Kommentar: Warum will mir meine Lieblingsband erzählen, wen ich zu wählen habe?!!!11!!!11!!??


Wenn sich Mitglieder großer Bands wie Die Ärzte konkret politisch positionieren, ist das virtuelle Geschrei meistens groß. Was hat es mit dieser Anti-Haltung auf sich? Und ist sie angebracht?

In Zeiten von Facebook-Hörigkeit und genauer Reichweitenmessbarkeit freuen wir uns natürlich über jeden Klick und jeden Kommentar zu einer News wie dieser. Um an dieser Stelle mal ganz transparent zu sein: Wir schrieben sogar schon im Redaktions-Chat etwas zynisch, dass Bela B. und Co. mit ihrem Zuspruch für die Grünen sicher einen Haufen Menschen triggern werden. Das ist nicht schön, aber hey, manchmal muss man auch an die Reichweite denken. Und es stimmt ja: Dass sich zahlreiche Künstlerinnen und Künstler gemeinsam für eine bestimmte Partei aussprechen, passiert in dieser Form höchst selten. Da darf man gerne drüber diskutieren.

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So eine Nachricht mit der Frage „Wie findet ihr diesen Move?“ bei Facebook zu posten, wie wir es gemacht haben, ist ein wenig so, als würde man lachend in die Kreissäge laufen. Denn gerade „Mainstream“-Bands mit großer Reichweite, treuer Fanbasis und langer Geschichte sorgen für besonders heftige Reaktionen, wenn sie eine politische Äußerung wagen. Gleiches gilt, wenn unsere Autorinnen und Autoren mal einen politischen Kommentar schreiben zu einem Thema, das gerade auf dem Shitstorm-Radar ist. Man muss meistens nur tief Luftholen und bis zehn zählen, bis jemand kommentiert, dass man doch ein Musikmagazin sei und gefälligst nicht über Politik zu schreiben habe!

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Pop und Politik lassen sich schwer trennen

Tja, und da fängt der Bullshit schon an. Denn die Menschen, die diese Kommentare und Meldungen besonders schnell kommentieren, sind mitnichten Leserinnen und Leser, die uns oder andere Medien öfter im Blick haben. Eigentlich jedes große Musikmagazin von Rolling Stone, über Musikexpress, Spex und Intro bis zu den Online-Playern wie laut.de und diffusmag.de nutzt oder nutzte hin und wieder seinen Raum, um sich im Spannungsfeld von Popmusik und Politik zu positionieren. Denn die beiden gehörten schon immer zusammen: Vor allem im Rock, im Punk, im Rap, im Techno und im Indie ist es schlichtweg nicht möglich, durchgehend politikfrei zu (be)schreiben. Weil die Politik in den Liedern steckt, in den Interviews, in den Videos, in der Bandhistorie, in den Fangruppen und manchmal sogar in der Art, wie die Künstlerinnen und Künstler ihre Musik veröffentlichen.

Jens Friebe über Pop und Politik: „Jedes berührende unpeinliche politische Lied ist ein Wunder“

Ein Großteil der negativen Reaktionen hat also wenig mit der politischen Frage zu tun, die eigentlich verhandelt werden sollte. Oder mit der Geschichte des Mediums, das angeblich „früher“ mal „mehr über Musik“ berichtet hätte. Es ist das typische virtuelle Sichtbarmachen politischer Aggression, deren Richtung man meistens schon an den Schlagwörtern erkennt, aus denen man ein gutes Bullshit-Bingo basteln könnte. Im Falle der Grünen-News wären das „Öko-Terrorismus“, „Pädo-Partei“, „systemgetreue Künstler“, das Framen der Grünen als Partei reicher Leute, oder Fragen wie „Warum denkt jede Band jetzt was zu Politik oder Corona beitragen zu müssen?“ Bingo!

