Jugend forscht
Zu alt für Kinder-Moden, zu agil für die Rock-Rente. Das aktuelle Forschungs- projekt von DEPECHE MODE: Gibt es ein Leben nach dem Teen-Idol?
Nur einen kurzen Spaziergang von dem Studio im Süden Londons entfernt, in dem Depeche Mode gerade ihr zehntes Studioalbum aufgenommen haben, steht der Baum, an dem Marc Bolan, zwei Tage vor seinem 30. Geburtstag, sein Leben ließ. Wie der Elfenkönig des Pop mit den Problemen fertiggeworden wäre, die einen Teen-Star erwarten, der plötzlich noch nicht einmal mehr ein Twen ist, wissen nur die Götter. Für die Vier von Depeche Mode jedenfalls ist das dritte Lebens-Jahrzehnt eine Zeit der Selbstanalyse, der Veränderung und der Depressionen.
„In den letzten zwei Jahren wurde ich vom Jungen zum Mann“, wird Sänger Dave Gahan im späteren Verlauf des Interviews sagen, zu einem Zeitpunkt allerdings, da er dieses abgehangene Klischee längst durch andere Äußerungen neutralisiert haben wird. Wichtigste Ursache dieses Reifungsprozesses: Gahans Ehe war zerbrochen — mit, wie es scheint, etwas mehr als dem üblichen Quantum an Herzeleid. „Die Scheidung war ein langer, schmerzhafter Prozeß, den ich immernoch nicht ganz überwunden habe, aber mir ist jetzt sehr viel klarer, was ich vom Leben erwarte. „
Viel von Gahans innerlichem Aufruhr während dieser Phase findet sich in dem neuen Album SONGS OF FAITH AND DEVO-TION wieder. Er hat selten mit soviel Kraft und Überzeugung gesungen, und kaum jemals hat sich seine Situation so treffend in den (wieder von Kollegen Martin Gore geschriebenen) Texten wiedergespiegelt. Vor allem aber verbreitet das Album eine positive, optimistische Stimmung — für Gahan eine extreme Wandlung: Privat war ich früher ein ziemliches Ekelpaket, fürchte ich. Vieles von dem, was mir bei anderen nicht gefiel, habe ich in meinem eigenen Leben trotzdem genauso schlecht gemacht. Das klingt jetzt sehr persönlich, aber es ist wichtig, um zu verstehen, in welche Richtung ich mit diesem Album gehen wollte.“
Obwohl Gahan seit einigen Monaten wieder verheiratet ist, quält ihn der Gedanke, seine erste Frau und seinen fünfjährigen Sohn im Stich gelassen zu haben, immer noch sehr — und es ist
eher dieser Schmerz als das neugewonnene Glück, dem seine außergewöhnliche Leistung auf dem neuen Album zu verdanken ist. Entsprechend beherzt drückt er auf die Schmalz-Düse: „Es ist immer noch sehr schwer fiir mich, darüber zu sprechen. Mein eigener Vater hat uns verlassen, als ich noch sehr klein war, und jetzt habe ich dasselbe mit meinem kleinen Sohn getan. Aber ich will es besser machen als mein Vater, ich werde weiterhin Einfluß auf das Leben meines Kindes nehmen, auch wenn ihm das nicht immer gefallen mag. Meine Ex-Frau versteht das glücklicherweise, und ich hoffe sehr, daß sie eines Tages einsieht, daß wir uns niemals wirklich geliebt haben. Ich würde mich dann weniger schuldig fühlen…“
Der Rest von Depeche Mode, Gore, der nachdenkliche Alan Wilder und der pragmatische Andy Fletcher scheint mit dem Erwachsenwerden (und dem allmählichen Aufstieg der Band zu Weltruhm) sehr viel besser zurechtzukommen als der Frontmann Gahan. Dieses Selbstvertrauen zeigt sich nicht zuletzt darin, daß man für die Aufnahmen zum ersten Mal auch fremde Musiker, einen Gospelchor und sogar ein ganzes Orchester eingesetzt hat.
