John Cale – Chaos auf zwei Beinen
"Lampenfieber allein haut mich nicht mehr um!"
Er ist die wandelnde Unberechenbarkeit und schon so etwas wie eine lebende Legende: John Cale. Ein Engländer, den es in der psychedelischen Phase der sechziger Jahre nach New York verschlug. Dort machte er Bekanntschaft mit Lou Reed und stellte mit ihm zusammen die Ausgeflippten-Formation „Velvet Underground“ auf die Beine. Doch das ist alles längst in die Rock-Geschichte eingegangen. Und wie steht’s heute um John?
Nun, er redet am liebsten von der Zukunft, obwohl ihn die Gegenwart auch ganz gut bedient. Die Velvet Underground-Zeit war zwar erfolgreich, aber die Erkenntnis, daß er damals noch viel zu unerfahren war, um den Star-Rummel auch genießen zu können, laßt John mit gemischten Gefühlen in die Vergangenheit zurückblicken.
Nachdem es jahrelang still um ihn geblieben war, konnte man Cale im vergangenen Jahr auf der Bühne des Londoner Rainbow Theatre wiederfinden, wo er sich mit Ex-Roxy Eno, dem Ex-Velvet Underground-Mädchen Nico und dem britischen Rock-Geheimtip Kevin Ayers zu einer Jam-Session zusammengetan hatte. Das Ereignis wurde seinerzeit auf der Live-LP „June Ist, 1974“ festgehalten. Die daraus entstandene Freundschaft zwischen Eno und John ist bis heute nicht verblaßt. So läßt sich schließlich Eno’s Mitarbeit an John’s neuer LP „Slow Dazzle“ erklären.
Anders als Lou Reed war John in der Velvet Underground-Periode meistens im Hintergrund geblieben. Vermutlich hat es deshalb wohl langer gedauert als bei Lou, bevor auch er sich in die Rolle eines Rock-Solisten eingelebt hatte.
„Slow Dazzle“ eignet sich mit seinen abgerundeten und einfachen Kompositionen ganz besonders gut als Beweis dafür, daß John Cale musikalisch erwachsen geworden ist. Mit seiner neuen Band, zu der Bassist Pat Donaldson, Gitarrist Chris Spedding, Drummer Timmy Donald und Pianist Chris Thomas gehören, wird Cale bei Live-Auftritten bestimmt nicht in so peinliche Situationen kommen, in denen das Publikum die Musiker auffordert, erstmal die Instrumente richtig zu stimmen.
„Das war bei Velvet Underground nämlich durchaus an der Tagesordnung“, gestand uns John, als wir ihn neulich vor seinem Auftritt in der Hamburger „Fabrik“ zu einem Gespräch trafen. „Das heißt natürlich noch lange nicht“, meinte er weiter, „daß es bei unseren jetzigen Auftritten nicht drunter und drüber geht. Ich bin nun mal ein Chaos auf zwei Beinen, daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Gute ist nur, daß meine Band sehr schnell mitbekommt, wenn ich plötzlich alles um mich herum vergesse und mich einen Dreck um den Song kümmere, den ich gerade singe. Die Jungs spielen dann seelenruhig weiter, während ich mich auf der Bühne wälze und Dinge anstelle, mit denen das Publikum und erst recht ich selbst überhaupt nicht gerechnet haben. Neulich hab‘ ich mich bei diesem Zirkus sogar ernstlich verletzt. Aber was soll’s. Das ist halt mein Schicksal. Vermutlich hab‘ ich zu oft auf der Bühne gestanden. Das Lampenfieber allein haut mich nicht mehr um. Ich muß immer irgend etwas Verrücktes anstellen – selbst auf die Gefahr hin, daß der Gig in die Hose geht.“
Viel hätte abends in der Fabrik tatsächlich nicht gefehlt, und der Auftritt wäre zur Bauchlandung geworden. Doch bevor das Publikum gar nicht mehr begriff, was da eigentlich gespielt wurde, schaltete John mit seiner Band glücklicherweise noch rechtzeitig auf fetzende Rock’n’Roll-Titel wie beispielsweise „Heartbrcak Hotel“ um. Wer hätte es da noch für möglich gehalten, daß die Gruppe erst seit einigen Wochen zusammen spielte?!?