Krieg ausräumen
Die Reunion der 90er-Jahre-Deutschrocker Selig ist offenbar primär als friedenschaffende Maßnahme zu verstehen.
„Nein, wegen des Geldes haben wir es nicht getan!“, spricht Selig-Drummer Stephan „Stoppel“ Eggen salbungsvoll ins Mikrofon. Ist zwar nur die Tonprobe für den Kassettenrekorder, offenbar aber wichtiges Thema – und running gag für die wiedervereince Band. Alle lachen kurz auf, inklusive der Dame von der Plattenfirma, die die Hamburger während des Gesprächs nicht aus den Augen lässt. Ungewöhnlich, gerade für eine Band, die nicht mehr so jung und schon gar nicht unerfahren ist. Man ist offenbar besonders vorsichtig mit dem großen Comeback „einer der wichtigsten deutschsprachigen Bands der 90er“, wie es auf der Band-Homepage ganz unbescheiden heißt. Geladen werden die Journalisten in München stilecht in die gediegene Zigarrenlounge eines privaten „Business-Clubs“. Dort sitzen drei der fünf Jetzt-wieder-Selig-Männer-Eggert, Sänger Jan Plewka und Keyboarder Malte Neumann – in edelstem Ambiente. „Selig“, erinnert sich Plewka an die große Zeit in den 90ern, „das waren vier Jahre Achterhahnfahrt, die andere wahrscheinlich in die Klapse oder umgebracht hätten. Wir waren 48 Stunden am Tag nur Selig, Selig, Selig. Wir hatten kein anderes soziales Umfeld mehr und sind am Ende an Reizüberflutung fast erstickt. Wie die Reiter der Apokalypse sind wir direkt in den Wahnsinn geritten.“ Tatsächlich war das Pensum enorm, das Selig zwischen 1994 und 1997 – da waren sie alle Mitte 20 – absolvierten: drei Studioalben, 14 Videos, ausgedehnte Tourneen und wohl auch viel Feierei. Und ja, tatsächlich haben Selig damals mit von Grunge und Hippie-Rock inspirierten Songs wie „Ohne dich“ und „Wenn ich wollte“ die deutsche Musikszene mitgeprägt und einen ziemlichen Hype verursacht. Nach vier Jahren war dann abrupt Schluss. „Wir konnten uns nicht mehr ertragen vor lauter Egokram“, sagt Plewka und fügt mit der ihm eigenen esoterischen Wolkigkeit an: „Wenn Kraftfelder aufeinandertreffen, die nicht mehr zusammenpassen, dann sollten sie auseinandergehen, bevor etwas Schreckliches passiert.“
Besonders zwischen Plewka und Gitarrist Christian Neander ging es offenbar gar nicht mehr. „Stell nie einen Gitarristen und einen Sänger zusammen auf eine Bühne“, sagt Plewka mit schiefem Lächeln. Zehn Jahre sprach man so gut wie nicht miteinander, so groß war der Groll. Alle machten weiter Musik, mehr oder weniger erfolglos. Plewka und Eggert hatten unter anderem TempEau am Start, Neander spielte bei Kungfu. Im Herbst 2007 trommelten Plewka und Eggert erstmals wieder alle zusammen, an einen Restauranttisch. „Das war ganz schön ernst , sagt Eggert. „Es ging sofort ans Eingemachte.“
Ein halbes Jahr und viele Mails hat es gebraucht, um überhaupt wieder zusammen die Instrumente in die Hand zu nehmen. Dann allerdings, sagen Selig jetzt, sei alles aufgearbeitet und vergeben gewesen. Und: Wunderbar gelaufen sei die Zusammenarbeit nach der langen Zeit. Tatsächlich klingt das neue Album UND ENDLICH UNENDLICH vor allem wie eine Selig-Platte. Etwas aus der Zeit gefallen, weil sich Gitarrenrock heute anders anhört. Ein Comeback-Versuch könnte natürlich dem „Mythos Selig“ auch schaden. Aber, sagt Neumann, primär gehe es darum, dass man sich wieder in die Augen schauen kann. „Frieden schließen und den Krieg ausräumen“, sagt Plewka. Frieden, den wünsche man überhaupt allen Menschen. Konterpart Christian Neander kann man dazu leider nicht befragen. Er ist beim Interview nicht dabei.
Albumkritik S. 89
www.selig.eu