Und doch — es ist es Gahan, der (mit schulterlangem Haar und Spitzbart auch äußerlich reifer geworden) den Band-Philosophen spielen darf: „Wir versuchen, die Leute auf eine höhere, eine vielleicht spirituelle Ebene zu versetzen. Die Realität ist im Moment nicht gerade erhebend. „
Da die Interviews auf Wunsch der Band getrennt geführt wurden, ist es nicht leicht, zu einer einheitlichen Aussage zu kommen, aber es scheint, als hätte es diesmal sehr viel länger gedauert, die alte Chemie innerhalb der Band wiederherzustellen. „Es war mitunter sehr schwierig“, gesteht Alan Wilder. „Durch ein ganzes Jahr der Trennung und die Tatsache, daß sich unser Leben während dieser Zeit verändert hat — wir haben Kinder bekommen, in anderen Ländern gelebt — hat die Band und ihre Geschichte für jeden von uns eine neue Bedeutung bekommen. Es dauerte lange, bis wir uns daran gewöhnt hatten, wieder zusammen zu sein. Ich glaube, zu einer Einheit sind wir erst in den letzten zwei, drei Monaten wieder geworden. Vorher gab es viele Meinungsverschiedenheiten.“
Weshalb die Meinungen auseinandergingen, darüber will sich keiner so recht auslassen, aber man kann es sich leicht ausmalen. Gahan war ganz offensichtlich unglücklich und rastlos, pendelte zwischen Los Angeles und London und lebte „aus dem Koffer“. Während Wilder die Studioarbeit fortgesetzt und unter dem Projektnamen Recoil ein Soloalbum aufgenommen hatte, hatten Fletcher und Gore sich den Freuden des Vaterdaseins gewidmet, und Fletcher war außerdem stiller Teilhaber eines Restaurants im Norden Londons geworden.
„Irgendwann dachte ich sogar ernsthaft über ein Soloalbum nach“, sagt Martin Gore, „aber als unsere Tochter geboren wurde, gab es auf einmal etwas, das mehr Spaß machte als wieder ins Studio zu gehen. Ich hatte mehr Lust, mich mit meinem Kind, mit Sega Mega-Drive, mit Super Nintendo und solchen Sachen zu beschäftigen.“
Depeche Mode stecken also in dem gleichen Dilemma wie alle Bands, die in den Achtzigern den Durchbruch schafften: Wie verbindet man die alte Karriere mit dem neuen Familienleben. Schließlich hatte man neben dem Geld nun auch das passende Alter, eine Familie zu gründen. Einige Musiker lösten ihre Bands auf (Spandau Ballet) oder ließen sich scheiden (Gahan). Etliche Gruppen sind zwar noch (oder wieder) zusammen, stimmen ihre Tourpläne aber jetzt mit den Schulferien ihrer Kinder ab — so wie Madness zum Beispiel, die es zusammen schon auf ein rundes Dutzend
Sprößlinge bringen. Bei Depeche Mode sieht es anders aus. Obwohl sie wissen, daß ihre Familien unter dem Sog des Rock’n’Roll-Lebensstils zwangsläufig leiden werden, planen sie gerade ohne Familien-Rücksichten die längste Tour ihrer Karriere — 18 Monate on the road.
„Ich hätte gern ein Leben, das mit Rock nichts zu tun hat, aber andererseits stecke ich nun mal bis zum Hals drin und das wird auch so bleiben“, sagt Gahan und glaubt fest an ein neues, junges Glück: „Meine Frau steht hunderprozentig dahinter, auch wenn das bedeutet, daß wir lange Zeit getrennt sein werden. Was uns verbindet, ist viel stärker.“
Depeche Modes Entschlossenheit, sich mit vollem Einsatz in die Neunziger zu stürzen, hat nichts mit Blauäugigkeit zu tun (sie alle sind sicher, daß ihr Familienleben dem Streß standhalten wird). Eher mit Rache Im eigenen Land haben sie, wie der sprichwörtliche Prophet, nie sonderlich viel gegolten. Englische Kritiker machen sich heute noch über die Seidenunterwäsche lustig, die Martin Gore Anfang der Achtziger auf der Bühne zu tragen pflegte. Ihre Musik wird als „kalt“ abgekanzelt — und das war sie auch, aber nur ein oder zwei Alben lang. Sie sind ein ungeheuer erfolgreicher Exportartikel, viel erfolgreicher als beispielsweise Queen, aber zuhause bleiben sie das ungeliebte Kind.
