Jung, brutal, genial: Eminems THE MARSHALL MATHERS LP feiert 20-jähriges Jubiläum
Vor 20 Jahren erschuf Eminem mit THE MARSHALL MATHERS LP sein Opus Magnum – und hinterließ die Frage, wie brutal HipHop sein darf.
Was macht ein Meisterwerk aus? Alben wie THRILLER von Michael Jackson oder SGT PEPPER’S LONELY HEARTS CLUB BAND der Beatles werden oft und gerne mit „Prädikat Wertvoll“-Attributen wie ‚zeitlos‘, ‚innovativ‘ und ‚revolutionär‘ beschrieben. Als Marshall Bruce Mathers III. – alias Eminems – drittes Studioalbum THE MARSHALL MATHERS LP am 23. Mai 2000 auf den Markt kam, war die Reaktion jedoch vor allem erst mal eines: gemischt. Eine bipolare Platte, die gleichermaßen hoch verehrt und hoch kontrovers war wie Eminems Alter Ego Slim Shady selbst. Dieses Jahr feiert die „MMLP“ 20-jähriges Jubiläum. Zeit, sich die ganze Geschichte mal etwas genauer anzuschauen.
Für die USA endete das letzte Jahrtausend mit einem Knall: Während der damalige Präsident Bill Clinton in einen Sex-Skandal verwickelt war und der Football-Star O.J. Simpson für Mord verurteilt wurde, erschien Eminem im Jahr 1999 plötzlich auf der Bildfläche. Ein weißer, störrischer und talentierter Rapper, der sowohl Personifikation als auch Spiegelbild dessen zu sein schien, was in den USA gerade schief lief: Drogenexzesse, Gewaltfantasien, sexistische und homophobe Tendenzen. Millionen Fans zelebrierten den Musiker aus Detroit für seine ironische Unverschämtheit, mit der er sich über die amerikanische Gesellschaft ausließ. Der Erfolg seines zweiten Albums THE SLIM SHADY LP war groß, der Druck danach noch größer.
Zwei statt nur ein erhobener Mittelfinger Richtung Presse & den USA
So rechnete wohl niemand ernsthaft damit, dass Eminem mit seiner darauffolgende Platte THE MARSHALL MATHERS LP alle Erwartungen übertreffen würde. Doch genau das tat er – mithilfe von zwei statt nur einem erhobenen Mittelfinger. All die Wut über schlechte Presse, plötzlichen Ruhm und das Authentizitäts-Problem, mit dem Eminem als weißer Rapper in einer sonst schwarzen Community nach wie vor zu kämpfen hatte, findet auf der Platte seinen Platz. Das zeigt sich schon zu Beginn: Der erste Song „Kill You“ ist das bitterböse Statement eines Künstlers, der erst von Amerika im Stich gelassen wurde und nun über die Paradoxie seines eigenen Erfolgs rappt. So heißt es in der ersten Strophe gleich: „Oh no, he’s raping his own mother / abusing a whore / snarting coke / and we gave him the Rolling Stone cover?“
Auf Wunsch seines Labels, eine passende (Übersetzung: erfolgreiche) Lead-Single für das Album zu schreiben, antwortete Eminem mit den Songs „The Way I Am“ und „The Real Slim Shady“ – zwei trotzige und triefend ironische Bestandsaufnahmen von Erfolg und das heuchlerische Entsetzen über Eminems Texte, während Waffengewalt selbst nach einem tragischen Ereignis wie Amoklauf von Colombine nicht weiter hinterfragt wird. „Drug Ballad“ ist ein souliger Ausflug in Eminems von Drogen geprägter Alltag, „Bitch Please II“ ein mit Gastbeiträgen von Snoop Dogg, Xzibit und Nate Dogg bestücktes Relikt der „Goldene Ära“ des HipHop. Und dann natürlich „Stan“ – das Schmuckstück des Albums: Die knapp siebenminütige psychologische Analyse eines pathologischen Fans, der Eminems Texte für bare Münze nimmt und sich schlussendlich mit seiner schwangeren Freundin das Leben nimmt, gilt bis heute als das „Bohemian Rhapsody“ des Rap.
Am Zeitgeist angekommen
„Ich habe das Gefühl – und ich fühle mich schon seit langem so – ich bin immer hinter dem Erfolg von THE MARSHALL MATHERS LP hergejagt“, sagte Eminem in einem Videointerview aus dem Jahr 2013. Die „MMLP“ verkaufte sich innerhalb der ersten Release-Woche knapp 1,8 Millionen Mal – ein Rekord, der erst im Jahr 2015 mit Adeles Album „25“ gebrochen wurde. Bis heute ist die Platte eine der kommerziell erfolgreichsten HipHop-Werke aller Zeiten. Doch auch von Verkaufszahlen abgesehen hat der Rapper mit THE MARSHALL MATHERS LP etwas geschafft, das ihm so nie wieder gelingen sollte: Er war am Zeitgeist angekommen. Auf der „MMLP“ vereint Eminem die konsumorientierte und ausgeschlachtete Celebrity-Kultur Amerikas mit einer Brutalität und Gewaltfantasie, die nicht das Monster in Eminem offenbart – sondern die der Menschen, die freiwillig seine Musik hören und die Gesellschaft, die ihn zum Star gemacht hat. Noch nie hatte Rap der Außenwelt brutaler den Spiegel vorgehalten.