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Kraftwerk-Chef Ralf Hütter im Interview: „Ich höre die Stille und die Welt“


Aus dem ME 08/2017: Musikexpress-Redakteur Albert Koch wollte 1997 einmal ein Interview mit Kraftwerk-Chef Ralf Hütter haben – 20 Jahre später hatte er es bekommen.

Das Interview mit Ralf Hütter

Der Roboter Ralf

Musikexpress: Ich weiß, dass du nicht gerne interviewt wirst, über was würdest du gerne reden?

Ralf Hütter: Nicht über Musik (lacht). Doch über Musik. Ich finde es immer gut, wenn jemand, der gut schreiben kann, also mehr und besser als ich, sich über Kraftwerk äußert. Anstatt, dass ich mich zu einem Konzert oder einem Album noch einmal äußern muss. Ich finde die Kunstform, die wir machen, die Konzerte, die Performances mit den visuellen Dingen, die wir selbst erarbeitet haben, die kombiniert schon Wort und Ton und Bild und Film. Es gibt andere Künstler, die machen speziell Musik und arbeiten dann mit einem Fotografen, einem Grafiker oder einem anderen Künstler zusammen, der dann der Musik ein anderes Kunstgebiet hinzufügt. Wir arbeiten mit diesen multimedialen Sachen eigentlich schon von Anfang an. Wir haben die Plattencovers alle gestaltet, das weißt du ja. Wir haben selbst Polaroids aufgenommen und in einer halben Stunde das Cover gemacht. Und später haben wir dann die Gemälde mit unserem Künstler-Freund Emil Schult zusammen skizziert und erarbeitet. Florian (Schneider, Kraftwerk-Mitgründer – Anm. d. Red) ist ein sehr talentierter Zeichner, er hat Comics gezeichnet, ich selber habe viel mit Fotos und Film experimentiert, mit einem Kameramann zusammengearbeitet. „Multimedia“ ist ein großes Wort, aber wir haben uns auf diesen Feldern ausgedehnt. Nach den Anfangsjahren habe ich dann auch mehr Texte geschrieben, zusammen mit Emil und Florian, aber auch alleine. Das hat sich alles so entwickelt.

Trans Europa Express - Kraftwerk (1977)
Trans Europa Express (1977): Ein weiterer Schritt auf dem Weg der Popwerdung von elektronischer Musik, die perfekte Synthese von metallischen Maschinenbeats und simplen, einprägsamen Melodien.

Die Kraftwerk-Identität als audiovisuelles Gesamtkunstwerk, die Musik, das Artwork, das Konzept der Musikarbeiter die rund um die Uhr im Einsatz sind, das sich ab TRANS EUROPA EXPRESS, eigentlich schon ab RADIOAKTIVITÄT entwickelt hat, war das eine klare Vision, oder hat sich das Stück für Stück ergeben? 

Wir hatten natürlich den Wunsch, unsere Phantasie auf diesen Wegen auszudrücken. Dann hatten wir Glück, dass wir ab Anfang der 70er-Jahre, einen – wenn auch monophonen – Synthesizer und Tonbandgeräte kaufen konnten, auch einfache Kassettenrekorder. Damit hat sich die Arbeitsweise des Komponisten völlig verändert. 100 Jahre vorher musste man ein Riesenorchester engagieren. Autonomie hat uns immer interessiert. Wir konnten alles selbst machen, wir haben die Türen zugemacht im Kling-Klang-Studio und mit unseren Mitteln gearbeitet. Später, als wir ein bisschen Geld gespart hatten, konnte ich mir meinen ersten Sequenzer bauen lassen vom Synthesizerstudio in Bonn. So hat sich das technisch entwickelt: TRANS EUROPA EXPRESS war automatisierte Musik. Wir haben diese technologische Entwicklung parallel auf künstlerischer Seite mitgemacht.

„Wir funktionier’n automatik jetzt woll’n wir tanzen mechanik“

aus „Die Roboter“

Ab Anfang der 80er-Jahre haben wir die neue Digitaltechnik für uns genutzt, und Mitte der Achtziger zusammen mit Fritz Hilpert alle analogen Klänge in jahrelanger Arbeit transferiert.

„Am Heimcomputer sitz ich hier und programmier die Zukunft mir“
aus „Heimcomputer“

Uns hat besonders die Möglichkeit der Mobilität fasziniert. Wir mussten ab 1991 nicht mehr allein im Studio mit Riesenapparaten Musik machen, sondern wir konnten unser Kling-Klang-Studio hinaustragen in die Welt und Konzerte geben … Elektronische Live-Musik. Es ist wie ein Traum, der Wirklichkeit geworden ist, so kann man das schon sagen.

„Elektroklänge überall, Dezibel im Ultraschall“
aus „Techno Pop“

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Mit der Juni-Ausgabe veröffentlicht MUSIKEXPRESS ein besonderes Sammlerstück – eine exklusive Vinyl-7“-Single von Kraftwerk: „Heimcomputer“, neu abgemischt von Ralf Hütter.

