Kinks
Kein Zweifel. Ray Davies ist einer der wenigen Rocker, die auch nach 20 Jahren Business noch ohne Angst in den Spiegel sehen können. Der gewöhnlich zugeknöpfte Kopf der Kinks, die nächste Woche übrigens in der "Rocknacht" auftreten, gab im Gespräch mit Steve Lake seine britische Zurückhaltung ausnahmsweise einmal auf.
Ray Davies läuft unruhig durch den Raum. Schließlich preßt er seine Stirn gegen das kalte Glas des Hotelfensters. Irgendwo in der Ferne zeichnet sich die schwarze Silhouette des Kölner Doms ab. Feine goldene Lichtstrahlen beleuchten ihn wie eine Kette aus Perlen. „Glaubst du, daß der Dom noch offen ist?“ fragt er ruhig, fast wie im Selbstgespräch.
„Vielleicht seh ich ihn mir mal an.“
Das letzte Mal – erinnert er sich – daß er in eine Kirche ging, war 1980 in Paris, als ihn ein französischer Journalist mit der Nachricht von John Lennons Ermordung überraschte. Er hatte damals in Notre Dame eine Kerze angesteckt, obwohl – er denkt grinsend daran zurück – das eigentlich nicht seiner Natur entspricht, er strenggenommen überhaupt nicht religiös ist. Seine Stimmung war anschließend sogar fast in Ekel umgeschlagen, als er wieder in England war. Das Telefon hörte überhaupt nicht mehr auf zu klingeln. Jeder versuchte auch aus ihm einen Beitrag zu dieser Woge von Sentimentalität rauszuleiern, die aus John Lennon urplötzlich einen Heiligen machen wollte.
„Sie gingen alle davon aus, daß er ein Freund und Weggefährte von mir war… die Kinks, die Beatles, die Rolling Stones – aber ich habe ihn überhaupt nicht weiter gekannt! Im BBC wurde ich in einem Interview gefragt: ‚War er ein guter Freund?‘ Ich sagte: ‚Nein. Als ich ihn zuletzt sah, war er mir gegenüber sogar ziemlich rüde.‘ Ich glaube, er hat sich vielen Leuten gegenüber so benommen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß er ein großartiger Songwriter war. Ich hatte wirklich einen Haß auf die Leute, die plötzlich alle auf den „Ich war-John-Lennons-Freund“-Zug aufsprangen. Zum Kotzen fand ich das. Ich habe, was ich damals fühlte, aufgeschrieben, aber das steht nur in meinem Notizbuch und geht keinen etwas an, weißt du? Von mir wird es jedenfalls keine John Lennon-Tributes auf Platte geben…“
Es war ein merkwürdiger Tag. Den Nachmittag verbrachte ich damit den Kinks – minus einem total erschöpften Dave Davies – zuzusehen, wie sie einen Song für „Bananas“ mimten. Die Show, so hatte man mich belehrt, sei amüsant – die Atmosphäre jedenfalls war grauenvoll. Jede Menge autoritäres Gebrüll. Eine aggressive, mit Script-Block bewaffnete Frau warf mich gleich drei, viermal aus dem Studio. (Wahrscheinlich kann ich ihr nicht mal einen Vorwurf machen.) Man hatte den Kinks zunächst zu verstehen gegeben, daß sie ihren deutschen Single-Titel „Destroyer“ vorstellen sollten. Aber der Produzent hatte sich stattdessen für „Give The People What They Want“ entschieden, ein Song, der sich als wütende Kritik am Fernsehpublikum mit seinem unstillbaren Appetit auf Mord und Totschlag und Katastrophen versteht. Der Produzent, ein kleiner rundlicher Mann mit Backenbart, schien hingegen im Glauben, es drehe sich dabei ums … Essen. Die Kinks sollten also vor einem riesigen Tisch spielen (oder zumindest so tun), der sich unter Bergen von toten Gänsen, Putern und Schweinen bog. Drumherum drängten sich ein paar extrem fette Personen in Festgarderobe.
Ray Davies – mit dem abwesenden Blick eines Mannes, den nichts mehr erschüttern kann – bekam immerhin noch ein dünnes Lächeln zustande. Die Kameras surrten, die Kinks begannen zu „spielen“, und die Fetten fingen an, an den toten Tieren zu knabbern. Sie kamen nicht weit.
„Cut! Cut!“ dröhnt die Stimme des Produzenten. „Das ist keine Dinner Party! Das ist eine römische Orgie. Ich will, daß ihr wie die Tiere freßt! Wie Schweine!“
Auf ein Neues. Die Fettwänste machen sich sabbernd und schlürfend über den Tisch her: Hühnerknochen, angekaute Äpfel, Brötchen, hartgekochte Eier fliegen durch die Luft. Einer Ohnmacht nahe, kann ich gerade noch fliehen.
