Keith Richards: Urgestein
Sein Name gilt als Synonym für Rock'n'Roll. Nach überstandenem Leitersturz und gerade absolvierter Bridges To Babylon-Tour strotzt Keith Richards vor Tatendrang. Ein Gespräch mit dem unverwüstlichen Gitarristen der Rolling Stones über Musik, Mission und Mißgeschicke.
DICKE TEPPICHE, ZWEI GOLDGERAHMTE Ölgemälde an den Wänden, dazu eine edle Sitzgruppe und künstliches Kaminfeuer. Ein Hort des Friedens mitten im hektischen Manhattan. Der abendliche Straßenlärm dringt nur gedämpft in die Suite des Plaza Hotels, gelegentliches Hupen vermischt sich mit dem beruhigenden Rauschen der Klimaanlage. Die indirekte Beleuchtung ist auf Kerzenlichtniveau zurückgedimmt. Der nächste, der diesen Raum betreten wird, ist Keith Richards, legendenumwobener Gitarrist der Rolling Stones. Nach endlosen Minuten des Wartens kündigt ein ebenso sonores wie unverkennbares Lachen draußen auf dem Flur Mister Richards an. Keith kommt, besser: schwankt durch die Tür, das unvermeidliche Glas Wodka mit Preiselbeersaft in der Hand, im Schlepptau eine burschikose Blondine der Plattenfirma. Herzliche Begrüßung, Abgang der Blondine. Der 55jährige wirkt überraschend zierlich, die Hand mit dem berühmten Totenkopfring und einer dicken Schicht Schmutz unter den Fingernägeln erstaunlich feingliedrig. Ein dünner, gepflochtener Zopf baumelt im eisgrauen Zottelhaar. Das Outfit könnte Keith ebenso auf der Bühne tragen: offenes Hemd, Seidenschal, enge schwarze Baumwollhose und an den Füßen zwei ramponierte Gebilde, die möglicherweise mal Turnschuhe waren. Mit Kennerblick inspiziert Mr. Rock’n’Roll das Mikrophon des Aufnahmegerätes, nickt anerkennend, hockt sich im Schneidersitz auf das dick gepolsterte Sofa und fixiert mich aufmunternd aus wachen braunen Augen.
Mr. Richards, wir sind überrascht: Nach zwölf Monaten auf Tournee machen die Rolling Stones keine Pause, sondern planen sogar weitere Konzerte für das kommende Jahr.
„Du bist überrascht!? Ich sag‘ Dir, ich bin sogar noch mehr überrascht. Dies ist offenbar die erste Tournee, die uns unter Kontrolle hat, nicht umgekehrt.“
Wie meinen Sie das?
„Normalerweise beginnt eine Tournee an einem bestimmten Tag, und sie endet an einem bestimmten Tag. Aber bei dieser Tournee ist es so, daß sie aus verschiedenen Gründen einfach noch nicht beendet ist. Natürlich war da diese Geschichte mit England, die uns zwang, die dort geplanten Konzerte um ein Jahr zu verschieben. Du weißt, dieser ganze Regierungskram (während die EnglandTermine schon längst feststanden, änderte die britische Regierung ihre Steuergesetzgebung. Diesen neuen Gesetzen zufolge wären die Rolling Stones während ihrer für Sommer ’98 geplanten England-Tournee in einem Maße steuerpflichtig geworden, das eine Durchführung der Konzerte nicht rentabel erscheinen ließ. Anm. d. Red.). Außerdem hatte die Band am Ende der Tournee einfach keine Lust, mit dem Spielen aufzuhören. Wir wollten weitermachen. Normalerweise arbeitest du ein ganzes lahr lang an einer Platte und bist dann ein lahr lang auf Tour. Und nach jedem Jahr sagst du anschließend, jetzt reicht’s. Aber diesmal ist es anders, alle haben Spaß und sind gut drauf. Irgendetwas ist mit dieser Band passiert.“
So ähnlich wie eine alte Dampfmaschine, die auf Touren gekommen ist?
„Ganz genau. Die Sache rollt, und man sollte sie nicht stoppen. Ich vergleiche es immer mit einem Instrument, zum Beispiel mit einer Gitarre. Wenn du sie kaufst, mag sie gut klingen. Aber je älter sie wird, desto besser klingt sie. Genauso ist es auch mit den Rolling Stones. Wir haben alle das Gefühl: Laßt uns diese Sache erforschen. Genau das ist es, eine Forschungs-Expedition. Du lebst, und du lernst. Es ist doch so: Niemand hat dieses Ding, daß man heute Rock’n’Roll nennt, so lange und so weit getragen wie wir. Und jetzt ist es ungefähr so, als würdest du dich im Dunkeln vorantasten. Das Ganze ist ein Abenteuer.“
Der aktuelle Stand der Dinge ist ja auf dem neuen Livealbum „No Security“ hinreichend dokumentiert. Sie haben fast nur Songs verwendet, die offiziell bisher nicht als Liveaufnahmen erhältlich waren. Zum Beispiel „Sister Morphine“.
