Keith Richards Playback auf der Bühne?
Ausgerechnet die Stones als Verräter der reinen Rock'n'Roll-Lehre? - Alles Bullshit", regt Keith Richards sich auf. In der Voodoo Lounge habe es nur handgemachte Musik gegeben.
Die Zufahrt zum Laenston Manor, einem weitläufigen Herrschaftshaus aus dem 17. Jahrhundert, führt durch etliche Morgen gepflegten englischen Rasens und eine Allee mit Jahrhunderte altem Baumbestand. Hier, in der Grafschaft Hampshire, knapp zwei Autostunden entfernt von der hektischen Metropole London, herrscht ländliche Ruhe. Nur einer poltert los. Keith Richards, Ur-Rolling Stone und Rock’n’Roll-Komponente des Tandems Jagger/Richards, ärgert sich schwarz über einen Artikel im ‚Spiegel‘. In Ausgabe 37 des Jahrgangs 1995 hatte das für seine erstklassigen Recherchen bekannte Nachrichtenmagazin den Verdacht geäußert, die Stones könnten auf ihrer umjubelten Voodoo Lounge-Tournee zur Aufbesserung ihres Sounds Klangkonserven verwendet haben. Eine Mutmaßung, der unter anderem durch „Computeranalysen verschiedener Lieder, die die Rolling Stones auf ihrer Tour gespielt haben“, Nahrung verschafft wurde. Die Analysen, so der ‚Spiegel‘, „weisen einen verblüffenden Synchronismus innerhalb einzelner Songpassagen auf… Experten halten solch eine perfekte zeitliche Übereinstimmung der Einsätze von Drums, Bässen, Rhythmusgitarren und Bläsern auf mehreren Konzerten unter Live-Bedingungen für kaum möglich“. Playback statt handgemachter Musik also? Ausgerechnet die Stones als Verräter der reinen Rock’n’Roll-Lehre? Richards, das Glas mit einem verdächtig hellen Orangensaft in der einen, die Marlboro in der anderen Hand, ist außer sich. Behäbig zwar und mit schwerer Zunge stößt er eine finstere Drohung in Richtung ‚Spiegel‘ aus: „Es ist an der Zeit, daß die billigen Arschlöcher als das hingestellt werden, was sie wirklich sind. Wenn die Rolling Stones auf die Bühne gehen, dann spielen sie — pure Musik. Das ist genau so, als ob die Londoner oder die Berliner Philharmoniker spielen. Ich kann gar nicht glauben, was uns da vorgeworfen wird — When The Rolling Stones play, they are fuckin‘ playin‘. Die Anschuldigungen widern mich an. Lieber würde ich zum Tode verurteilt, als auf die Bühne zu gehen, um zu einem vorproduzierten Track zu spielen.“ Für die Tatsache, daß die Stones — in vergangenen Zeiten nicht eben Inbegriff einer perfekten Liveband — während ihrer Voodoo Lounge-Tournee überraschend gut klangen, hat Richards eine entwaffnend einfache Erklärung: „Wir sind nun mal so gut.“ Weil der Verdacht des ‚Spiegel‘, die Stones könnten ihren Live-Sound künstlich aufgepäppelt haben, für Richards „eine Beleidigung“ darstellt, soll das renommierte Magazin nun bluten: „Unsere Rechtsabteilung hat die Sache in die Hand genommen“, freut Richards sich. „Die (gemeint sind die Verantwortlichen beim ‚Spiegel‘, Red.) haben sich den falschen Typ ausgesucht. Ich werde dafür sorgen, daß sie bezahlen. Diese Sache“, da ist Richards sich sicher, „wird sie etwas kosten.“ Wobei es dem steinreichen Stone gar nicht mal so sehr ums Geld geht („das werde ich für wohltätige Zwecke spenden“), sondern vielmehr um die Wiederherstellung seiner verletzten Musikerehre: „Ich will eine Entschuldigung.