Kurt Cobain: Kurt Cobain lebt


Die definitive Nirvana Platte steht vor ihrer Veröffentlichung. Und auch in Büchern und Bildbänden ist Kurt Cobain lebendiger als vor seinem Tod.

Ein Schuß, den man in der ganzen Welt hörte, beendete Kurt Cobains Leben – nicht aber seine Existenz. In den Köpfen von Millionen Nirvana-Fans lebt der Rockstar wider Willen weiter. Daran hat eine ganze Industrie beträchtlichen Anteil. Denn genau wie mit Elvis, Jim Morrison, Janis Joplin, Jimi Hendrix und John Lennon ist auch mit Kurt Cobain noch gutes Geld zu machen – ein Kult wird kommerzialisiert Mit Büchern und Bildbänden, Platten und Videos.

Was Bücher betrifft, können die Fans mittlerweile auf drei Pulikationen zurückgreifen. Als Standardwerk gilt Michael Azerrads „Come As You Are“, das allerdings im englischen Original bereits ein halbes Jahr vor Kurts Tod veröffentlicht wurde. Inzwischen ist die 380 Seiten starke Biographie auch in deutscher Sprache erhältlich. Das Buch ist bestens recherchiert, informativ und gefällig geschrieben. Der Nirvana-Fan wird über Werdegang und Motive seiner Band also eingehend aufgeklärt. Ein Schnellschuß zum Abschöpfen von Kohle ist dagegen Dave Thomsons „Never Fade Away“. Die auch in den USA posthum veröffentlichte Biographie ist hierzulande unter dem Titel „Nirvana – Das schnelle Leben djes Kurt Citoin“ im Heyne Verlag erschieBfe Wenn Thomson seine Inforr^mbnen nicht gerade aus Azerrads Buch bezieht, dann stellt er bizarre und unsinnige Behauptungen auf, die jeder Grundlage entbehren. So

mutmaßt erzürn Beispiel, daß Cobains Heroinsucht der Grund für seine songschreiberische Leistungsexplosion (von „Bleach“ hin zu „Nevermind“) gewesen sei. Doch abgesehen davon, daß ein Großteil der „Nevermind“-Songs schon lange entstanden war, bevor Cobain Heroin nahm (was der „In Bloom“-Videoclip für die zweite Sub-Pop-Videocompilation und diverse Bootlegs mit Demoaufnahmen beweisen), weiß man, daß die Droge eine eher kreativitätshemmende Wirkung besitzt. Die katastrophale Übersetzung von „Never Fade Away“ schließlich raubt dem Buch zudem auch noch jeglichen Unterhaltungswert.

Am besten ist man als interessierter Fan mit Gina Arnolds „Route 666 – On The Road To Nirvana“ bedient. Als Journalistin und Fan in einer Person beleuchtet die Autorin die US-Underground-Szene von den frühen 8oern bis in die heutigen Tage. Und obwohl in diesem Zusammenhang von Black Flag bis Fugazi viele Gruppen liebevoll vorgestellt und eingeschätzt werden, ziehen sich Nirvana wie ein roter Faden durch diesen Band. Ein Buch, das angenehm subjektiv und distanzlos, eben ein echtes Herzenswerk ist. Einziger Haken: Es gibt keine deutsche Übersetzung. Potentielle Interessenten müssen daher nach dem US-Import suchen.

Dagegen fällt die Suche nach einem Kino, in dem das Leben

von Cobain auf der Leinwand begutachtet werden kann, vorerst flach. Ein entsprechendes Projekt, das nach der Vorlage des gruseligen „Never Fade Away“ verwirklicht werden sollte, wurde ad acta gelegt. Derweil kämpfen allerdings zwei weitere Fanartikel um die Krone der posthumen Geschmacklosigkeit: ein T-Shirt mit dem Abdruck von Kurts Abschiedsbrief, das zwei geschäftstüchtige Boys in Seattle an den Mann zu bringen versuchen, und die gräßliche Dancefloor-Version von „Smells Like Teen Spirit“, deren Clip sich im „Viva“-Fernsehen größter Beliebtheit erfreut. Um die Person Kurt Cobain, seine Intentionen und Aussagen, scheren sich die, die mit dem verblichenen Rockstar eine schnelle Mark machen wollen, herzlich wenig. Im postmortalen Trubel um Cobains Selbstmord ging allzu oft unter, daß Kurt ein schüchterner, wortkarger Eigenbrötler war, dessen manische Depressionen – ausgelöst vermutlich durch die Trennung seiner Eltern, als Kurt gerade sieben war ¿ und unerträgliche Magenschmerzen ihn letztlich in die oft strapazierte Heroinsucht führten.