(Richards grinst breit) „Ich wußte, daß du das sagen würdest. ‚Sister Morphine‘ ist tatsächlich so eine Art Schlüsselsong auf dem Album.“
Der Song klingt erstaunlich intim, wenn man bedenkt, daß Sie ihn in einem riesigen Fußballstadion präsentiert haben.
„Du kannst einen solchen Song nur bringen, wenn du es schaffst, diese riesigen Stadien klein zu machen, dort eine Clubatmosphäre zu schaffen. Eigentlich völlig unmöglich, aber das ist nun mal unser Ziel. Und „Sister Morphine“ beweist, daß uns das im Laufe dieser Tournee bis zu einem gewissen Grade gelungen ist. Der Song ist tatsächlich sehr intim. Wenn du ihn hörst, stellst du ihn dir in einem kleinen Raum vor, nicht in einem Stadion mit 80.000 oder 90.000 Leuten.“
Während Ihrer Europatour haben Sie den wohl schlechtesten Sommer seit langer Zeit erwischt. Haben Sie gezählt, wie oft Sie auf der Bühne naß geworden sind?
„Ich weiß nicht wie oft. Gezählt hab‘ ich’s nicht. Aber was soll’s? Wenn du einmal naß bist, bist du eben naß. Lind nach einer Weile merkst du es nicht einmal mehr. Interessant ist es beim Gitarrespielen. Das Griffbrett ist naß, und du rutscht ab. Eigentlich willst du einen bestimmten Ton spielen, aber dann passiert es, daß du auf dem glatten Ding Gott weiß wohin rutschst. Also versuchst du, auf die schnelle noch eine passende Note zu finden. Dabei kommen mitunter sehr interessante Sachen heraus.“
Oder auch krasse Fehler. Wie kommt es, daß ein so erfahrener Gitarrist wie Sie ab und zu so danebenlangt – auch wenn es gerade mal nicht regnet?
„Das ist eben das Spannende daran, live zu spielen. Im Unterschied zum Studio hast du auf der Bühne nur einen Take. Da kannst du nichts mehr ändern. Lind Menschen machen nun mal Fehler. Live spielen ist eben gefährlich, jederzeit kann etwas schieflaufen. Vielleicht macht es auch deshalb so viel Spaß. Wenn einer einen Fehler macht, ist das ja auch ganz lustig. Der Rest der Band schlägt dann die Augen gen Himmel und denkt: Wie lange braucht der alte Trottel noch, bis er das endlich mal richtig drauf hat? Eine beliebte Entschuldigung ist es dann, dem Monitor-Mixer die Schuld in die Schuhe zu schieben: Wenn ich mich gehört hätte, hätte ich auch nicht falsch gespielt.“ (bricht in schallendes Gelächter aus).
Sie spielen also nicht jeden Abend das gleiche?
„Nein. Wir agieren auf der Bühne sehr spontan, im Grunde sind wir eine Jazzband. Nimm zum Beispiel die Intros einiger Songs, die sehr ähnlich klingen, etwa „Before They Make Me Run“ oder „Happy“ oder auch „Brown Sugar“. An manchen Abenden passiert es, daß ich aus Versehen mit dem falschen Intro beginne. Jeder in der Band denkt: Oh Gott, was macht er da jetzt schon wieder? Da bleibt dir nichts anderes übrig als zu sagen, sony, versuchen wir’s noch mal. Aber das ist es, was ich an Konzerten so liebe. Du mußt immer voll da sein.“
Versuchen Sie, einen Song jedesmal neu zu erfinden?
„Ja, in gewisser Weise. Es kann ja auch passieren, daß Ronnie oder Darryl mal eine Saite reißt. Dann mußt du reagieren und ihnen helfen, so gut es geht. Manchmal komme ich mir auf der Bühne vor wie eine Ein-Mann-Feuerwehr, permanent unterwegs – von der einen Katastrophe auf zum nächsten Desaster.“
Ohne Ronnies Gitarre würden Sie wohl eh in der Luft hängen. Schließlich ist er es, der die Basis-Saitenarbeit verrichtet.