“ Daß die denkwürdigen Computeranalysen verschiedener Live-Lieder nach wie vor auf dem Tisch liegen, stört Richards nicht im geringsten. Im Gegenteil. Für die mittels komplizierter Elektronik angefertigten Aufzeichnungen hat der faltenzerfurchte Stone nur eine abfällige Bemerkung übrig: „Da ist die berühmte deutsche Technologie im Einsatz, und was ist das Ergebnis? Lustige kleine Diagramme, an denen man nicht mal den Unterschied zwischen Livemusik und einer gemimten Darbietung ablesen kann. Dabei hätte man nur genau hinhören müssen, um zu merken, daß wir immer live gespielt haben.“ Dennoch: Die Mutmaßungen des ‚Spiegel‘ bleiben weiter im Raum stehen. So wurde Dietrich Krause, Justitiar des Nachrichtenmagazins aus Hamburg, von der Münchner ‚Abendzeitung‘ mit folgenden Worten zitiert: „Wir haben nichts zurückzunehmen.“ Eine Stellungnahme, die unschwer erkennen läßt, daß der Streit zwischen Stones und ‚Spiegel‘ noch eine Weile andauern wird. Derweil will Keith es sich erst mal in seinem englischen Anwesen gemütlich machen. Einem antiken Gemäuer im Süden der Insel, das der Stone eigenen Worten zufolge „seit 13 Jahren nicht mehr gesehen“ hat („ich bin eben viel unterwegs“). In diesen Tagen aber ist Richards froh, daß er seine historische Immobilie auf dem Land wieder in Betrieb nehmen kann. „Nach einer langen Tournee fällt man in so eine Art tiefes schwarzes Loch. Ist die Zeit des Auftritts erst mal gekommen, fragt man sich ‚Where is the show?‘ Da kam mir mein Haus in England gerade recht. Es gab mir das, was man nach einer Tournee dringend braucht — etwas zu tun.“ Kann denn Keith, der ewige Rock’n’Roller, ein Mann, der gezeichnet ist von den Begleiterscheinungen eines wilden Lebens, ohne Arbeit gar nicht sein?
Oder hat er die ständige Verpflichtung, innerhalb des Multimillionenuntemehmes Rolling Stones seinen Part zu erfüllen, nicht doch manchmal satt? „No, no“, antwortet Keith, während er sich mit Fingernägeln wie aus der Kohlengrube die nächste Zigarette aus der Packung fischt. „Es ist jedes Mal anders, wenn ich mit den Jungs unterwegs bin. Die Stimmung in der Band ist eine andere, und auch die Städte, in denen wir spielen, verändern sich. Das macht die ganze Sache immer wieder spannend.“ Wobei Keith sich gerade an die Voodoo Lounge-Tournee gern zurückerinnert: „Bei dieser Tournee haben wir ganz bewußt unsere Möglichkeiten ausgelotet. Wir wollten wissen, was geht, wozu wir als Musiker imstande sind.“ Gerade vor diesem Hintergrund stoßen den Stones die Verdächtigungen des ‚Spiegel‘ besonders sauer auf. Kaum hat er sich beruhigt, da bringen Richards die Mutmaßungen, der auffällig brillante Sound der Konzerte könne womöglich mittels vorproduzierter Aufnahmen ent“Nein“, lacht Keith Richards mit reichlich Tabak auf den Stimmbändern, „mit Computern kenne ich mich nun wirklich nicht allzu gut aus. Es ist wohl eher so, daß ich noch übe. “ Auf der anderen Seite schreite die Entwicklung ständig voran, und da wolle man als weltberühmte Band nicht abseits stehen. Daher gibt es nun nicht nur eine neue Platte mit viel alter Musik (siehe PLATTE DES MONATS), sondern gleichzeitig auch eine CD-ROM der Rolling Stones. Und was ist drauf? Eine Damentoilette zum Beispiel. Und Mick lagger, der lüstern zwei leichtbekleidete