Kein Ding
Die 23-jährige Sängerin ELLIE GOULDING gilt als kommen- der britischer Star. Kritiker und Internetgemeinde überziehen sie schon mit den üblichen Vergleichen: die nächste Dies, die nächste Das. Vielleicht sollte man ihr erst mal zuhören.
Nun ist Goulding auf ihrer ersten großen Interviewtour durch Europa, und ihr passiert, was vielen anderen in diesem Raum hier beim ersten Mal auch passiert ist: Sie ist im Tunnel. Zu viele Eindrücke, zu viele Orte, zu viele Menschen. Und zu wenig Zeit, irgendwas zu verarbeiten. Das ist dein neues Leben, merken die Betroffenen und machen zu, sie werden still, wie aus Selbstschutz betreten sie diesen Tunnel, in dem alles einfach scheint, weil man erst mal nichts mehr sieht. Doch die Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Ellie Goulding sagt: „Ich hab erst heute Morgen darüber nachgedacht, dass ich bislang immer weggelaufen bin vor den Meinungen anderer Leute über mich, ich hab mich versteckt – aber irgendwann muss ich mich wohl stellen. Ich muss dem Druck widerstehen. Sonst komme ich überhaupt nicht mehr zurecht.“
Und dann entschuldigt sie sich, falls das jetzt nach Klischee klang. Sie hat in den vergangenen Tagen die ersten Rezensionen ihres Albums gelesen und die Reaktionen im Internet. Eigentlich alle gut bis super. Aber es geht jetzt nicht um gut oder schlecht. Es geht um die schiere Masse der Aufmerksamkeit; dass jeder Arsch seinen Kommentar im Internet über einen abgeben darf; dass einen alte Männer in ihren gelangweilten Storys „junges Ding“ nennen dürfen und von Ferne so behandeln, als sei man tatsächlich eine Sache. Und es geht um die vielen Vergleiche.
Die neue Dies, die neue Das, es gibt so furchtbar viele junge Sängerinnen, gerade britische. Elektro-Folk-Pop steht über Gouldings Musik in den Rezensionen, gleich drei Genres in einem, das bedeutet: Man kann sie gerade so ungefähr mit jeder jungen britischen Sängerin vergleichen. Der vermutlich erste Bericht über Goulding, letztes Jahr im seriösen „Guardian“, erschien in der Serie „Neue Band des Tages“ unter der Nummer 486. Darin fragte der Ellie Goulding ist müde. Sie sitzt an einem beschissenen Berliner Februartag bei ihrer Plattenfirma in einer Konferenzlounge, die vor zehn Jahren noch als Deko bei MTV durchgegangen wäre – graue Betonwände und bunte Sitzmöbel. Goulding rutscht unruhig auf ihrem bunten Sitzmöbel herum, man kann ihre Gesichtszüge kaum ausmachen vor Make-Up, vorher war ein Fernsehinterview, deshalb die viele Schminke.
Ellie Gouldings Müdigkeit kommt nicht von zu wenig Schlaf. Sie ist früh ins Bett gegangen am Abend zuvor, eigentlich hätte sie noch zu einem Essen mit Leuten von der Plattenfirma und ein paar Journalisten gehen sollen, doch Goulding ist in ihrem Berliner Hotelzimmer geblieben. In der Nacht davor war sie bei den Brit Awards in London. Goulding hat den Kritikerpreis für das hoffnungsvollste Nachwuchstalent erhalten, davor hatte sie schon den „BBC Sound of 2010“-Poll gewonnen, der das gleiche aussagt: Die britischen Musikkritiker halten die 23-Jährige für das nächste große Ding. Ihr Debütalbum ist zu diesem Zeitpunkt längst noch nicht draußen.
Hinter der Bühne der Brit Awards ist Goulding ihrer Label-Kollegin Lady Gaga vorgestellt worden, die beiden sind fast gleich alt. Gaga sah an diesem Abend aus wie ein Geist. Gaga und Goulding haben kurz miteinander geredet, es war nett, doch Goulding war irgendwie auch geschockt. Von Gagas Blick. Der war so leer, so müde. Goulding dachte: So schaut man also aus, wenn man anderthalb Jahre in den Charts ist und jeden Tag in den Schlagzeilen. Und obwohl Goulding nicht glaubte, dass etwas Vergleichbares mit ihr geschehen würde, war ihr für einen Moment, als habe sie in Gagas Augen eine mögliche Zukunft gesehen. Ihre eigene. Da hat Ellie Goulding Angst bekommen. Anderthalb Tage später ist sie noch immer in Schockstarre.
Autor: „Ist sie die nächste Kate Nash? Eine verrückte britische Lykke Li? Eine technoide Cerys Matthews?“ Mit den Vergleichen muss man erst mal klarkommen in einem Alter, in dem man selbst noch kaum weiß, wer man ist, sein möchte, sein kann.
Ellie Goulding will kein Mitleid. Sie weiß um ihr Glück. Sie ist mit ihren drei Geschwistern bei der Mutter aufgewachsen in einem unspektakulären Kaff in den West Midlands, die Mutter hatte keine Zeit, sich groß um die Kinder zu sorgen, sie war genug damit beschäftigt, Geld für deren Essen zu verdienen. Nach der Schule ist Ellie Goulding weit weg, auf die Uni nach Kent, Theaterwissenschaften, Schriftstellerin wäre die Alternative zu Musikerin gewesen. Es brauchte zwei Nebenjobs gleichzeitig, um das Studium finanzieren zu können, von zu Hause kam nichts, konnte nichts kommen.
Mit 22 hat sie hingeschmissen und ist weiter nach London, wo sie niemanden kannte und niemand auf sie wartete, sie zog in eine winzige Bude, begann um Gigs zu betteln in kleinen Clubs, nahm erste Songs auf. „Einsam“ ist das Wort, das Goulding zu London einfällt, sie klingt dabei, als sei das alles schon tiefste Vergangenheit, aber noch wohnt sie in der winzigen Bude.
Wenn man sie nach ihrem Vater fragt, antwortet Ellie Goulding: „Ich weiß nicht, ob mein Dad je einen Song von mir gehört hat. Ob er weiß, dass ich Musikerin bin. Ich weiß nicht mal, wo er ist.“
Doch sie weiß, dass das eine Schlagzeile ist. Oder dass jemand daraus eine machen könnte. Sie sagt es trotzdem. Das ist ja das Seltsame, das Bezeichnende an ihrer Generation. Es gab wahrscheinlich nie eine so selbstreflexive, aufgeklärtere und abgeklärtere Generation als die der heutigen jungen Erwachsenen. Sie wissen über alles Bescheid, weil sie alles schon im Fernsehen und im Netz gesehen haben: wie die Welt und das Leben funktioniert, das Musikbusiness, die Medien, der Ruhm, welchen Preis er fordert. Aber nichts von diesem Wissen schützt sie vor dem emotionalen Tumult, wenn sie dann tatsächlich zum Popstar werden.
Ellie Goulding streicht sich müde ihren silbergrau gefärbten Pony aus der Stirn. Der nächste Interviewer ist dran. Drei Wochen später steigt Ellie Gouldings Debütalbum I.IGHTS von auf Platz Eins in die britischen Charts ein. Bald schon wird man andere junge Mädchen „die nächste Ellie Goulding“ nennen, Ellie Goulding weiß das. Sie sieht das Licht am Ende des Tunnels – und ahnt doch nur, wer sie sein wird, wenn sie wieder ins Helle tritt.
Story ME 4/10 Albumkritik S. 78 uww.elliegoulding.co.uk