Konsequenterweise konzentrieren sich Depeche Mode jetzt mehr auf ihre Karriere in Amerika, die 1985 mit dem Top-Ten-Hit „People Are People“ begann. Dafür wird sich die Band jedoch weder MTV an den Hals schmeißen („Eh du dich’s versiehst, haben sie dich vereinnahmt“) noch Werbung für Pepsi machen. Depeche Mode vertraut allein der eigenen Starke. Mittlerweile überlegt sich Gahan gar, ob man noch länger in großen Stadien spielen soll — doch er scheint der einzige zu sein, der diesem Gedanken noch viel abgewinnen kann. Nein, meint der Rest der Band, sie werden ganz einfach ihre LP herausbringen, 18 Monate lang Konzerte spielen und sehen, was passiert. „Wir überstürzen nichts“, sagt Wilder. „Das hat uns früher vielleicht manchmal geschadet, mit ein bißchen mehr Mut zum Risiko hätten wir möglicherweise schon eher da stehen können, wo wir heute sind.“
Depeche Modes Einstellung zum Erfolg mag vorsichtig sein, ihre Platten und Tourneen sind es nie gewesen. Allein auf ihren Singles haben sie die Vorstellung eines gnädigen Gotts in Frage gestellt („Blasphemous Rumours“), mit Sado-Masochismus geflirtet („Master And Servant“) und sich mit den dunklen, obsessiven Seiten der Liebe beschäftigt („Stripped“. „Personal Jesus“). Viele ihrer Songs sind nachdenklich, grüblerisch, aber sie können auch treibend und energisch sein. An Leidenschaft zumindest fehlt es ihnen nie. Martin Gore ist ein Meister der kontrastierenden Emotionen und wechselnden Standpunkte. „Ich glaube, ich habe immer ganz nette Songs geschrieben „, meint Gore in seiner vorsichtigen Art.
„Selbst in den angeblich deprimierenden Stücken sieht man immer ein bißchen Licht am Ende des Tunnels. Die Leute picken sich gern .Master And Servant‘ heraus, weil sie denken, darin geht es nur um SSM, aber bei genauerer Betrachtung stimmt das gar nicht. Pop-Songs sind doch eine so harmlose Sache. Wenn wir unsere Texte bloß zu irgendwelchem Krach kreischen würden, so avantgarde-mäßig, würden uns die Leute wesentlich weniger durchgehen lassen …“
Spielt Sado-Maso tatsächlich eine Rolle in Gores Leben oder will er nur provozieren? „Nein, ich habe immer versucht, aus einer persönlichen Perspektive zu schreiben. Für mich sind diese Sachen nicht pervers, versiehst du ? Mir gefallen die äußeren Aspekte von S&M wirklich, die
Clubs und so, aber verherrlicht habe ich das Ganze nicht.“
Das neue Album ist da vergleichsweise zahm, keine Spur von Peitschenschwingen oder Hostien-Schanden. Gore lacht: „Oh, ich glaube, wenn du dir Mühe gibst, findest du auch etwas. Wir hatten vor kurzem jemanden zu Besuch, der an unserer Biografie schreibt. Es war wirklich lustig, weil er auch ständig über die perverse Seite redete. Wir spielten ihm vier oder fünf Stücke vor, und als wir bei,One Caress‘ angelangt waren, bekam er ganz große Ohren: , Well, I ‚m down on mx knees again‘, heißt es da, und er war völllig begeistert. „
Passend zur positiven Message steckt das neue Album voller religiöser Anspielungen. An einigen Stellen klingt Gahan wie ein durchgedrehter, versoffener TV-Prediger, der in“.Get Right With Me“ donnert: „Freunde, wenn ihr vom rechten Weg abgekommen seid …“
und in „One Caress“ verkündet:
„Ich muß daran glauben, daß Sünde aus mir einen besseren Menschen machen kann. „
„Religion hat mich schon immer fasziniert“, erklärt Text-Chef Gore. „Ich war nie gläubiger Christ oder Anhänger einer bestimmten Glaubensrichtung, aber Glaube als absolute Idee fand ich immer interessant. Als Titel für das Album wollten wir etwas, das einen religiösen Beigeschmack besitzt, über gleichzeitig Raum für Zweifel läßt. SONGS OF FAITH AND DEVOTION klingt sehr gläubig, aber man fragt sich automatisch, Glaube an was? Hingabe an was?“
In Gores Fall konnte die Antwort auf beide Fragen immer noch „Sex“ lauten. Trotz seiner religiösen Untertöne trieft das Album förmlich vor Erotik. „In Your Room“ ist vielleicht das sinnlichste Stück, daß Depeche Mode jemals aufgenommen haben.