„DIESE Band ist jetzt für mich gestorben!“

Dabei ist zu beobachten, dass sich diese Kommentare je nach Bandgröße häufen. Wenn es bei Die Toten Hosen oder Die Ärzte mal um eine politische Äußerung von Seiten der Musiker geht, dann wollen viele noch mal besonders deutlich machen, dass DIESE Band nach DIESER Äußerung nun endgültig für sie gestorben wäre. Dass sich viele allein schon mit der Annahme, Die Hosen oder Die Ärzte seien mal nicht politisch (und „linksversifft“) gewesen, als Fan disqualifizieren, scheint ihnen nicht aufzufallen oder ist ihnen schlichtweg egal. Hier geht es nicht darum, sich mit der Band oder einer Aussage zu befassen, hier soll suggeriert werden, dass ein Großteil der Deutschen das Statement verachtet. Das ist bei „großen“ Bands natürlich besonders attraktiv, weil diese besonders viele Menschen im Blick haben – und nicht alle die Zeit und die Muße aufbringen, das Internet mit ihrer Meinung bzw. Anti-Haltung bzw. Rechtsdrall-Agenda vollzu … äh … posten. Ganz helle Köpfe, die da einer großen Sache auf der Spur sind, posteten unter unseren Beitrag auch Kommentare wie diesen: „Ich denke, jede Band die die CDU, FDP oder gar AfD unterstützen wollte, würde eine weit weniger ausgewogene Pressebegleitung bekommen. Ist nur so ein Gefühl.“ Mit der AfD mag er Recht haben – da spiegelt man als Journalist einfach gerne den Tonfall, den die Partei selbst vorgibt. Aber der Rest ist ein Irrglaube: Sie würden vermutlich bei uns gar keine Berichterstattung kriegen, weil Bands, die offen diese Parteien unterstützen, meistens Musik machen, die nun wirklich nicht zu uns passt – schon rein künstlerisch und kommerziell betrachtet. Kann es also vielleicht sein, dass ein Großteil der Künstlerinnen und Künster, die in unserem Teil des Rock, Rap, Pop und Indie unterwegs sind, ihre politische Heimat eher im vermeintlich „Linksgrünversifften“ haben? Nur so ein Gefühl.

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Braucht man Appelle wie diesen?

Schaufelt man diesen großen Haufen an Reaktionen bei uns und bei diversen anderen Websites und Profilen an die Seite, bleiben die eigentlichen Fragen übrig: Braucht man Appelle oder vielmehr Empfehlungen wie diese? Und mussten es die Grünen sein? Die zweite Frage ist eine interessante, die lang und breit diskutiert werden darf. Und auch wird. Selbst die vermeintlich „linksgrünversiffte“ Bubble bespricht sehr lebhaft, welche Partei denn nun wirklich eine Änderung der Politik bewirken könnte. Aber das ist ja das Schöne an einer freien Demokratie wie der unseren: Jeder darf sich – ob mit Wahl-O-Mat oder ohne – überlegen, wo er sein Kreuzchen macht und wem er am ehesten zutraut, die eigenen Interessen in konkrete Politik zu übersetzen. Ob man das öffentlich kommunizieren sollte? Siehe Absatz oben. Aber man kann es ja gut und gerne im virtuellen und realen Bekanntenkreis diskutieren.

Kommen wir also zur Kernfrage: Wie finde ich es, dass mir Kulturschaffende, deren Arbeit ich sehr schätze, sagen, dass sie grün wählen und mich bitten, es auch zu tun? Und dabei schon recht deutlich appellieren? Immerhin schreiben sie in ihrem Post: „Deshalb wählen wir am 26. September Bündnis 90/Die Grünen. Es geht nicht um Annalena Baerbock oder aufgehübschte Lebensläufe, es geht um die ökologische Transformation der Gesellschaft, um eine nachhaltige, klimabewusste und solidarische Zukunft in Deutschland und überall auf der Welt. Die zentralen Punkte ihres Programms können die Grünen nur umsetzen, wenn sie möglichst viele Stimmen bekommen. Versetzen wir sie in die Lage dazu!“