Ray Davies spürt mich später in … (jawoll, ME-Leser A. Seybold!) der Hotelbar auf. Ich hatte ein Buch vor der Nase. Von I.B. Singer, einem großartigen jüdischen Schriftsteller. Davies stößt einen zustimmenden Laut aus, als er den Umschlag sieht: „Singer! Ich habe ein paar seiner Geschichten gelesen, als ich in Paris war, um ‚One For The Road‘ abzumischen. Ich glaube, er ist ein ungemein erotischer Schriftsteller. Kennst du die Geschichte von dem Lehrer, der eine Hexe heiratet? Ich war jedenfalls begeistert!…“
Und schon sind wir dabei, uns gegenseitig begeistert die Vorzüge verschiedener Autoren aufzuzählen. Ich könnte es hier wiedergeben, aber vermutlich würde es den ME-Lesern, die den „Herrn der Ringe“ (steh‘ uns bei!) an die Spitze des Polls wählten, kaum etwas bedeuten.
Um die Unterhaltung wieder auf die Kinks zu bringen, ziehe ich eine reichlich gewollte Parallele zwischen der Arbeit schwarzer Humoristen wie Celine oder Vonnegut und zwischen Rays „Give The People What They Want“. Es muß wohl geklungen haben wie ein Ausfall des amerikanischen Kritiker-Stars Greil Marcus, wenn er einen schlechten Tag erwischt. Und Davies, natürlich, durchschaut den Schwindel sofort. „Wie kannst du das, was ein Rock’n’Roll-Songschreiber zustande bringt, mit der Arbeit dieser Leute vergleichen?? Ich empfinde sie als weitaus respektabler als jemanden wie mich. Bei mir ist doch noch obendrein Prostitution im Spiel.“
Nun ja, irgendwie sind wir alle ja wohl Prostituierte.
Er lächelt. „Mit meiner Arbeit allein ist es nicht getan, weißt du. Ich muß mich verkaufen, um meine Arbeit an den Mann zu bringen. Und im Laufe der Zeit, nach den ganzen Tourneen und Interviews, ist mir der Sinn des Daseins ein wenig abhanden gekommen. Wirkliche Schriftsteller, Romanciers, die beenden ihr Buch – und damit ist es für sie abgeschlossen. Sie gehen zum nächsten Projekt über. Ich dagegen schreibe ein Album, halte mich viel zu lange im Studio auf und dann noch ein Jahr auf Tournee, um das Ding zu verkaufen. Zu diesem Zeitpunkt mag ich die Platte schon gar nichtmehr, weil ich mir dann bereits haarscharf der Dinge bewußt bin, die ich hätte anders machen müssen.“
Er denkt ein paar Minuten darüber nach. Hinter uns am Tisch versucht Mick Avory, seit 20 Jahren Rays Drummer (die Zeit vor den Kinks mit den Ravens eingerechnet), sich beim Manager der Band von Interview-Verpflichtungen freizudiskutieren. („Na gut, wenn’s fürs Radio ist, können wir’s ja auf fünf Minuten beschränken, was?“) Wenn ich Mick so ansehe, regt sich in mir eine nostalgische Erinnerung an England. Er erscheint mir wie der Inbegriff dieser bodenständigen Londoner Working Class-Sensibilität, ehrlich wie fish and chips. Den Bierkrug fest in der Hand, die grauschwarzen Haare formlos am Kopf, zunehmende Bauchwölbung. Er hätte eher in eine Muswell Hill-Kneipe gepaßt mit Sägespänen auf dem Fußboden, wo man zur Not auch mal hinspucken kann, anstatt in diese synthetische Intercontinental Hotel Bar voller Kunstleder.
„Jedenfalls“, Ray unterbricht seine Meditation, „ist es vermutlich schmeichelhaft für mich, wenn du den literarischen Aspekt ansprichst. Aber ich muß mich erst darauf einstellen, auch mit tiefschürfenderen Fragen konfrontiert zu werden. In den alten Zeiten gab es einfach nichts, was man zu “ You Really Got Me“ groß fragen konnte.“
Ja, aber es hatte davor nie einen derartigen Song gegeben. Nicht mit dieser Power und derartig explosiven Akkorden. Woher kam die Inspiration?