In den 70ern musste bei Elektronik-Musikern möglichst viel Technik auf der Bühne stehen. 

Wir haben immer von Anfang an unser Kling-Klang-Studio auf die Bühne gebracht, also den jeweils technisch aktuellen Stand. Wir hatten nicht die Mittel, um ganze Kleiderschränke voller Technik auf die Bühne zu stellen. Ich hatte einen monophonen Synthesizer und Florian hatte einen kleinen EMS Synthi AKS. Und seit 1991 ist das Kling-Klang-Studio digital auf der Bühne. Das war phantastisch, wir konnten nachmittags beim Soundcheck in der Halle arbeiten und alle Klänge gestalten. Das ist Wahnsinn, das ist wie Malerei, wie Action Painting. Das hat mich eigentlich immer interessiert, ich fand es immer am langweiligsten, einfach nur die Musik zu reproduzieren und nicht mehr eingreifen zu können. Unser Repertoire ist wie ein Skript für einen Aktions-Film, das kann man verändern, damit kann man spielen, und auf der „Autobahn“ in anderen Geschwindigkeiten fahren oder andere Fahrzeuge abbilden und heutzutage mit den visuellen Möglichkeiten unserer Computer können wir synthetische Filme machen. Diese Entwicklung fängt gerade erst so richtig an.

Wie ist die Idee mit den 3-D-Projektionen entstanden?

Die ist auch wieder entstanden durch Improvisieren an den Computern. Jemand hat uns gesagt, dass es jetzt eine 3-D-Software gibt und wir haben uns entschieden, das probieren wir mal aus. Dann haben wir das 2009 bei unserem Konzert in Wolfsburg bei der Zugabe für drei Songs ausprobiert. Vorher hieß es, wie wollt ihr das denn machen mit den 3-D-Brillen? Das ist gar nicht zu organisieren! Das wird ein Chaos … aber wir haben es geschafft, man muss es einfach nur machen.

Ab den 1990ern, als Techno und House auch im Mainstream populär wurden, wurden Kraftwerk als die großen Vordenker und Einflussgeber auf die aktuelle elektronische Musik gefeiert. Hat diese Sichtweise in irgendeiner Form Auswirkungen auf deine Arbeit gehabt?

Wir haben das immer als Energieströme bezeichnet, die zu uns zurückkommen. In den späten 60ern, als wir angefangen hatten, hieß es: Die Knöpfchendreher sind nicht fähig, ein Instrument zu spielen. Das hat uns aber selbst nie gestört. Wir wussten genau, was wir da machen. Es ist natürlich fantastisch, dass wir später aus verschiedenen Kulturkreisen, aus Detroit, Chicago oder auch aus England Feedback bekommen haben von Musikerkollegen. Das hat uns total bestärkt.

Du hast es gerade angesprochen: Kraftwerk wurden nicht schon immer als Heilige verehrt. In den 70er-Jahren wurde elektronische Musik von den Befürwortern „handgemachter“ Musik verteufelt. Was heute noch für Animositäten in beiden Lagern sorgt. Wie hast du das damals wahrgenommen?

Man kann auch mit der Hand an den Knöpfchen drehen. Durch unsere geistige Verwandtschaft zu David Bowie und Iggy Pop zu bestimmten Zeiten haben wir ganz früh begriffen, dass sich alles gegenseitig inspiriert. Wer da Mauern aufbauen muss, kann sich nicht öffnen und hat diese Trennung nötig.

Kratwerk, die Menschen, im Konzert: Ralf Hütter, Henning Schmitz, Fritz Hilpert und Falk Grieffenhagen (v.l.)

Man weiß nicht viel über dich als Privatperson, aber ein Aspekt von Kraftwerk wird selten erwähnt: der Humor, der in der Musik liegt, in manchen Sounds, die Texte, die mit der deutschen Sprache spielen.

Ja, das ist schwarzer Humor. Ernsthafte Hingabe und Humor sind ganz enge Verwandte. Es ist auch sehr befreiend. Wenn man wie wir nach ganz strengen Regeln arbeitet, dann kann man dieses nicht machen oder jenes. Der Humor aber öffnet uns Türen auch zur Ernsthaftigkeit, zum Wandel und zur Freiheit.

„Boing Boom Tschak“

– aus „Boing Boom Tschak“

Mark E. Smith von The Fall hat einmal gesagt, „Auch wenn’s nur ich und deine Oma an den Bongos sind, dann ist es immer noch The Fall.“ Ist Kraftwerk Ralf Hütter plus x?

Ich habe Ende der Sechzigerjahre Kraftwerk mit meinem Partner Florian Schneider praktisch aus der Stille erschaffen. Er hat sich 2007 zurückgezogen auf seine anderen Interessensgebiete, und ich mache immer weiter. Kraftwerk ist mein künstlerisches Leben.

PETER BOETTCHER
Klingklang/EMI/Capitol Records
PETER BOETTCHER