Insel der Seligen


Hoch im europäischen Norden, kurz vor Grönland, dampft Island heiß und kalt im rauhen Meer. Hier erwehren sich die Sugarcubes, der Welt berühmteste Independent Band, standhaft den dreisten Annäherungsversuchen der Platten-Multis. Kurz vor dem Aufbruch der sechs Wikinger zur Worldtour '89/'9O flogen die ME/Sounds-Mitarbeiter Thomas Böhm und Tim Jarvis in den eisigen Norden und erlebten den Rock'n'Roll in einer anderen Welt.

Endlich hat der Flieger seine Rutschpartie über die vereiste Landepiste beendet und ich kann aussteigen. Ein beißender Wind treibt mir die Fusseln meiner Angoraunterwäsche in die Poren. Schnee! Ich kann es kaum fassen. Ehrfürchtig zerreibe ich ihn zwischen meinen Fingern und sauge ihn durch die Nase. Tatsächlich, es handelt sich um echten, weißen, kalten, isländischen Schnee. Der Flughafen in Kevlavik ist vor kurzem, vierzig Kilometer von Reykjavik entfernt, in die Vulkanwüste gestampft worden. Hinter der Zollkontrolle, im modern gestylten Flughafengebäude wartet ein grinsender blonder Riese auf mich. Sigtryggur Baldurson, Schlagzeuger und Kassenwart der Sugarcubes, der isländischen Band, die seit ihrer ersten Single „Birthday“ von der ganzen Welt umschwärmt wird. Sigi sieht aus, als ob er seine Baßdrum liebevoll mit einem Baseballschläger bearbeitet. Wir brettern die Straße runter in Richtung Reykjavik. Links tauchen die Baracken der amerikanischen Militärbasis auf.

„Die Amis sind hier ziemlich isoliert. Aber indirekt verdanken wir ihnen die Rockkultur. In den 60er Jahren lauschten die Kids ihren Musikprogrammen. Und so entstanden in Kevlavik die ersten Rock’n’Roll- und Beatbands. Die Szene hat sich aber sehr schnell verselbständigt.“

Peng. Da zerplatzt die erste Seifenblase. Und ich dachte, vor den Sugarcubes hätte es nur Material für den nächsten Worldmusicsampler der nordischen Hemisphäre gegeben…

„Nee, nee. So abgeschnitten ist Island nicht. Zwischen Amerika und England gelegen, haben wir genau so viel mitgekriegt, wie alle anderen auch. Eine Folktradition gibt es in dem Sinne nicht. Wir sind ein Volk der Poeten, die ihre Geschichten nur in ausgelassener Stimmung singend vortragen.“ Die Fahrt durch die verschneite Mondlandschaft zieht sich.

Im Süden drückt die graublaue See in die flachen, weiten Buchten. Im Norden wehen ein paar weiße Dampfwolken aus den Geysiren in den schwarzen Himmel, der neuen Schnee ankündigt.

Am Horizont taucht das hohe Gebirge auf, das sich bis an das Ende der großen Bucht, in der die Hauptstadt Reykjavik liegt, erstreckt. Wir erreichen die Stadt. Eine Aluminiumfabrik und mehrere Öltanks, die eine Landzunge verschandeln, verwischen die letzten Ansichtskarten in meinem Kopf. Die kleinen bunten Holzhäuschen von Reykjavik verschwinden zwischen den unzähligen mehrstöckigen Betonbauten und Wellblechfischfabriken. 100.000 Menschen und Milliarden tote Fische brauchen ihren Platz. In einem besonders häßlichen Gebäude ist das Syrland-Studio untergebracht, die eigentliche Heimat der Sugarcubes.

Die anderen Mitglieder begrüßen mich herzlich. Einar Orn Benediktsson, der Lyriker, Dreh- und Angelpunkt der Sugarcubes, reicht mir die in einer braunen Papiertüte „versteckte“ Wodkaflasche. Nur Björk, die zierliche und temperamentvolle Sängerin hält sich zurück. Eine vorbeugende Maßnahme, läge ich ihr doch sonst wegen ihrer natürlichen Schönheit und Ausstrahlungskraft wie Millionen anderer Männer sabbernd und stotternd zu Füßen.

„Keine Einzelinterviews und keine Extrafotos mit mir bitte,“ meint sie dann auch gleich. Das kann nur jemand sagen, der auf einer eigenen Eisscholle steht und etwas ganz Besonderes ist. Aber kein Boß, genau so wenig wie Einar. “ Wir sind alle Individualisten“, erklärt Margret, die seit Juni letzten Jahres den Piano-Part des ausgeschiedenen Einar Melax übernommen hat. Jeder respektiert den anderen, versucht nicht zu dominieren und sein musikalisches Ding durchzuziehen.“

„Bei uns gibt es keinen Komponisten, dessen Songs wir einzuspielen haben und keinen Manager, der uns zu führen braucht“, ergänzt Bragi, der elegante Baßmann der Sugarcubes. “ Wir sind Freunde, die aus einer Laune heraus Musik machen, ohne Plan und Konzept“. Das Geheimnis ihrer lebendigen, verspielten und so stimmungsvollen Musik?

