Kraftwerk
Seit fast zwei Jahren sind Kraftwerk hierzulande nicht mehr auf die Bühne gegangen, und so muß man sich schon ins Ausland bemühen, um sie live sehen zu können. Am 10. Oktober spielten sie im gutbesuchten Roundhouse in London, wo manche Leute gar zu tanzen anfingen und begeistert deutsche Texte mitmurmelten. Für Kraftwerk war es das letzte Konzert einer fünfwöchigen Europatournee durch Holland, Belgien, Schweiz, Österreich, Frankreich und England. Nach dem Fazit der Reise befragt, antworten Ralf Hütter und Florian Schneider, die ihre Interviews stets gemeinsam geben, mit einem knappen "Korrekt."
Ralf: Es war unsere erste Europatournee, im vergangenen Jahr haben wir nur drei Monate in Amerika gespielt. Jetzt ist Europa dran, weil es Gegenstand unseres neuen Albums „Transeuropa Express“ sein wird. Und diese Tournee war sozusagen eine geistige Stimulanz für die LP.
ME: Was ist euch in Amerika besonders aufgefallen?
Florian: Es hat uns erst einmal klargemacht, wo wir eigentlich herkommen, wer wir sind, und warum wir so stark auf die Leute wirken. Wir haben nämlich eine starke Wirkung festgestellt, ein grosses Erstaunen.
Ralf: Dieser wahnsinnige Abstand, über den Transatlantik zu fliegen, hat uns im wahrsten Sinne des Wortes Selbstvertrauen gegeben. Du siehst dich plötzlich selbst auf der Bühne stehen, sozusagen als Beobachter.
ME: Seid ihr dadurch freier geworden ?
Ralf: Etwas schon. Wir hatten es hier immer unheimlich schwer. Wir wurden zwar akzeptiert, liefen aber mit unseren Sachen überall durch. Man hat über uns immer gesagt, das sind die Spinner, die Bastelfreaks. Während uns die Leute in Amerika unmittelbar akzeptiert haben, so wie wir uns selbst akzeptieren.
Florian: Dabei war das zum Teil ein wirklich hartes Publikum, Rocker…
Ralf: …die standen unheimlich drauf, fingen an zu tanzen… das hat uns weitergebracht. In Deutschland hätten wir vielleicht noch lange in unserem Kämmerlein gesessen, hätten Paranoia bekommen. Dort konnten wir ganz aus uns rausgehen, und jetzt gehen wir auch immer weiter.
Florian: Unser Atem ist länger geworden, wir können mehr reinpusten.
Ralf: Wir hatten auch viele Farbige im Publikum. In Deutschland denken noch viele, unsere Musik sei nur Kultur. Einige haben’s dort Space-Boogie oder Techno-Boogie genannt.
Florian: Und ein Typ hat mal ganz spontan gemeint, daß eines unserer Stücke so ein wildgewordener Boogie von ’ner Schreibmaschine und ’nem Staubsauger sei. Seh‘ ich zum Teil auch so, da laufen richtige Comics ab, die Maschine spielt sich selbst.
ME: Ihr habt jede Menge neuer Maschinen, was steht da eigentlich alles auf der Bühne?
Ralf: Ich hab‘ eine Laser-Lichtorgel. Das ist ein amerikanisches Fabrikat und besser als ein Mellotron. Du hast Lichttonplatten, die Klänge produzieren und durch Laserlichtdruck abgetastet werden.
Florian: Das System gibt’s natürlich schon seit den Filmzeiten.
Ralf: Und dann habe ich einen Sequenzer, eine automatische Musikmaschine, die spielt die durchlaufenden Motive.
ME: Das klingt fast ein bißchen wie Hammerklavier?
Ralf: Ja, dideldum, dideldum… und dann unsere beiden kleinen Synthesizer…
ME: Man hört bei euch im Gegensatz zu früher jetzt unheimlich viele Stimmen und Gesang.
Ralf: Mich interessiert vor allem die menschliche Stimme. Wir haben in den beiden letzten Jahren viel damit gearbeitet, weil wir bestimmte Motive aus der menschlichen Stimme heraus entwickeln. Auf den Lichttonplatten verwende ich nur menschliche Stimmen, manchmal Geigen… nicht mehr wie früher rein instrumentale Musik, sondern vorher aufgenommene Stimmen, Sprache, Wort, Poesie und diese sprechende Schreibmaschine.
ME: Ist das diese Monsterstimme, die euch auch ankündigt?
Ralf: Ja, das ist eine völlig künstliche Stimme, eine sprechende Maschine…
Florian: Ein Sprachcomputer. Wenn du auf „a“ drückst, dann sagt der „a“. Die Tastatur ist erweitert, also neben den Druckbuchstaben kannst du auch Zwischenlaute formen, heller, tiefer usw.
Ralf: Und dann haben wir noch die beiden elektrischen Schlagzeuge und dieses Lichtschrankenschlagzeug.
Florian: Wenn also die Lichtschranke durchbrochen wird, dann löst das den Kontakt aus: Es trommelt. Und dann haben noch etwas selbst gebaut, eine elektronische Flöte, unsere Zauberflöte.
Ralf: Alle Instrumente, die wir mit unseren Ingenieuren entwickelt haben, sind patentiert. Wir wollen sie in Serie herstellen lassen, damit auch andere Leute damit spielen können.
Florian: Dann kannst du zu Hause elektrisches Schlagzeug spielen. Du kannst es einfach an deine Stereoanlage anschließen.
Ralf: Diese elektronischen Instrumente sind viel einfacher zu spielen, weil du eine Klangidee viel direkter umsetzen kannst. Ein Auto kannst du auf einem Klavier nicht so schnell reproduzieren.