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Ein geplanter Denkanstoß

Ohne ihnen dabei unbedingt folgen zu wollen und ihre Meinung zu 100% zu teilen: Mir gefällt es, dass ich bei den Menschen, die dort unterzeichnet haben, weiß, wo sie politisch stehen. Welcher Partei sie sich gerade jetzt am Nächsten fühlen. Wir sind in der entscheidenden Phase eines Wahlkampfes, der nach 16 Jahren CDU-geführter Regierung eine spürbare Veränderung bringen könnte, wir stehen vor großen Problemen, die weit über Deutschland hinaus reichen, und wir wissen nicht erst seit dem Bericht des Weltklimarats, dass Umweltthemen die nächsten Jahrzehnte prägen werden – und zwar nicht aus Öko-Gutmenschen-Rumgespinne, sondern weil die Erderwärmung und ihre Folgen weitreichende soziale Probleme, Risiken für Leib und Leben und Verteilungskämpfe mit sich bringen werden. Diese Künstlerinnen und Künstler sagen nun also: Das zu bewältigen, trauen wir am ehesten den Grünen zu. Ist ihr gutes Recht, das so zu sehen. Und da sie sich die Zeit nehmen, aktivistisch, aber unaufdringlich zu erläutern, warum das so ist und warum sie nicht überall mit der Partei auf einer Linie sind, ist dieses Statement für mich völlig in Ordnung.

In ihrer Position erfordert es Mut und Respekt offenzulegen, wo man sein Kreuz am 26. September machen wird – weil alle Beteiligten natürlich wissen, dass sie dafür ein paar Tage lang im Internet mit Scheiße, Kotz-Smilies und ganz manchmal auch mit wirklich konstruktiver Kritik (und einer kleinen Schippe Zustimmung) beworfen werden. Und dass ein paar Tage lang niemand über ihre Kunst sprechen will. Aber genau mit diesem verinnerlichten Wissen wird die Aktion natürlich zu einem geplanten Denkanstoß.

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Ist das noch Punkrock? Und ist das nicht egal?

Klar darf man sich ganz süffisant fragen, ob das noch Punkrock ist, ob es wirklich die kitschige Sonnenblume vor grünem Hintergrund brauchte, und was aus ‚No Future‘ geworden ist. Aber ehrlich gesagt, ist mir heutzutage eine konkrete politische Positionierung in einer im internationalen Vergleich recht gut funktionierenden Demokratie mit gelebter Meinungsfreiheit lieber, als inszeniertes Anti-Gehabe ohne eigenen Ideen, das schon immer respektlos gegenüber all den Menschen auf der Welt war, die wirklich gegen ein System oder ums Überleben kämpfen müssen. Und Punkrock war im Grunde doch eh nur in den Anfangsjahren unspießig – da habe ich schon immer die Punkbands vorgezogen, die mit dieser Ironie umzugehen wissen, wie es eben Die Ärzte tun.

Regen wir uns jetzt also bitte alle wieder ab und lesen diese Aktion als das, was sie ist: Ein Versuch, Menschen, die ihre Kunst schätzen und konsumieren, von einer Partei und ihren Ideen zu überzeugen. Als Wählender kann man das in seine Überlegungen einbeziehen – oder es eben sein lassen. Aber jeder in dieser Form vorgetragene Appell ist mir lieber, als die Art und Weise, wie heutzutage Meinung und Überheblichkeit in die sozialen Medien geschissen werden – von Parteien, Medien, Fake-News-Butzen mit sehr viel Geld im Rücken und der Armee der Unzufriedenen mit zu viel Zeit vor dem Bildschirm. So gehen wir uns nämlich eh alle nur noch an die Gurgel – und kommen auch nicht weiter. Am Ende müssen nämlich alle Parteien, die in diesem Jahr zur Wahl stehen, miteinander auskommen und arbeiten – und in einer Koalition ihre Ideen an andere Interessen anpassen. Da könnte es ja vielleicht nicht schaden, wenn man die Diskussion bestimmt, aber sportlich und konstruktiv angeht, wie es die Unterzeichnenden dieser Wahlempfehlung getan haben.