Insel im Meer der Tränen


Nach den güldenen Jahren des Britpop regiert im Vereinigten Königreich die Melancholie.

Wem in diesem Jahr in Großbritannien eine fröhliche Band begegnet ist, die nicht blöd oder Snuff war, der hat sich geirrt. Es begann mit den Longpigs, und es endet (vorläufig) mit JJ72, und dass jedes dritte Wort „Travis“ war, ist eh klar. Melancholie, wenn sie zu solcher Größe anschwillt wie die der britischen Musik des Jahres 2000 von Doves bis Sparklehorse, Animalhouse bis Six By Seven, von Richard Ashcroft bis My Vitriol und Beautiful South bis Oslo, kündet von epochalen Abschieden, von der Angst vor allem, was kommt, wenn nichts mehr kommt. So schön und mit soviel Vertrauen wurde vielleicht noch nie gelitten. Wer sich 1969,1978 oder 1990 auf eine Bühne gestellt und „Bumble Bee“ (JJ72) oder „For Those Who Cannot Weep“ (Subcircus) mit einer solchen Inbrunst gesungen hätte, wie das die Interpreten heuer taten, dem hätte man – je nach Jahr – eine Lobotomie verpasst, das Heroin weggenommen oder ihn für Brett Anderson gehalten.

Oslo, Linoleum, Embrace, Polak, sogar Paul Weller („Love-Less“) und Robbie Williams („Singing For The Lonely“) folgten dem „Headstart For Nothing“ (Pacific Radio). Eigentlich für solche Töne Zuständige wie die Tindersticks, Pulp, Suede oder Morrissey schwiegen zwar, dafür wirkten Re-Releases von Nick Drake, Magazine und Associates wie neu. Die Gaudi-Buddies Reef klangen zumindest müde, und selbst Oasis versuchten sich kläglich am tragischen Metier – bauten mit „Where Did It All Go Wrong?“ das Motiv, dem die brüderliche Katharsis folgte, ehe der letzte Akt des Gallagher-Dramas (Motto: Operationen alle misslungen, Patient stirbt einfach nicht) verebbte und das Publikum nach Hause ging, ohne zu bemerken, dass die mehrfach umbesetzte Band nach dem Vorhang noch mal auf der Bühne erschienen.

Am anderen Ufer das Pop-Ozeans waren wilde, halbnackte Muskelmänner derweil dabei, sich ihre Gitarren in den Hintern zu stecken und das fröhliche Pizza-Wettkotzen zum Mega-Trend zu erheben. Die neuen Brit-Shoegazer hatten es schwer, sich in diesem Zirkus durchzusetzen – überraschende Ausnahme der Regel: Radiohead, die mit ihrem zunächst des kommerziellen Selbstmords verdächtigen „Kid A“ in den USA auf Nummer 1 gingen. Selten ,gab es so viele Platten, denen man anhört, dass sie eigentlich nur fürs Wohnzimmer gemacht wurden: Black Box Recorder, Clinic, Dakota Suite, Gentle Waves – auch das neue Briten-Wunder Coldplay tönt am schönsten im Dunkeln, allein.

Das alles hat natürlich (wie immer) auch mit zeitgemäßen Drogen zu tun. Während es in Deutschlands Toiletten bis in die Etagen des Reichstags hinauf vor Koks nur so staubt, schwört London auf’s Feierabend-Heroin. Das ist billig und schmutzig und macht ein bisschen gloomy. Wer drei Stunden Belle & Sebastian hört, weiß, wie es sich anfühlt, und wer in letzter Zeit Liam Gallagher gesehen hat, erinnert sich halbdunkel an die späten 70er Jahre, als Jimmy Page und Keith Richards ähnlich aussahen.

Damals kam die Reaktion wie ein Genickschlag – die New Wave erfand den Neon-Chic der 80er. Eine der drei besten Bands hieß Ultravox!, einer ihrer besten Songs „My Sex“. Einer der besten Songs auf dem nach fünf Jahren Entzug heuer doch noch erschienenen zweiten Elastica-Album heißt ebenfalls „My Sex“, aber auch Elastica verlegten sich vom Zerschlagen aufs Trauern: „Nothing Stays The Same“ – Neon-Chic mit kaputter Röhre. Revolution, die nur noch die Müllhalde zum Ziel hat, wie Primal Screams Atombombenkamikaze „Xtrmntr“.

Was das alles ist? Ein letztes trotziges Aufbäumen vor der Tsunami-Welle des kulturellen Totalkapitalismus mit seinen grinsenden Armeen von Britneys und Arsch-Gitarren? Ich hatte mal die Idee, dass die britische Popmusik eine Sekunde vor dem ersten Wire-Song zu Ende war und dann alles von vorne losging. Vielleicht ist die Trauer so apokalyptisch, weil diesmal auch die schöne Zeit der Wiederholungen vorbei ist und keiner weiß, was kommt. Die ewige Gleichförmigkeit eines wimmelnden Ameisenhaufens? Eine Explosion aus dem Nichts? Wir werden’s hören. Und irgendwann auch wieder lachen.