehrlich und die schiere Lust am Klotzen (auf der Bühne und im richtigen Leben) — alles schon mal da gewesen. Der Unterschied: Das Prädikat „Sex, Drugs & Rock ’n‘ Roll“, mit dem die fett gewordenen Mega-Verdiener des Rock inflationär um sich werfen, brauchen sich die Jungen Wilden nicht zu verdienen, sie leben es einfach. Populärstes Beispiel für diese neue, echte Street Credibility: natürlich Guns n‘ Roses, laut i-D „die mit Abstand einflußreichste Band dieses Jahrzehnts“.

Ihr APPETITE FOR DESTRUCTION, so auch der Titel ihres Millionen-Debüts von 1987, ist durchaus ernst gemeint. Fünf wilde Typen, bleich wie Junkies, in zerrissenen Jeans, über und über tätowiert, dazu mit deftig-schlüpfrigen Phantasie-Namen wie W. Axl Rose (bürgerlicher Name: Bill Bailey), Slash (Saul Hudson), oder Izzy Stradlin (Jeff Isabelle). Sie fühlen sich als die Einäugigen unter den Blinden, singen und spielen das schmierig-geile Hohelied auf die Lust am Saufen, Huren, Kiffen, Prügeln und überhaupt alles, was (diesen) Männern Spaß macht.

Das Chaos um jeden Preis feiert Premiere — am klarsten ausgedrückt in dem Song „Welcome To The Jungle“. Die Straße als Dschungel der Großstadt: „Wir ziehen nicht einfach nur um die Häuser, immer auf der Suche nach Krawall und Randale.

Aber zum Überlebenskampf auf der Straße gehört nun mal, daß man sich von niemandem blöd anmachen lassen darf. Deshalb nehmen wir auch die kleinsten Provokationen ernst. Das ergibt oft das totale Chaos, bei dem schon mal irgendein Arschloch eins aufs Maul kriegt. Aber das ist es doch, was den Rock n‘ Roll ausmacht“, erzählt G-n‘-R-Gitarrist Slash, der zur Zeit erwägt, die U-Haft-Zellen als zweiten Wohnsitz anzumelden.

Und das kann er mindestens seit 1985. Vom späteren L.A.-Guns-Kopf und -Gitarristen Tracii Guns und Ex-Hollywood Rose-Shouter W. Axl Rose aus der Gosse gehoben, haben sich die Street-Rock-Rebellen aus Angeles zum Prototyp (oder besser:

Prolotyp) der amerikanischen Szene gemausert. Ein Skandal iagt den nächsten, ist heute mal Izzy, morgen dann Slash in irgendeine blutige Balgerei verwickelt, wird W. Axl Rose vom amerikanischen „Rolling Stone“ gar zum manisch depressiven Psychoten abgestempelt.

Der jüngste Vorfall spricht Bände: Erst nach Zahlung von ungefähr 10.000 DM wurde Izzy Stradlin kürzlich wieder auf freien Fuß gesetzt. Er hatte auf einem Flug von Indianapolis nach L.A. seine pralle Blase vor den Augen sämtlicher Fluggäste entleert und war deshalb bei der Zwischenlandung in Phoenix prompt hinter Gitter gesteckt worden. Izzys lapidare Entschuldigung:

„Was kann ich dafür, wenn diese nadelgestreiften Büro-Scheißer permanent das Klo blockieren?“ Kein Wunder also, daß mittlerweile Jo Richardson, die Henna-spritzende Sprecherin der Frauen-Fraktion in der englischen Labour-Partei, den Fall Guns n‘ Roses sogar vors Parlament bringen will. Die Dame war entrüstet über das Cover der APPETITE FOR DESTRUCTION-LP, das eine vergewaltigte Frau zeigt und (allerdings nur in den USA) nach massivem Druck amerikanischer Frauenrechtsverbände aus dem Verkehr gezogen und geändert wurde. Ihr Kommentar: „Das ist das Werk von Perversen.“

So skandalös die Roses-Attacken gegen öffentliche Moral, Sitte und Anstand bisweilen auch sein mögen, so autobiographisch, aus ihrem täglichen Leben gegriffen, sind sie doch in letzter Konsequenz. Schon früh muckten die Fünf auf, ließen sich weder von den Eltern noch anderen Sittlichkeits-Instituten einen Bürger-Bären aufbinden, sondern fielen wie die Wespenpest, aus allen Himmelsrichtungen kommend, ins Mekka des US-Metal Los Angeles ein. Dort zerlegten sie erst einmal alles, was nicht niet- und nagelfest war. Mit Erfolg: „Wir haben so laut gespielt und soviel Stühle durchs Fenster geschmissen, bis den Plattenfirmen nichts anderes übrig blieb, als uns zu entdecken „, reibt sich Izzy die Hände, schränkt aber gleich ein: „Wir mußten lange Scheiße fressen, um dorthin zu kommen, wo wir heute stehen, „

