Joachim Witt
Hamburg
Die Taste 4 J wird heute abend schon zum fünften Mal gedrückt. Der automatische Plattenarm „Wurlitzer“ legt scheppernd ein zerkratztes Stück Vinyl auf den Teller. „Nervenklinik“ und „Sicherheitsnotsignale“ sind nur als Wortfetzen im Kneipenlärm zu hören, bis der Refrain kommt, der auch meinen Trinkkumpan im Rentenalter mitbrummen läßt. „Hey, hey, hey, ich war der Goldene Reiter, ich bin ein Kind dieser Stadt, ich war so hoch auf der Leiter, dann fiel ich ab.“
Wenig später fällt auch er ab, abgefüllt mit Bier und Korn. „Isso schön romantisch“ sagt er noch und torkelt ins herbeigerufene Taxi.
Am gleichen Abend die nächste Nummer. In einem mondänen Nacht-Cafe singen minderjährige Mädchen zu brüllend lautem Cassettensound: „Ich bin das Mädchen Kosmetik, hab-die spezielle Ästhetik, ich trink nur noch Selter, weil meine Hülle mein Geld braucht.“ Sie trinken tatsächlich Selter.
Wer da in Bierstampe wie Nacht-Bar für Leute jeden Alters aus den Boxen singt, ist Joachim Witt. Joachim Witt ist „in“, ist modern, ist erfolgreich. Sehr erfolgreich sogar. Wie erfolgreich, hält er jedoch nicht für mitteilenswert.
„Es wird ständig über Verkaufszahlen geredet, gerade jetzt, wo auf der deutschen Musikszene etwas passiert. Zur Musik kommt man erst als zweites. Unterschwellig wird einem doch mitgeteilt, daß die Musik deshalb gut ist, weil sie viel verkauft wird.“
Die Musik von Joachim Witt wird deshalb viel gekauft, weil sie gut ist. Dabei war der Erfolg seiner LP SILBERBLICK und der ausgekoppelten Single „Goldener Reiter“ keineswegs vorherzusehen. Im Sommer 1980, als die Neue Deutsche Welle noch als unterirdisches Rinnsal dahinplätscherte, konnte es noch keineswegs als ausgemacht gelten, daß Gruppen wie Ideal oder DAF oder eben Joachim Witt im eigenen Land der angloamerikanischen Rockmusik das Nachsehen geben würde.
„Das Risiko war damals sehr groß, ob sich überhaupt eine Firma für meine Musik interessieren würde“, sagt Joachim Witt und fügt hinzu: „Mir war das damals ziemlich egal, was nun gerade angesagt ist. Ich wollte das machen, was ich denke, wohinter ich 100% stehen kann.“
Vorausgegangen war eine musikalische Kompromißlösung mit dem Namen Duesenberg, die trotz eines Schallplattenpreises der Phonoakademie kaum mehr als handwerklich sauberes Plagiatentum auf die Bühnen kleinerer Musikclubs in und um Hamburg brachte. „Got A Rainy Day Lover“ sang Joachim Witt hier, während woanders bereits vehement mit deutschen Texten experimentiert wurde.
Nein, dadurch sei er nicht beeinflußt worden, nur die Talking Heads hätten seinem Stilempfinden entsprochen. Seine Hinwendung zu deutschen Texten begründet er mit seiner persönlichen Entwicklung. „Ich war der Meinung, daß ich nur die falschen Leute kenne. Ich habe deutsche Texte geschrieben, weil ich niemand anderes an meine Arbeit heranlassen wollte. Deutsche Texte sind die beste Form mich mitzuteilen, meine Identität zu finden“.
Was Joachim Witt bislang mitzuteilen hatte, stimmt wenig optimistisch: Konsum-Fetischismus, Überwachungsstaat, Spießermief und immer wieder Begriffe aus dem Vokabular der Psychiatrie.
„Mich interessieren Texte und Musik nur, wenn sie die Gesellschaft widerspiegeln.“ Für Joachim Witt ein Anknüpfungspunkt an die Lebenseinstellung der Punks.