Florian: Das ist elektronische Hausmusik, viele Leute schreiben uns, daß sie das interessiert.
ME: Wie entstehen eigentlich eure Stücke?
Ralf: Im Studio, durch Fummeln, Zufälle oder beim Spielen; durch gedankliche Konzeption, also Reißbrettarbeit, oder auch aufgrund reiner Ton-Fundstücke auf den Instrumenten. Oder auch in Konzerten: Da spielen wir manchmal ein Stück immer weiter, und dann wächst daraus wie ein Ast ein neues Stück.
Florian: Wir sind in einem Stadium, in dem wir praktisch alles spielen können. Es erfordert natürlich manchmal ein bißchen Zeitabstand zwischen Idee und Realisation. Aber der Weg ist mittlerweile schon sehr kurz geworden.
ME: Würdet ihr es als abwertend empfinden, wenn ich eure Musik als naive Elektronik bezeichne?
Ralf: Das kann ich schwer sagen, einige nennen sie intellektuell, andere naiv…
Florian: …simpel.
Ralf: Ich glaube, sie ist alles gleichzeitig.
ME: Ich finde, daß Elektronik bei euch besonders transparent und durchschaubar ist.
Ralf: Ja, transparent, das ist besser. Wir wollen auch, daß jeder einfach und direkt erkennen kann, was wir spielen. Wir wollen nicht mit diesen Mitteln etwas anderes transportieren, etwas, das hinter der Bühne ist, sondern nur das, was vorn ist. Deshalb haben wir auch das Neonlicht hinter uns stehen, damit wir transparent sind.
ME: Viele eurer Stücke haben als Thema Umweltgeräusche?
Ralf: Uns interessieren die Phänomene der Akustik auf der ganzen Welt, und das ist etwas, was wir jetzt vermitteln können. Am besten wäre es, wenn die Leute aus unseren Konzerten rausgehen würden und die Geräusche um sie nicht mehr als Lärm empfinden (natürlich nur solche, die nicht gehörschädlich sind), sondern als ganz normale Umweltgeräusche betrachten. Die Welt der Geräusche ist Musik.
ME: Habt ihr für eure Platten immer ein bestimmtes Konzept?
Ralf: Wir machen nicht zwölf Songs, einen über Liebe, den nächsten über Hosen, den dritten über Fußball. Selbst wenn die Sachen unterschiedlich sind, Cut-ups, dann läuft dahinter immer eine rote Linie. Die ist latent immer vorhanden.
ME: Auch wenn ihr Bänder laufen laßt?
Ralf: Ja, wir lassen auch Tapes laufen und Kassetten. Dann drückt einer auf die Taste und verläßt die Bühne. Wir zeigen genau, was wir machen.
ME: Warum überhaupt Tonbänder?
Ralf: Ein Tonband, das ist ja auch ein Instrument, eine akustische Maschine.
ME: Ihr habt inzwischen eine sehr differenzierte und ungewöhnliche Bühnenshow: Dias, den Metallkäfig, in dem ein Kopf im schwarzen UV-Licht auf- und abtanzt, das Signalspiel mit den Händen, die gleichzeitig die Impulse am Lichtschranken-Schlagzeug auslösen. Plant ihr noch mehr?
Ralf: Der Mann im UV-Käfig ist der Prototyp, das haben wir zum ersten Mal auf dieser Tournee gemacht. Wir wollen es aber noch deutlicher zeigen, daß dieses so eine Art Menschmaschine ist, eine Art Ballett. — Tanzen und im selben Moment durch die Bewegung Musik erzeugen, also tanzend Musik machen.
ME: Ihr beschäftigt euch auffallend mit dem Radio, ich denke da nicht nur an die letzte LP.
Florian: Das ist eine Hommage an das Radio, das erste elektronische Studio, das es gab. Damals haben Leute wie Stockhausen immer direkt im Radio Musik gemacht.
Ralf: Wir haben das früher immer gehört, Nachtmusik hieß es. Und das ist auch unser Background, so sind wir darauf gekommen, eine rein elektronische Gruppe zu bilden. In Amerika haben die Leute immer nach dem Grund gefragt, und wir sind auch erst drauf gekommen, als uns einfiel, welche Faszination diese Nachtmusik auf uns ausgeübt hat. Wenn’s ganz dunkel war, wir schon ins Bett gehen mußten und alles unter der Bettdecke aus dem Transistorradio hören konnten. Uns interessiert das Radiobewußtsein.
Florian: Und solche Sachen kann ja jeder ausprobieren. Wenn du an deinem Radio den Sender einstellst und die vorgeformte Information hörst, wie sie gewollt ist, dann brauchst du nur etwas wegzudrehen, z.B. nachts auf Kurzwelle, und schon hast du die verrücktesten Geräusche, Morsecodes, reine Klänge, das ist wahnsinnig; Radio Kairo und so weiter… Diese Idee, Platte als Radio…
Ralf: Das hat uns unheimlich fasziniert, schon immer. Wir wollten immer eine eigene… wir haben uns, Kraftwerk, im Kling-Klang-Studio als Radiostation gesehen. Aber in Deutschland ist das rechtlich ja nicht möglich. In Amerika haben wir Typen unserer Generation kennengelernt, die haben eigene Radiostationen, irgendwo außerhalb der Stadt in einer alten Villa. Und von dort senden sie in die Nacht hinein, gerade wie’s ihnen in den Sinn kommt, ganz direkt…
Florian: Sie haben eigene Radioprogramme Ralf: …und dröhnen ihre ureigensten Gedanken einfach in den Äther… und wir sehen uns als private Radiostation.