Doch gibt es auch Veröffentlichungen, über die sich alle, die Cobain bis heute betrauern, nachhaltig freuen dürfen. So arbeiten Nirvana selbst an einem Gedächtnisalbum, das Ende Oktober/Anfang November auf dem Markt erscheinen soll. Die Doppel-CD „Verse Chorus Verse“, die Bassist Krist Novoselic und Drummer Dave Grohl als ultimatives Nirvana-Vermächtnis derzeit zusammenstellen, wird 30 Songs umfassen – neben Live-Mitschnitten aus den Jahren 1989 bis 1994 auch das komplette MTV-Unplugged-Konzert sowie mit „Something in the Way“ und „Oh Me“ zwei Songs, die beim Fernsehen der Schere zum Opfer fielen. Dazu Mark Kates von Nirvanas Plattenfirma Geffen Records: „Beide CDs des Doppelalbums werden die Stimmung einer Nirvana-Show widerspiegeln. Die eine wird einen harten, elektrisch verstärkten Auftritt darstellen, die andere, der akustische MTV-Set, steht Klatsch in den Kolumnen:

Cobains Asche im Teddybär?

für jenen denkwürdigen Abend, an dem die Band ihre Vielseitigkeit dokumentierte.“ Und Kates fügt hinzu: „Die Nirvana-Fans mußten sich lange mit armseligen Bootlegs zufriedengeben. Jetzt wollen wir ihnen die besten Auftritte im bestmöglichen Sound als überragendes Paket liefern.“

Und diese Würdigung tut not. Waren Nirvana anfangs noch die Helden des Untergrunds, so wurden sie mit „Smells Like Teen Spirit“ – aus völlig verständlichen Gründen – zum Idol einer ganzen, über weite Strecken desorientierten Generation. Cobains wütende, verzweifelte Texte, die weit mehr zu bieten hatten als nur versteckte Anspielungen auf Selbstmord, seine gepeinigte, ausdrucksstarke Stimme und sein gequälter Gitarrenstil traf einen unviserseilen Geist, den viele zum Lebensgefühl der 90er Jahre erklärten. Pearl Jam, Soundgarden, den Smashing Pumpkins, Alice In Chains und den Red Hot Chili Peppers wurden von Nirvana Tür und Tor geöffnet.

Für „In Utero“, sein wahres Vermächtnis, hatte Cobain noch einmal all seine Kräfte gesammelt. Ein Meilenstein, dessen makellose, hinter apokalyptischen Lärmfetzen stets durchscheinende Schönheit so lange Bestand haben wird, wie es Rockmusik gibt. In all seiner Zerrissenheit, seinem diabolischen und resignierten Humor und seinen unberechenbaren Stimmungsschwankungen kam „In Utero“ der Person Cobains am nächsten. Ihm selbst brach es das Herz, daß im Vorfeld der Veröffentlichung nur über die angebliche Unkommerzialität der Platte und den Ärger um ihren Arbeitstitel „I Hate Myself and I Want to Die“ diskutiert wurde. Frustriert nahm Cobain die kontroversesten Titel (u.a. den verkappten Titelsong und „Moist Vagina“, dessen unschlagbarer Refrain „Mari-juana“ jetzt auf der „All Apologies“-Maxi zu hören ist) von der LP. Als „In Utero“ schließlich auf dem Markt erschien, war Cobain ausgelaugt und völlig am Ende. Sechs Monate später war er tot.

Physisch, wohlgemerkt. Nicht aber in den Herzen seiner Fans, die auch unter großen Rockmusikern zu finden sind. Neil Young, der von Cobain im Abschiedsbrief mit den Worten „It s better to burn out than to fade away“ zitiert wurde, schwor nach dem Selbstmord seines jungen Kollegen, das Lied, aus dem die Zeilen stammen („Hey Hey My My“) nie wieder live zu spielen – und widmete Kurt und seiner Witwe Courtney Love den Song „Sleeps with Angels“ („Der bei den Engeln schläft“), den Titeltrack seines aktuellen Album. Auch Michael Stipe von R.E.M. stand Cobain nahe. Die beiden hatten sogar begonnen, gemeinsam an einem Album zu arbeiten. Auf der neuen R.E.M.-LP „Monster“ huldigt Stipe seinem Freund mit dem Song „Let Me In“. Und sogar lan Astbury und The Cult, die nie ein besonders enges Verhältnis zu Nirvana hatten, gedenken Kurt Cobain auf ihrer aktuellen Platte. In einem Video der Gruppe Hole, der Band von Cobains hinterbliebener Ehefrau Courtney Love, wird Kurt gar in verhaltener Form von einem jungen Schauspieler dargestellt. Kein Zweifel also, der unglückliche Held der Generation X lebt. Auch wenn er inzwischen bei den Engeln schläft.