„Wir sind keine Kaputtniks oder Berufs-Chaoten“, wiegelt Slash ab. „Klar, wenn man uns natürlich mit all diesen LA.-typischen Glamour-Typen und Posern vergleicht, fällt der krasse Unterschied schon ins Auge. Trotzdem, wir sind keine Schmuddelkinder, auch wenn wir noch so sleazy aussehen. Uns geht’s in unseren Songs und Auftreten vielmehr darum, all den Dampf, der sich im Laufe der Jahre aufgestaut hat, auf einen Schlag abzulassen. „

Wie weiland der Punk in seiner kurzen Blüte, blasen fast alle Bands zum Sturm auf die Bastille des Rock-Establishments. Und wie im England der späten 7üer Jahre kommt auch hier die Bewegung von unten: Musikbesessene Kids, mit Punk in die Pubertät gedröhnt, wehren sich gegen Techno-Overkill und sulzigen Mainstream mit dem Besten, was sie haben

ihrer Wut, Virtuosität, Studio-Tricks und Hit-Orientierung kennen sie genausowenig wie früher die Sex Pistols. Street Rocker wie L.A.-Guns-Kanonier Tracil Guns erheben deshalb auch keinen Anspruch auf Originalität: „Rock n‘ Roll war früher mal eine Form des Protests. Nimm zum Beispiel nur die Stones und Who in den 60er Jahren: Die lebten den Rock ’n‘ Roll wirklich. Dagegen heute — mit all den angepaßten, chartsgeilen Bands, möglichst nicht auffallen, möglichst nirgends anecken. Wir können an einem Abend fünf verschiedene Fassungen vom Stones-Klassiker ‚Satisfaction‘ spielen, und die Leute rasten aus, weil sie uns den Inhalt des Songs abnehmen. Kannst du dir das bei einer Band wie Mötley Crüe vorstellen?“

Neu ist das alles nicht, was aus den Street-Rock-Rillen dröhnt. Zumindest aber ist es genial zusammengeklaut. Ahnen wie Iggy Pop, MC 5, Sex Pistols, Ramones oder der Pistols-Gitarrist Steve Jones werden zitiert, die alten Traditionen des Rock n‘ Roll beschwört: W. Axl Rose liebt Led Zeppelin, Grand Funk Railroad und Nazareth, Slash hört Robert Johnson, George Michael und Frank Sinatra. Bang Tango setzen auf ihre Funk-Metal-Schmelze, Junkyard auf ihre Punk-Garagen-Vergangenheit, Raging Slab zitieren fleißig Metallica meets Lynyrd Skynyrd, und die aus Australien stammenden, mittlerweile in New York beheimateten Kings Of The Sun lassen mit Vorliebe AC/ DC-Gitarren gegen ZZ Top-Rhythmen antreten. Alles in allem:

NOTHING’S SHOCKING, wie die Krawalleure von Jane’s Addiction gern hinausposaunen. Alles ist erlaubt, Hauptsache es kracht.

„Keine Frage, natürlich wär’s eine große Ehre für uns, wenn sich unsere verehrten Idole Jimmy Page und Aerosmith mal unsere Musik anhörten und sie gut fänden. Mir wär’s andererseits peinlich, einem Musiker von Led Zeppelin über den Weg zu laufen und mir den Vormirf gefallen zu lassen, ihre Songs geklaut zu haben“, meint Ron Yocom von Sea Hags, einem weiteren Street Rock-Newcomer mit Psychedelic-Touch aus San Francisco.

Für die internationale Plattenindustrie, die dutzendweise mit Barschecks die Street-Bands aus deren Independent-Deals herauskauft, rechnet sich der Schmuddelrock schon heute: Außer der Versorgung mit legalen und halblegalen Stimulanzen sind die Bands ziemlich anspruchslos und sie sorgen mit ihren Eskapaden für kostenlosen Medienrummel. Noch nicht einmal die Studiokosten — bei den Marathon-Sessions der Alt-Rocker oft in Millionenhöhe — schlagen zu Buche: Der harte Nachwuchs fummelt nicht lang an den Reglern, er spritzt lieber schnell ab. Die Roses, stolze Besitzer eines eigenen, auf den Namen „Uzi Suicide“ getauften Labels, spielen gar mit dem Gedanken, erneut eine Akustik-Scheibe auf den Markt zu werfen, diesmal allerdings mit Cover-Versionen ihrer liebsten Punk-Bands.

Leisten können sie sich das, die Mannen um W. Axl Rose, denn ihre Popularität ist so groß, daß die Plattenfirma auch Kuhscheiße zu Gold machen könnte, Hauptsache, es steht „Guns n‘ Roses“ drauf. Ob die Rosen und all ihre jungen Kollegen von der harten Front allerdings die drohende Total-Vermarktung überleben können, die Ende der 70er schon den Punk salonfähig und damit überflüssig gemacht hat, diese Frage vermag auch Slash nicht zu beantworten:

„Solange wir trotz aller Millionen unseren Lebensstil nicht ändern müssen und wir weiterhin für Leute spielen, die aus den gleichen Verhältnissen stammen wie wir, braucht sich niemand Sorgen zu machen.“