Ladies beobachtet. Wer allerdings die Tür im Hintergrund auch noch öffnen möchte, kriegt eine Rolle Toilettenpapier ins Gesicht, die beim Entrollen den Text von ‚The Worst‘ auf den Monitor knallt. Das und noch viel, viel mehr kann man in der interaktiven ‚Voostanden sein, ein weiteres Mal in Fahrt: „Wir sind doch eine Band! Wir können unser Tempo halten, just like that“ (schnippt mit dem Finger). Überhaupt, so Richards, habe bei der Voodoo Lounge-Tournee wirklich alles gestimmt. Auch atmosphärisch:
„Charlie ist berühmt dafür, daß er seine zwei Stunden auf der Bühne liebt und den Rest haßt. Wenn er jedoch lächelt, dann stimmt die Sache. Und wenn er lächelt, dann lächle auch ich. Und wenn ich lächle, dann lächelt die ganze Band.“ Nicht mal das Konzert in Wolfsburg, dem Firmensitz des Tour-Sponsors VW, vermochte an der guten Laune der Stones während ihrer Welttournee etwas zu ändern. Immerhin lag ein Teil der Volkswagen-Belegschaft ja just zu jenem Zeitpunkt, als die englischen Musikmillionäre bei den niedersächsischen Autobauern aufschlugen, wegen umstrittener Arbeitsschichten mit der Konzernleitung im Clinch. „Ich hatte überhaupt keine Ahnung, daß bei Volkswagen gestreikt wurde, als wir für unsere Show nach Wolfsburg kamen“, erinnert sich Keith, „aber immerhin war es schön zu sehen, daß Mister VW und Mister Gewerkschaftsführer einen Abend lang versuchten, nett zueinander zu sein.“ Auf die Frage, ob die Rolling Stones denn kein DIE STONES AUF CD-ROM doo Lounge‘ (CD-ROM für Windows und Mac; Virgin 72143 841.100.00, ca. 69 Mark) erleben. Die CD-ROM zeichnet sich durch einfache Benutzerführung aus und ist dennoch ziemlich komplex. 35 Räume einer mysteriösen Südstaatenvilla können betreten werden, und sobald der Cursor statt der typischen Stones-Zunge die Gestalt eines Auges annimmt, gibt es etwas zu erforschen: Videos (‚Out Of Tears Love Is Strong‘), Interviews mit Mick lagger, Keith Richards, Ron Wood und Charlie Watts, Livemitschnitte von der jüngsten Tour, den Vorraum zur Hölle, in dem das Skelett von Keith grinsend an einem Glimmstengel zieht, Fotos aus dem Privatarchiv. Und natürlich gibt es auch jede Menge Musik zu hören: zehn komplette Lieder untermalen das interaktive Abenteuer der Rolling Stones.
Problem damit hätten, ausgerechnet für VW, ein Auto, das mit Rock’n’Roll etwa genausoviel zu tun hat wie die Kuh mit dem Eierlegen, die Reklametrommel zu rühren, reagiert Richards leicht gereizt: „Ich verkaufe doch keine Volkswagen.
Wenn die in Wolfsburg denken, daß sie mit Hilfe der Rolling Stones ein paar Autos mehr verkaufen, dann viel Glück. Andererseits hatte der Rock’n’Roll schon immer mit Autos zu tun – seit den Tagen von Chuck Berry. Außerdem könnten wir unsere aufwendige Show ohne potenten Sponsor gar nicht auf die Bühne bringen, ohne Ticketpreise zu verlangen, die keiner mehr bezahlen könnte.“ Das Ende der Stones würde eine derartige Entwicklung wohl kaum bedeuten. Vielleicht aber das des Live-Musikers Keith Richards? „Nein“, sagt der 51jährige mit einem breiten Ohrfeigengrinsen im furchigen Gesicht, „ich habe ja noch die X-pensive Winos. Gute Kumpels von mir und tolle Musiker, mit denen ich unbedingt noch mal spielen muß. Der Sarg muß also weiter! warten.“