„Sex“ kommt es drastisch. „Sex. Teenager Sex und Sexualität. In den 60ern kam es bei den Männern zum erstenmal richtig in Mode, Frauen gegenüber fies zu sein. Das war angesagt. Da wurde mir klar, wie abgefuckt das Leben vieler Leute doch war, weil sie sich in eine normale Mann/Frau -Beziehung einfügen mußten. You Really Got Me‘ existierte zunächst als ziemlich grausamer Text, der dann einfach von dem Riff einverleibt wurde. So ein musikalisches Ding eben. Eigentlich dachte ich ja, ich würde da was Jazziges schreiben, ob du’s glaubst oder nicht. (Gelächter). Das war damals meine Vorstellung von Jazz.“
Er lehnt an der Bar und stößt bläulichen Zigarrenrauch durch seine vordere Zahnlücke aus. Es verleiht ihm das Flair eines leicht degenerierten Aristokraten.
„Sag mal,“ meint er plötzlich, „verliebst du dich oft?“
Was? Ja, das passiert schon hin und wieder.
„Sogar Reporter müssen sich verlieben. Müssen sie einfach. Das ist wirklich das kitschigste Gefühl, das es gibt. Du fragst dich, Was zum Teufel ist hier los? Warum führe ich mich derartig auf?‘ Aber es ist zugleich auch ein wunderschönes Gefühl. Ich habe darüber nachgedacht, als You Really Got Me‘ rauskam und die Leute meinten, Das ist ein Liebeslied, was?‘ Und ich sagte, ‚Nein, ich hasse diese Liebeslieder, die es so gibt.‘
Jetzt habe ich das Gefühl, daß ich wirklich gern mal imstande wäre, eins zu schreiben. Aber ich habe mich nie so richtig getraut, dermaßen deutlich zu werden. Ich habe quasi immer durch die diversen Figuren gesungen, die ich kreiert habe. Eher wie ein Dramatiker denn als Sänger/Songschreiber, der auf der Bühne seine Seele ausspuckt.
Hinzu kommt, daß ich den meisten von ihnen sowieso nicht traue. Ich bin der Meinung, daß man durchaus immer merkt, wenn ein Song von wirklicher Liebe inspiriert wurde. Ich glaube jedenfalls ganz sicher, daß ich immer sagen kann, ob ein Sänger lieber über die Liebe zu einem anderen Menschen singt als aus Eigenliebe. So gesehen ist ‚My Way‘ wohl das größte Wichslied aller Zeiten …“
Vermutlich sind es seine Gefühle für Chrissie Hynde, die Ray in einem Song manifestieren möchte. Wie inzwischen wohl jeder weiß, ist die Frontlady der Pretenders seit mehr als zwei Jahren seine Freundin. Der künstlerische Bonus dieser Affäre zeigte sich bereits in mehreren prächtigen Coverversionen seiner Songs von den Pretenders.
„Ihre Version von ‚Stop Your Sobbing‘ war wirklich großartig, definitiv viel besser als unsere. Ich glaube nicht, daß irgendjemand unsere Versionen von ‚Waterloo Sunset‘ oder ‚Sunny Aftemoon‘ übertreffen kann. Aber Chris – sie hat diesen Song seit ihrer frühesten Jugend in Amerika all die Jahre hindurch mit sich herumgetragen und hat sich dann einfach entschlossen, ihn aufzunehmen. Und ‚I Go To Sleep‘, das war ein Hit in England, ist wundervoll. Die Kinks haben es nicht einmal auf Platte, es existiert lediglich als schlechtes Demo, das ich vor ewigen Zeiten mal in einem kleinen Studio in der Denmark Street gemacht habe. Chris und die Pretenders haben es gerettet – und viel hinzugefügt. – Auch den Jam bin ich dankbar. Ihre Version von David Watts‘ hatte wirklich das Maß an Aggression, welches mir in unserer Fassung immer fehlte.“
Wirklich merkwürdig, daß die Kinks, die zu ihrer Blütezeit in den 60ern oft als leicht antiquiert galten, als Retter verlorener britischer Institutionen wie ‚The Village Green Preservation Society‘, nun die Champions einer weitaus jüngeren Generation sein sollen. In den frühen Tagen des Londoner Punk konnte man die 60er Bands an fünf Fingern abzählen, die von den Deejays noch gespielt wurden: die Stooges, Seeds, Velvet Underground, die Troggs und die Kinks. Damit hatte sich’s. Vielleicht war damals, 1976, der gemeinsame Nenner der, daß alle diese Gruppen als Verlierer galten; sie waren niemals in den Kreis der Jet Set-Prominenz aufgestiegen, während die Rolling Stones, Elton John und Rod Stewart mit Mitgliedern der königlichen Familie ein Gläschen Champagner tranken.