„So würde ich das nicht nennen. Es ist eher so, daß wir ständig umeinander tanzen. Ronnie und ich nennen das „die antike Form der Webkunst“. Das bedeutet: Abgesehen von einigen wenigen Stellen in den einzelnen Songs trennen wir nicht zwischen Lead- und Rhythmusgitarre. Daraus wird dann so eine Art siamesischer Zwilling. Man kann kaum noch unterscheiden, wer was spielt. Wenn wir gut drauf sind, uns gegenseitig hören und das Publikum sichtlich seinen Spaß hat, werden wir schon mal leichtsinnig. Dann macht Charlie plötzlich irgendetwas anders als sonst. Ich gebe ihm dann zu verstehen: Ha, ich hab‘ dich erwischt, und er gibt’s mir irgendwann zurück. Dabei passieren natürlich auch Fehler. Aber an solchen Dingen kannst du erkennen, ob eine Band gut drauf ist.“
Ist es für ein so eingespieltes Team wie die Stones nicht eigentlich unmöglich, an vermeintlich ausgelutschten Vorlagen wie „Satisfaction“ oder „Jumping Jack Flash“ neue Seiten zu entdecken?
„Auf der Bühne bist du immer drei Meter über dem Boden, und durch die jahrelange Erfahrung bist du auch immer schon zwei, drei Sekunden deiner Zeit voraus. Du weißt genau, was als nächstes passieren wird. Das ist eine Sache der Intuition und auch der Chemie, Teamwork eben. Aber darin genau liegt die Herausforderung: trotzdem einen neuen Dreh zu finden. Wenn du im Studio einen Song aufnimmst, dann kannst du nichts mehr daran verändern. Eine Studioversion ist endgültig. Die Tinte trocknet nun mal, sobald sie auf dem Papier ist. Auf der Bühne hingegen entwickelt derselbe Song sein eigenes Leben. Es ist, als würdest du ihn erst langsam kennenlernen. Deshalb macht es mir heute noch Spaß, „Satisfaction“ zu spielen. Ich entdecke immer noch neue Variationen. Manchmal denke ich auf der Bühne sogar: Schade, das hätte ich damals im Studio auch so spielen sollen.“
„Out Of Control“ vom letzten Studioalbum „Bridges To Babylon ist dafür ein gutes Beispiel. In der Live-Version wirkt der Song doppelt so kraftvoll.
„Genau so ist es. Wir haben die Nummer ein Jahr lang rund um die Welt live gespielt und alles aus ihr herausgeprügelt. Jetzt hat das Ding die richtige Form. In einer idealen Welt sollte man es immer so machen: Den Song schreiben, ihn ein Jahr lang live spielen und dann aufnehmen. Erst nach dieser Zeit weißt du mehr über das Stück. Aber in der verrückten und wunderbaren Welt des Showbusiness läuft es genau umgekehrt: erst aufnehmen, dann live spielen. Dabei kannst du am Anfang bestenfalls an der Oberfläche kratzen. Erst im Laufe der Zeit findest du heraus, was mit dem Song los ist. Das ist der Grund, weshalb Live-Platten sehr wichtig sind. „Jumping Jack Flash“ ist ein anderes Beispiel: Was daraus wird, entscheidet sich jeden Abend neu, wenn ich das Intro spiele. Mal wird es hart und schnell, und Jack springt tatsächlich durchs Stadion, an einem anderen Abend schleicht er nur müde herum.“
Sie arbeiten seit der ’89er „Steel Wheels-Tour sowohl auf der Bühne als auch im Studio mit denselben Leuten zusammen. Chuck Leavell, Lisa Fischer, Bernard Fowler. Lediglich den Bassisten mußten Sie wechseln.
„Ja ja, Bill ist jetzt mehr damit beschäftigt, Kinder zu zeugen (lacht lauthals). Ich glaube, es sind schon drei, seit er bei uns ausgestiegen ist.“
Jeder sollte das tun, was er am besten kann. Zurück zur Band: Wäre es nicht an der Zeit, mal mit neuen Begleitmusikern zu arbeiten, um ausgetretene Pfade leichter verlassen zu können?
