Jeff Tweedy über Kritik


Kurz vor Veröffentlichung des Live-Albums Kickingtelevision-Live In Chicago kamen Wilco für vier Konzerte nach Deutschland. Die Band hatte sich seit dem Erscheinen der gefeierten Alben yankee hotel foxtrot (Album des Jahres 2002 im me) und A Ghost Is Born (Platz 13 der Jahrescharts 2004) rar gemacht, weshalb wir die Gelegenheit nutzten, mit Jeff Tweedy ein Gespräch zu fuhren. Wir erlebten eine Überraschung: Der Sänger und Songschreiber, der als höchst kritischer Geist gilt und künstlerisch so wenig kompromißbereit ist, daß er während der letzten Jahre mehrere Bandmitglieder hinauskomplimentiert hat, wirkt 2005 wie ein neuer Mensch. Spricht er heute von Wilco, dann spricht er von Vertrauen. Der einstige Kettenraucher, der 2004 noch unter Panikattacken litt, wirkt selbstsicher und zufrieden und steckte sich während des Interviews nicht eine Zigarette an. „Ja, da hat ein Reifungsprozess stattgefunden „, sagt er lächelnd.

Wie gehst du mit schlechten Kritiken um?

Ehrlich gesagt, ist mir eine kritische Beurteilung meiner Arbeit lieber als eine Jubelbesprechung. Ist eine Rezension überschwenglich, mißtraue ich ihr eher.

Verletzen dich Verrisse?

Früher ja. Aber schon lange nicht mehr. Irgendjemand muß sich ja irgendwann negativ über deine Arbeit äußern, denn alles ist subjektiv. Verletzt hat mich nur, wenn es persönlich wurde – wenn jemand deine Musik ablehnt, weil er dich als Mensch unerträglich findet.

Fühlst du dich personlich angegriffen, wenn in einer Kritik steht, daß dieser oder jener Song prätentiös sei?

Ich liebe es, wenn dieses Wort fällt! Ich wüßte nicht, was nicht prätentiös ist (lacht). Sich auf eine Bühne zu stellen, eine Platte zu veröffentlichen – das ist ja alles herrlich wichtigtuerisch. Und eine Kritik zu schreiben, in der du Urteile über Songs fällst und die ganze Welt an deiner Weisheit teilhaben läßt? Mir fällt kaum etwas ein, das noch prätentiöser wäre. Man darf Musik nicht so ernst nehmen. Als Künstler ist es dein Job, die Welt in den schillerndsten Farben auszumalen.

Muß Kunst überhaupt standig bewertet werden?

Ich finde das gut. Das kann auch Kunst sein. Die besten Kritiker geben nicht vor, objektiv zu sein. Sie beschreiben, wie sie die Musik erleben. Die Leute, die so tun, als ob sie allmächtig wären, die vorgeben, jedes Kunstwerk in ein Bewertungssystem einordnen zu können, die sind vielleicht nützlich für den Verbraucher, nicht aber für die Kunst. Kunst ist ein Dialog, und gut geschriebene Rezensionen sind ein Teil davon. Nur gibt es nicht mehr so viele gute Kritiker wie früher.

Woran könnte das liegen?

Oft fehlt eine historische Perspektive. Viele Leute verstehen einfach nicht, wo etwas herkommt. Jeder muß sich auf die Suche begeben, um da kompetent zu werden. Rock’n’Roll wird nicht in der Schule gelehrt. Und um Gottes Willen – hoffentlich wird es nie so akademisch wie in der Klassik zugehen. Das wäre das Ende.

In der Klassik spielt der Kunstler kaum eine Rolle…

Wie auch bei Shakespeare – ein Kunstwerk wie „Hamlet“ wurde danach beurteilt, welche Moral darin vertreten wurde, ob man die Charaktere in Ordnung fand. Und der Autor selbst blieb im Verborgenen, durfte un sichtbar bleiben. In unserer Kultur konzentriert sich alles viel mehr auf die Persönlichkeit des Künstlers.

Nur bei Eminem wurde plötzlich wieder viel über die Werte diskutiert, die in den Songs vermittelt wurden.

Stimmt. Bei der Rezension von Rap war man dazu gezwungen, weil vielen Leuten die Inhalte unbequem waren. Aber es bleibt die Ausnahme. Doch aucH bei Eminem ging es oft um die Beziehung zu seiner Mutter. Warum schreibt er solche Texte? Diese Frage war mindestens ebenso wichtig wie die Diskussion, ob die Texte unseren Kindern schaden.

Fragen dich andere Bands oft nach deiner Meinung?