„Wir sind schon lange Freunde“, erzählt der sonnenbebnllte Gitarrist Thor. “ Wir sind zwar nicht zusammen aufgewachsen, aber es war klar, daß wir uns irgendwann treffen mußten, wir haben die selbe Einstellung, die selbe Energie und den gleichen Humor.

Und so groß ist Reykjavik nun auch nicht.“

Es hat mal wieder aufgehört zu schneien und wir wollen zum Hafen. Wir verteilen uns in zwei schwere Cadillacs und gleiten die Laugavegi, die Haupteinkaufsstraße herunter. Die Cadillacs der Sugarcubes fungieren nicht als Statussymbole, obwohl sie sicherlich mit einer Million verkaufter Schallplatten gutes Geld kassiert haben. Hier in Reykjavik flaniert jeder Zweite mit einem amerikanischen Schlitten den windigen Boulevard rauf und runter. Die andere Hälfte der fahrenden mit Renntreckern, an den Boutiquen, Reentlang. In den Schaufenstern der Modeläden werden nicht nur Wollpullis und gefütterte Gummistiefel feilgeboten. Die Szene ist auf dem laufenden, in einem Laden entdecke ich sogar die unvermeidlichen Smilev-Shirts.

„Das wird sich aber nicht so richtig durchsetzen“, meint Einar. „Dazufehlen die passenden Drogen. Hier gibt es nur Alkohol und manchmal ein bißchen Haschisch.“ „Im Spätsommer sammeln ein paar Verrückte auf den Grünstreifen der Landstraßen Pilze“, fügt Sigi hinzu. „Das ist aber gefährlich – wegen der Autos. “ Wir spazieren am Hafen entlang. Eine leichte Brandung umspült die Kaimauern. Aber sonst ist es ruhig. Einige Fischer reparieren ihre Netze, die meisten Boote liegen verlassen vor Anker.

“ Wir sind gerne hier“, sagt Bragi. “ Wir fühlen uns als Inselbewohner – zum Meer hingezogen. Als Kinder sind wir mit unseren Familien zwar oft im Urlaub oder am Wochenende ins Landesinnere gereist, aber jetzt halten wir uns überwiegend in Reykjavik auf.“ Wenn sie nicht gerade auf Tour sind und den Rest der Welt da hinter dem weiten Meer erobern. Ich möchte wissen, ob das exotische Island-Image bei ihrem sensationellem Erfolg eine Rolle gespielt hat. „Vielleicht am Anfang. Aber wer uns gesehen hat und einmal hier war, vergißt das schnell wieder und wir pflegen dieses Image nicht“, sagt Björk. “ Wir werden den Grund des Erfolgs auch nicht analysieren, denn dann würden wir uns Rezepte aufschreiben und uns damit töten.

“ Wir gehen da konform mit Derek, dem Chef des ,One Linie Indiari-Labels aus England, der uns dort rausgebracht hat“, ergänzt Thor. „Der fragt sich auch nicht, warum er uns gut findet.“ Das ist auch einer der Gründe, – warum die Sugarcubes trotz Superangebote bei dieser kleinen Firma bleiben. An einem Imbiß stärken wir uns mit Hot Dogs. Bezahlt wird mit Eurocard. „Hier ist alles so teuer und inflationär, daß diese Kreditkarlen einen wirklichen Vorteil bieten“, vertreibt Sigi meine Verblüffung. „Der Lebensstandard, der Lohn ist hier so hoch, daß hier im Sommer massenhaft Neuseeländer und Australier für einige Monate in der fischverarbeitenden Industrie schuften und mit gutem Geld wieder nach Hause gehen. Arbeitslosigkeit kennen wir hier nicht.“ ‚ Wir ziehen weiter die schwarze Lavaküste entlang zur „Grotta“, wo ein Leuchtturm den Fischern den Weg in den Hafen weist. Ausgelassen klettern die „Dottirs“, die Frauen und die „Sons“, die Männer zwischen Holzgerüsten herum, an denen sonst der Fisch getrocknet wird. Ein paar zottelige launige Islandponys gesellen sich dazu.

“ Unser Fanclub“, weist Sigi auf die kauzigen Kerle.

„Mal im Ernst. Wir müßten einen Club gründen. Wenn selbst Briefe mit der Adresse ,Sugarcubes, Island‘ ankommen, wird es höchste Zeit. Aber was sollen wir den Fans erzählen? Das wir das doof finden, Popstars anzuhimmeln?“

Zumindest in Island müßten die Sugarcubes doch Superstars sein, schließlich sind sie neben Fisch das wichtigste Exportgut. „Mit 7500 verkauften LPs haben wir hier zwar Platinstatus, aber die meisten Bands verstehen genau so wenig wie wir, warum wir so berühmt sind. Einige sind echt frustriert, weil sie nicht den gleichen Erfolg haben. In Wirklichkeit sind wir mehr so etwas wie ein Underground-Kult.“ So tief im Untergrund können sie aber nicht stecken. Schließlich hatte die Mutter der Nation, Frau Vigdisfinnbojadottir in einer Sendung für das Deutsche Fernsehen die Sugarcubes als die Meister der Popmusik gelobt. „Unsere Regierungschefin ist deshalb so beliebt, weil sie ebenso sarkastisch ist, wie wir alle“, lautet die Antwort von Björk.