„Warum sollten wir? Man muß nicht immer alles anders machen. Es geht vielmehr darum, die Show zu verbessern. Solange dieser Anspruch da ist, arbeite ich gerne mit diesen Leuten zusammen. Nach dem letzten Konzert in Istanbul (19. September ’98, Anm. d. Red.) war zwar jeder glücklich und zufrieden. Aber wir hatten trotzdem das Gefühl: Wow, beim nächstenmal wollen wir es noch besser machen. Das klappt zwar nicht immer, aber der Wille ist wichtig. Eine der tollen Sachen mit den Stones ist überdies, daß wir in der Lage sind, die Leute zusammenzuhalten. Auch die hinter der Bühne, selbst die Roadies,die wir nie zu Gesicht kriegen. Sie alle gehören schon lange zur Crew, dabei könnten sie gut andere Sachen machen. Aber wenn eine Stones-Tour beginnt, tauchen sie alle wieder auf und wollen den Spaß offenbar nicht verpassen.“
Wohin geht die Entwicklung, nachdem offenbar selbst die größten Stadien inzwischen zu klein für die Stones geworden sind und die Ticketpreise ins Uferlose steigen? Gibt es Alternativen zu dieser Form des Rock-Entertainments?
„Wir sind ständig auf der Suche nach Alternativen. Was kann man tun? Immerzu in kleinen Hallen spielen? Natürlich wäre das besser. Der Kontakt zum Publikum wäre enger. Außerdem regnet es in einer Halle nicht. Aber wir müßten zwei Wochen hintereinander in einer Stadt bleiben, um ein ähnlich großes Publikum zu erreichen – was wohl kaum möglich ist. Im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, das Stadionerlebnis so intim und intensiv wie möglich zu gestalten.“
Manchmal haben die Rolling Stones ja auch netten Besuch auf der Bühne. So sind die Herren Dave Matthews, Joshua Redman und Taj Mahal als Gäste auf „No Security“ zu hören. In Südamerika hatten Sie zudem noch einen alten Freund auf der Bühne.
„Richtig, Bob Dylan. Ein Riesenspaß. Ich habe Bob noch niemals zuvor an einem einzigen Abend so viel lachen gesehen. Es kam mir fast vor, als ob er irgendwelche Happy-Pillen geschluckt hätte. Wir haben zusammen „Like A Rolling Stone“ gespielt – ein interessantes Experiment.“
Apropos „Like A Rolling Stone – meistens haben Sie diesen Song in der Mitte der Show gebracht. Und jedesmal hatte man den Eindruck, hier endet das Konzert, und das Volksfest beginnt. Ist es frustrierend für den Musiker Keith Richards zu merken, daß kaum jemand neue Songs wie „Thief In The Night“ hören will, dafür aber bei alten Kamellen wie „Start Me Up“ alle ausflippen?
„Nein. Während der Show steigt der Energie-Level eben unaufhaltsam an. Außerdem nehmen die Leute die einzelnen Songs in verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedlich auf. Hier wollen sie „Out Of Control“ gar nicht erst hören, und woanders braucht Mick die Nummer gar nicht singen, weil es das Publikum schon allein tut – und das bei einem neuen Song! Oder „Thief In The Night“: Ich habe noch nie so viele Feuerzeuge gesehen, wie in manchen Städten gerade bei dieser Nummer. Es kommt eben darauf an, wo du gerade bist.“
Obwohl Sie „Thief In The Night“ als Leadsänger bestreiten – dabei ist Ihr Gesang ja bekanntlich nicht jedermanns Sache.
„Natürlich. Ich weiß schließlich, daß ich mit meinen Solonummern nur so eine Art Zwischenspiel bin. Während ich da meine Songs zum besten gebe, hat Mick für einen Moment Zeit durchzuatmen. Und die Stagehands müssen währenddessen sehen, daß sie die Brücke und die kleine Bühne vorbereiten. Aber um auf deine Eingangsfrage zurückzukommen: Nach diesem Break in der Mitte der Show kommen natürlich nur noch all die Nachbrenner, mit denen wir versuchen, den Energielevel so hoch wie nur möglich zu schrauben. Volle Pulle eben.“
Ray Davies von den Kinks sagte neulich, daß er die Stones liebt, aber daß er ein Argument gegen sie habe…
(Keith grinst listig) „…daß er nicht dazugehört!“
vielleicht sollten wir ihn das ja mal fragen. Im Ernst: Er sagte, daß die Leute bei den Rolling Stones ja gar nicht so sehr an der Musik interessiert seien, sondern nur ein Monument sehen wollten wie die ägyptischen Pyramiden.
„Der gute alte Ray. Junge, Junge, natürlich meint er, daß die Leute eigentlich nur wegen der Musik kommen sollten. Hey Ray, komm‘ mal zurück auf den Teppich! Wir reden hier von einer verdammten Rock’n’Roll-Show. Hier geht es schließlich auch um den Spaß. Ich mag Ray, aber er denkt zuviel. Er ist einfach zu intellektuell für den Rock’n’Roll.“
Trotzdem läßt sich kaum bestreiten, daß das Publikum von den Stones immer eine Greatest-Hits-Show erwartet und eher irritiert reagiert, wenn die Band auch mal andere Saiten anschlägt.