Ja. Ich antworte nie, weil das nicht meine Aufgabe ist. Ich fände toll, wenn unsere Musik jemanden beeinflussen würde. Da kommt dann auch das Falschverstehen ins Spiel – der wertvollste Aspekt der Beeinflussung: Jemand hört in unserer Musik etwas, das komplett an der Sache vorbeigeht. Daraus wächst dann wieder etwas „Einzigartiges“. Meine musikalische Vision zum Beispiel wurzelt in einem Mißverständnis von Country-, Avantgarde- und experimenteller Musik. Ich mache niemandem weis, daß ich da durchblicke – aber ich hab‘ es auf meine Art verdaut. Das ist sehr inspirierend. Aber ich fände furchtbar, wenn sich jemand durch meine Kritik verunsichern läßt.

Ich schreibe nicht gern Verrisse über deutschsprachige Künstler, weil mir unangenehm ist, wenn sie lesen müssen, daß ich ihre Musik irrelevant oder schlecht finde. Musiker sollten unabhängig von solcher Kritik arbeiten.

Ich frage mich oft, warum so viele Kritiker hingebungsvoll eine vernichtende Kritik über eine Band schreiben, die einfach nur Spaß an der Musik hat und vielleicht 1000 Alben verkauft. Wem nützt das was?

Auf der anderen Seite können Kritiken wertvoll sein, um eine Vorauswahl zu ermöglichen. Soll man junge Künstler trotzdem vor schlechter Kritik beschützen?

Nein. Man muß niemanden beschützen. Ein Künstler, der mit großem Ernst bei der Sache ist, wird nie von einer schlechten Kritik vernichtet werden. Keinem großen Künstler blieb schlechte Kritik erspart.

Viele haben aber selbst beschlossen, Kritiken erst gar nicht zu lesen.

Stimmt. Aber es gibt auch Leute, die trotz allem immer weitermachen. Ich behaupte, daß die Chance größer ist, daß auf diesem Weg fantastische Kunst entsteht, als wenn jemand immer nur vor schlechten Kritiken bewahrt wurde. Es würde mir schwerfallen, an einen Künsder zu glauben, der eine schlechte Krinknicht verkraften, nicht davon lernen oder sie auch nur ignorieren kann.

Hast du das Gefühl, daß Kritiker verstehen, was du mit deiner Musik erreichen willst?

Das ist mir nicht so wichtig. „Verstanden werden – ich weiß gar nicht, was das bedeutet. Gehört zu werden ist für mich das Entscheidende. Ich hab‘ immer das Gefühl gehabt, mittelmäßig zu sein, wenn nur wenig über uns erschienen ist. Deshalb hab‘ ich auch nichts gegen schlechte Kritiken. Da hat immerhin jemand das Gefühl, daß es wichtig ist, eine Meinung zu uns zu haben.

Heute wird jeder Ton von Wilco auf die Goldwaage gelegt. Streßt dich das ? War das vielleicht sogar für deine Angstzustände mitverantwortlich?

Nein. Musik ist für mich eine konfliktfreie Zone, in der ich menschlich schon immer viel reifer war. Erst als ich auf andere Lebensbereiche übertragen habe, was mir in der Kunst klar geworden ist, bin ich glücklicher und stabiler geworden. Ein Beispiel: Es ist als Musiker unsinnig, zu viel darüber nachzudenken, was andere von dir halten. Eine wertvolle Erfahrung – auch für das Leben ganz allgemein. Meine Angstzustände waren sowieso zu 90 Prozent biologischer Natur. Und über die Jahre hab‘ ich mir dann auch noch schlechte Angewohnheiten zugelegt, von denen ich dachte, daß sie mir helfen würden. Das wurde immer verfahrener.

Wie gehst du mit Meinungsverschiedenheiten in deiner Band um?

Im Studio werden die meisten Ideen ausprobiert. Alles Ausprobieren führt dann zum gleichen Ergebnis, ohne daß ich sagen muß, wohin es gehen soll. Zum Glück funktioniert das in dieser Besetzung. Inzwischen vertraut man mir auch. Ich darf Entscheidungen treffen, auch wenn nicht alle meiner Meinung sind. Das ist ein Luxus.

Wessen Kritik ist immer willkommen?

Die meiner Frau. Sie sagt zum Beispiel: „Das klingt nicht nach dir. Da versuchst du. jemand anders zu sein.“ Das ist wichtig. Und auch die Meinung meiner Söhne nehme ich sehr ernst. Sie sind neun und fünf Jahre alt und haben einen viel unverklärteren Blick auf meine Arbeit als ich. Mein Neunjähriger ist unglaublich scharfsinnig.

Er ist Schlagzeuger, oder?

Oh ja. Er hat ein hervorragendes musikalisches Empfinden. Wenn meine Kinder der Meinung sind, daß etwas rockt, dann fühle ich mich sehr geehrt (lacht).

www.wilcoworld.net