„Ich denke, in etwa 70 Prozent unserer Songs geht es direkt oder indirekt um Sex“, bestätigt Gore.“.Sex ist sehr wichtig fiir mich, und ich bin immer wieder erstaunt, wenn mir Leute sagen, daß Sex in ihrem Leben nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ich kann das jedenfalls ganz und gar nicht behaupten. „
Gore hat noch nie versucht, einen Hit zu schreiben („sobald du das machst, geht es in die Hosen“). Er komponiert fast ausschließlich in Moll – „Get Right With Me“ ist der erste Versuch in einer Dur-Tonart — und ist zusammen mit dem Band-Rest stark genug, um sich von der Plattenfirma in musikalische Entscheidungen nicht reinreden zu lassen (auch wenn Daniel Miller. Boß von Mute Records, hin und wieder im Studio auftaucht und väterlichen Rat anbietet). „Das letzte Mal, daß uns so etwas passiert ist, war 1986, ab unser amerikanisches Label uns zwang, .Stripped‘, an dem wir drei Wochen gefeilt hatten, durch die B-Seite zu ersetzen. ,But Not Tonight‘ war ein Schnellschuß gewesen, den wir nur gemacht haben, weil sie den Song für irgend einen blöden Film wollten. Es wurde ein Flop und danach haben sie sich nie wieder eingemischt.“
Dennoch — 1986 war das Jahr, in dem für Depeche Mode jenseits des großen Teichs alles bestens lief. Stars waren sie zweifellos noch nicht, aber Radiosender in Los Angeles und New York hatten so intensiv für die Band getrommelt, daß Konzerte in diesen Städten meist schon nach wenigen Stunden ausverkauft waren. Die Open-Air-Auftritte in jenem Jahr bestachen durch elegantes Design mit exakt ausgeleuchteten Lila- und Rottönen und waren sehr, sehr laut. Gahans Aussage, daß Bono drei Jahre später bei der „Violator-Tour“ vorbeischaute und „uns jede Menge Ideen geklaut /»»“wird von freundlichem Gelächter begleitet, könnte im Kern jedoch durchaus auf Wahrheit beruhen. Gahan, der sich damals vorzugsweise in weißen Jeans, weißer Weste und mit Stachelfrisur zeigte und damit zumindest äußerlich Marc Almond näher stand als Axl Rose, durchsetzte das Klischee des hüftwackelnden Rocksängers, der die Hand öfters im Schritt als am Mikro hat. schon damals mit einem gerüttelt Maß an Ironie und sexueller Ambivalenz — auch ohne überdimensionierte Bono-Sonnenbrille … Allerdings muß man trotz aller Ironie vorsichtig sein: „Du mußt genau unterscheiden zwischen .Schaut mich an, ich bin Gott‘ und .Schaut mich an, bei mir habt ihr soviel Spaß, daß ihr hinterher sofort mit eurer Freundin ins Bett steigen wollt‘. Ich gehöre jedenfalls definitiv zur zweiten Kategorie. Ich erwarte Glanz vom Leben, ich möchte Gefiihle ausleben, ich will nur das Beste: Leidenschaft, Sex und Liebe. „