„Das sind Dinge, über die ich nicht nachdenke. Die Erwartungshaltung des Publikums haben wir in den 60er Jahren, als wir gar nicht anders konnten, zufriedengestellt. Damals mußten wir alle zwölf Wochen einen neuen Hit haben, andernfalls wären wir sofort weg vom Fenster gewesen. Heute versuchen wir, gute Alben zu machen, die auf eine Weise funktionieren, wie ich mir heute etwa jemanden wie Otis Redding anhöre. In einer bestimmten Situation, im rechten Moment aufgelegt, läßt du es fließen, genießt die Musik. Es ist natürlich nicht leicht für die Rolling Stones, immer der eigenen Legende gerecht zu werden. Auf der anderen Seite erinnere ich mich immer an „Exile On Main Street“, das damals von der Kritik in der Luft zerrissen wurde. Ein paar Jahre später fragten mich dieselben Leute: Hey, warum macht ihr heute keine Platten mehr wie „Exile“? Ich kann nur versuchen, die besten Songs zu schreiben, die mir möglich sind. Wenn sie dann zunächst ein paar Jahre schlafen, bevor das Publikum sie entdeckt – mich stört das nicht. Wir sind mehr daran interessiert, uns weiterzuentwickeln, als permanent zu versuchen, die Rolling Stones zu sein. Denn das sind wir ja schließlich sowieso.“
Können Sie sich vorstellen, mit den Rolling Stones mal ein reines Blues- oder Countryalbum aufzunehmen?
„Natürlich, kein Problem. Wahrscheinlich hätten wir so etwas sogar innerhalb von einem Abend eingespielt und aufgenommen. Dabei brauchten wir die Platte gar nicht mal neu einzuspielen, da wir längst genügend gute Bluessachen in unserem Archiv haben. Auf der anderen Seite: Warum sollten wir uns auf diese Weise einschränken? Blues und Country haben uns schon immer stark beeinflußt und sind deshalb in der Musik der Rolling Stones ohnehin allgegenwärtig. Wenn ich ein reines Bluesalbum aufnehmen wollte, würde ich mich überdies fragen: Wer bin ich, daß ich Muddy Waters‘ „Hoochie Coochie Man“ oder irgendeine Robert Johnson-Nummer spiele? Das haben die schon so gut gemacht, warum also sollte ich mich mit den Champions messen? In dieser Beziehung bin ich ein ganz bescheidener Junge God bless their hearts. Ich bin schon glücklich, daß ich mit einigen von ihnen spielen durfte. Insofern bin ich vielleicht gar nicht so weit von ihnen entfernt, aber wenn ich ein Album mit ihrer Musik machen wollte, wäre das ein verdammt hoher Gipfel, den es da für die Rolling Stones zu erklettern gelte.“
Wie gefällt Ihnen die Musikszene heute? Sehen Sie interessante neue Talente?
„Sicherlich, zum Beispiel Jonny Lang, ein sehr interessanter Bursche. Und natürlich die Leute, mit denen wir unterwegs waren. Aber unterm Strich passiert im Moment nicht besonders viel, was mich aus den Socken hauen würde.“
Ihre Kinder hören doch sicherlich oft andere Sachen als Sie.
„Natürlich, und sie versuchen hin und wieder, mich auf manches aufmerksam zu machen. Aber meistens geht das an mir ziemlich spurlos vorbei. Vielleicht bin ich in solchen Dingen ein wenig langsam. Ich glaube, daß das Business im Moment auch viel zu stark das Geschehen bestimmt und viele interessante Dinge durch die strengen Marketingfesseln im Keim erstickt werden.“
Wie also wird sich die Musikszene entwickeln?
„Wahrscheinlich wird es in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Art Revolution geben, denn die Art, wie Musik vertrieben wird, ist dabei, sich grundlegend zu verändern. Man denke nur an das Internet, das Möglichkeiten bietet, von denen man vor wenigen Jahren nicht mal träumen konnte. Außerdem sind die heutigen Plattenfirmen ziemlich aufgeblasene Monster. Man muß sich fragen, ob die Musik wirklich diese riesigen Apparate braucht.“
Abschließende Frage: Welchen Rat würde der alte Keith Richards dem Jungen geben?
„Lebe, mein Junge, lebe.“