Langsam verschwindet die Sonne als roter Ball im Meer. Zeit zum Baden haben wir sowieso nicht. „Es gibt eigentlich nur eine Stelle, wo man im Sommer baden kann, weil sie dort das heiße Quellwasser reinleiten, mit dem sie im Winter die Häuser heizen.“

Björk verabschiedet sich. Sie will zu ihrem dreijährigen Sohn und zu ihrem Freund, einem Videofilmer, für dessen neues Projekt sie gerade die Musik komponiert hat. Dem Rest der Spaziergänger knurrt der Magen. Sigi bestellt eine Tafel in einem der Nobelrestaurants auf der Laugavegi. Der Geruch aus der offenen Küche und das Holz-Interieur machen uns sofort gemütlich. Ich kriege einen streng schmeckenden unaussprechlichen Seevogel auf den Teller, die anderen lassen sich rosagebratenes Lamm schmecken. Zwei wilde Gesellen der befreundeten Hardcore-Band „Ham“ setzen sich dazu. Und endlich geht es zur Sache, kommt die isländische Mentalität zutage, die mir so symphatisch ist. Mehrere Flaschen „Black Death“ werden auf den Tisch geknallt. Ein Kümmelschnaps, der mir die Mandeln herausschneidet und den Magen in ein Säurefaß verwandelt. Der Brand wird mit Bier gelöscht, das seit einiger Zeit wieder in Island legal durch Handel und Kehlen fließt. Die Stimmung weicht zunehmend auf, wir verlassen das Lokal. Auf der Straße ist jetzt die Hölle los. Die Männer in ihren schweren Wagen hupen den Frauen unter die Röcke und die Frauen den Männern zwischen die Wollstrümpfe. „In Skandinavien hat die Gleichberechtigung eine lange Traditon“, erklärt Bragi mir die Zeremonie. Der Club 22 in der Hauptstraße, der absolute Trendladen, wie mir versichert wird, ist vollgestopft mit trunkenen Literaten, bärtigen Freaks, eisgekühlten Yuppies und breitgesichtigen Blondzöpfen. Einem Punk mit IrokesenSchnitt wird trotz blaugefrorener Ohren der Einlaß verwehrt. Durch die dicke Luft dringen Geräusche, als würden hunderte von Motorrädern gestartet. Isländisch ist eine harte Sprache. Weiter geht die Route. Die Sugarcubes stimmen ein bäriges Lied ein. In einer Seitengasse bolzt sich eine Schiffsladung Eskimos mit einer Horde Norweger. “ Wenn die Grönländer hier an Land gehen, gibt’s öfters Arger, weil die den Alkohol nicht vertragen“, weiß Bragi.

Wir treffen auf der Route immer die selben Leute. Im Laufe der Nacht fallen hier und da mal einige Isländer und Isländerinnen von den Barhockern und werden von fürsorglichen Freunden nach Hause getragen. Die Sugarcubes sind standhaft. In einem weiträumigen Club sorgt ein Entertainer für Halligalli und aus hunderten Kehlen dröhnt die Trinker-Internationale: „An der Nordseeküste …‘ Das klingt hier am Atlantik wesentlich deftiger.

Nirgendwo ist ein „Red Light District“ zu sehen. „Bei uns leuchtet immer grünes Licht beim Sex“, lacht Sigi. So landen wir zum Schluß in der Discothek „Tunglid“ in der Laekjargata. Der Discjockey treibt die Szene von einem Medley in den anderen. Acid House, Speed Metal, Michael Jackson, hier kommt jeder auf seine Kosten. Wir verziehen uns in die Bar unten im Kellergewölbe. „Wir werden auf jeden Fall in Island bleiben, egal wie erfolgreich wir sind. Wenn wir nach einer Tournee nach Hause kommen, freuen wir uns. In Island bleiben wir gegenüber dem Musikbusiness, dem Mainstream und den sogenannten Trends unabhängig, hier bläst uns der scharfe Wind immer wieder die Flausen aus dem Kopf.“

Im Mai kommen die Sugarcubes allerdings für ein paar Gigs nach Deutschland. Eine große Tournee mit Cure sagten sie dagegen ab, weil sie keine Lust haben, den Support Act zu spielen. Lediglich beim „Bizarre-Festival“ auf der Loreley (13.5.89) und in Konstanz kommt es zu dieser Begegnung.

Der Abschied naht. Wir nehmen uns in die Arme und schielen aneinander vorbei. Sie geben mir noch einen heißen Tip mit auf den Weg ins Hotel.“Demnächst kommt eine Live-LP auf den Markt, die wird nur sechs Mark kosten.“