Dabei ist seine Reaktionsweise in Form der zweideutigen Texte so differenziert wie prägnant.Seine Ironie und Satire erweisen sich vorpubertären Anarcho-Sprüchen Marke „Hurra, hurra, die Schule brennt“ farbloser Trittbrettfahrer der Neuen Welle als hochüberlegen. „Ich habe ein Interesse daran, Worte in schizophrene Beziehungen zum Inhalt zu setzen, z.B. Meine süße Betonwand‘. Dies drückt für mich eine Pseudo-Harmlosigkeit aus, gepaart mit einer oberbrutalen Geschichte. In der Gegensätzlichkeit liegt für mich der Reiz.“ Wer so spricht, darf sich über Mißverständnisse nicht wundern. Dennoch ist Joachim Witt über die Reaktionsweise auf seine Texte häufig erschrocken. „Neulich haben mir Münchner Hausbesetzer vorgeworfen, die Textzeile „Ich hob’so Lust auf Industrie‘ sei dekadent“.
Hier fühlt er sich getroffen, falsch verstanden, wird aber auch ärgerlich. „Die Grenzen der Leute sind so eng gezogen, daß sie nichtmal mehr merken, daß ein paralleler Gedanke abläuft, der aber nicht ihrem Vokabularentspricht. An solche Textmißverständnisse habe ich mich inzwischen gewöhnt.“
Joachim Witt grenzt sich jedoch nicht nur gegen willkürliche Textinterpretation ab, sondern auch gegen Begleiterscheinungen seines schnelles Erfolgs. „Plötzlich kommen Leute, denen meine Arbeit vor einem Jahr noch vollkommen egal war.“ Er lehnt es ab, der „Bravo“ ein Interview zu geben, weil er nicht in einer Zeitschrift vertreten sein will, der die Garderobe des Musikers wichtiger ist als dessen Musik.
Sein „pädagogischer Drang“ kommt dagegen zum Tragen, wenn Mike Leckebusch einen Auftritts-Termin im deutschen „Musikladen“ anbietet. „Die Konfrontation, in einer Sendung mit Howard Carpendale und Peter Orloff aufzutreten, finde ich enorm interessant. Ich habe die Möglichkeit, Raum zu schaffen für andere, die nach mir kommen. Vielleicht kann dort in Zukunft auch solche Musik gespielt werden, die es wert wäre, vorgeführt zu werden“.
Auf eine öffentliche Vorführung der Musik von Joachim Witt wird man noch einige Zeit warten müssen. Erst nach Veröffentlichung seiner neuen Platte EDELWEISS im März ist eine Tournee geplant. „Ich möchte gerne anderthalb Stunden Programm spielen können, aber dafür reichte das Material bisher nicht“.
Hörproben der bereits fertiggestellten LP, die aus marktstrategischen Überlegungen der Plattenfirma noch zurückgehalten wird, klingen vielversprechend. Gemäß seinem Arbeitsmotto „Ich will immer etwas Neues machen“ nahm Joachim Witt schon im Herbst letzten Jahres wiederum im Kölner „Can“-Studio eine Platte auf, die durch ihre optimistische Grundstimmung überrascht. „Eine Zeile wie, ,Wir sind am Ende der Zeit‘, kann ich heute nicht mehr schreiben. Ich empfinde unsere Situation zwar immernoch so, aber das negative Gefühl wird durch Aussichten auf Wendepunkte mitbestimmt. Ich gehe davon aus, daß etwas stattfinden muß, was das Ruder in irgendeiner Form rumreißt“. Stand bei SILBERBLICK die Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft im Vordergrund, so äußert sich Joachim Witts Beitrag zur Kurskorrektur auf EDEL-WEISS in knapp formulierten, DAF-verwandten Gefühlsbekenntnissen auf der Grundlage reduzierter Rhythmus-Strukturen. Die Innenwelt hat die Außenwelt abgelöst.