„Genau. Sogar in dem Film vom Roxy kommt so ein Mädchen vor, Syphillis, und singt eine total abgefuckte Version von „You Really Got Me‘. Ja, wir besaßen nie diesen Showbiz-Glamour. Am Anfang habe ich tatsächlich rein instinktiv entgegengesteuert. Was unser Wachstum schon ziemlich früh behinderte, war zum einen die Tatsache, daß wir in den ersten 18 Monaten schon eine Reihe von Hits hatten, dazu ein Album, das Nummer eins war und danach eine ziemlich kaputte follow up-LP, die Nummer zwei wurde. Und ich mußte mich davon distanzieren. Ich wußte, daß ich nicht den Weg gehen wollte, den sich das Business Establishment für mich ausgedacht hatte. Ich war den Leuten in den oberen Etagen gegenüber auch nicht besonders unterwürfig. Mit dem Resultat, daß uns einige Wege versperrt blieben. Weißt du, ich habe eine Menge Türen hinter mir zugemacht und eine Menge von Verbindungen sausen lassen, mit Hilfe derer sich unsere Karriere weitaus einfacher gestaltet hätte. Und rückblickend bin ich wirklich froh, daß ich es so gemacht habe.
Aber es bringt mich wirklich auf die Palme, wenn die Leute daraus schließen, daß ich verbittert sei, weil ich nicht so erfolgreich bin wie die Who oder die Rolling Stones. Vielleicht klingt es naiv oder meinetwegen auch geheuchelt, aber ich messe Erfolg weder an der Höhe des Bankkontos noch daran, wie oft jemand sein Foto auf dem Titelbild vom Time Magazine hat. Für mich ist das eher eine Frage der Songqualität.“
Aber trotzdem, der Tenor von „Give The People What They Want“ drückt schon eine ziemliche Verstimmung aus.
„Ja, aber diese Art von Verbitterung hat andere Ursachen. Ich habe dabei lediglich die Stimmung in den Medien in einem Jahr voller Gewalttätigkeiten reflektiert. Mord und Totschlag, und die Sache mit dem sogenannten Yorkshire Ripper Sutcliffe, der Mann, der all die Frauen vergewaltigt und umgebracht hat. Mich hat es aufgeregt, daß ihn die Medien zu einer Berühmtheit gemacht haben, weil ihnen das ganz einfach höhere Verkaufszahlen brachte.
Das Album dagegen ist härter. Einige sagen, es sei weniger poetisch. Jedenfalls hat es nicht diesen weichen Einschlag wie eine Menge von dem Material, was ich in den vergangenen Jahren geschrieben habe. Ich weiß nicht, möglicherweise wird mir da auch jeder Musik-Journalist widersprechen, aber wenn ich mir die Songs so ansehe, die ich geschrieben habe, dann habe ich das Gefühl, daß die Sachen, die ich in den vergangenen drei Jahren gemacht habe, viel beständiger sind als die Ideen, die ich meinetwegen vor zehn Jahren hatte. Vielleicht liegt es daran, daß ich reifer geworden bin – älter, wie auch immer – und weniger Zeit und Energie für irgendwelchen Bullshit übrig habe.
Es kann sogar sein, daß die Songs auf diesem Album weniger direkt mit meinem Leben verbunden sind als gewöhnlich, obwohl es da schon Überschneidungen gibt. Manchmal hatte ich schon den Verdacht, daß ich um mich herum irgendwelche Situationen aufbaute, um hinterher in der Lage zu sein, darüber zu schreiben.
Wie bei „Lola“ zum Beispiel. Das ist eine Story, die wirklich so passierte, nur daß sich das alles in Paris und nicht in Soho abspielte. Ich habe den Schauplatz verändert, weil ich die Zeile ‚I met her in a discotheque just down the road from the Arc de Triomphe‘ nicht in den Songeinpassen konnte. Ja, ich habe die ganze Nacht mit einem wunderschönen Mädchen getanzt, das sich dann plötzlich in einen Kerl verwandelte…“
Und wie bist du aus der Nummer rausgekommen?
Ray entschließt sich zu einer vorsichtigen, ausweichenden Antwort: „Mit einem Dreh in der letzten Zeile: ‚But I’m glad I’m a man and so is Lola‘. Das kannst du auffassen, wie du willst. (lacht) Ich will eigentlich nicht unbedingt so ein ausgekochter Schreiber sein, dafür bin ich nicht clever genug, aber das war wirklich eine verdammt raffinierte Schlußzeile.“
Er gibt mir einen verschwörerischen Wink: „Was läuft in dieser Stadt noch ab, heute Abend? Auf die Piste gehen, die Sau rauslassen?“
„Du mußt noch fünf Interviews machen, erinnere ich ihn.
„Das ist wahr“, sagt er und schaut nicht besonders glücklich dabei aus.