Image bedeutet der schottischen Band Travis nichts. Musik dagegen alles. Aber nicht nur das ist an Fran Healy und Kollegen ungewöhnlich.
Der Porzellan-Apfel ist eine visuelle Beleidigung. Grün ist er, scheußlich giftgrün sogar, und weil das so ist, schmerzt er in den Augen. Form und Inhalt gehen zwar eine wunderbar stimmige Allianz ein – im Apfel-Behältnis befindet sich Apfelessig -, und dennoch muss man konstatieren: igittigitt! Zumal dieses giftgrüne Etwas nun überhaupt nicht zum Rest des Inventars passt, weder zum toten noch zum mehr oder weniger lebendigen. Ort des Geschehens: das Hyatt-Hotel zu Hamburg, eine Fünf-Sterne-Herberge, in der man es nonchalant versteht, die Vokabel etepetete mit reichlich Inhalt zu füllen. Die warme Mahlzeit mundet jedoch prächtig: als Sättigungsbeilage Spaghettini, die in Tomatensauce baden, dazu ein Stück Putenbrust, und um das Ganze optisch aufzulockern, liegen quer über dem Teller zwei Spargel. Wenn nur dieser Apfel nicht so penetrant giftgrün blitzen würde. Der passt in das gediegen vornehme Ambiente genauso wenig wie der anwesende Reporter und die vier Männer am Nebentisch. Dort sitzen Travis und sind beinahe vollzählig, vor allem aber sehr normal gewandet: Sneakers, T-Shirts, Jeans – Casuals halt. Sänger Fran Healy fehlt, dafür ist neben den restlichen Drei noch ein englischer Plattenfirmamensch als Mitesser dabei, der auf den schönen Namen Melvin Taub hört. Schon klasse, Travis mal beim Essen zuzugucken. Noch toller ist allerdings, dass man der Bedienung nur mit dem Codewort „Gorch Fock“ kommen muss – und schwuppdiwupp geht alles auf den Deckel der Plattenfirma. Nie war das Segelschulschiff so wertvoll wie heute. Aber wieso überhaupt „Gorch Fock“? Wegen nordisch by nature? Mitnichten. Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen Codewort und Anlass der Bewirtung. Mit „Gorch Fock“ ist nämlich der Ort des Interviews benannt – ein Konferenzraum, in dem ohne Frage der komplette Vorstand der Deutschen Bank debattieren und simultan noch eine Hochzeit stattfinden könnte. Justament aber sitzen nur der Reporter und der inzwischen eingelaufene Fran Healy in dem riesigen Raum, und der Travis-Sänger verbreitet, ohne einen Ton gesagt zu haben, die Aura eines Sympathen. Healy trägt ein Armee-läckchen in Tarnfarbe, wirkt darin noch unscheinbarer als sonst, lümmelt sich im Sessel und lächelt.
Entwaffnend. Entspannt. Einfach nett. Einzig auffällig an ihm: sein Haupthaar. Keck und mittig über den gesamten Schädel zieht sich eine blonde Tolle, die ein paar Zentimeter hoch in die Luft ragt und den Musiker ein bisschen so aussehen lässt wie die postmoderne Variante von Tim ohne Struppi. „Ich habe einen coolen Friseur“, erklärt Fran Healy, „zu dem gehe ich schon seit Ewigkeiten. Voriges Jahr hatte ich ja schon einen kleinen Zaun auf dem Kopf, und als ich letztens mal wieder da war, sagte er, ich solle mal wieder was verändern. Und wenn mein Friseur das sagt, lass ich das geschehen. Als er dann fertig war, hab‘ ich ihn zwar gefragt, ob das nicht zu viel ist, aber er hat mich beruhigt. Also laufe ich so rum – ich sehe ein bisschen aus wie ein Schön-Wetter-Punk, oder?“ Neil Primrose entert den Raum, und nach einem kurzen, knackigen Händedruck kommt das erste Gesprächsthema auf den Konferenztisch: „The Invisible Band“, das neue Album der Band, die Platte eins nach dem ganz großen Erfolg mit „The Man Who“. „Der Titel ist um Gottes willen nicht ironisch zu lesen“, betont Healy, „der ist ernst gemeint. Egal ob in Glasgow, London oder sonstwo auf der Welt: Ich kann immer noch überall rumlaufen, ohne dass mich einer erkennt und belämmert. Und wenn das im Moment doch passieren sollte, liegt das eher an meinem bloody haircut als an meinem Gesicht.“ Wohl wahr: Travis sind trotz Millionen verkaufter Alben und etlicher Preise seitens der musikverarbeitenden Industrie immer noch die Band, deren Sound berühmter ist als sie selbst. Ein Status, den sie selbst sehr genießen und auch entsprechend fördern: Das Cover von „The Man Who zwang einen nicht unbedingt dazu, sich mit den Nasen von Travis auseinander zu setzen. Klein wie Gullivers im Land der Riesen waren sie darauf zu sehen, und erst wer das Booklet aufschlug, erfuhr, wie Travis aussehen. „Wir haben den Leuten bisher die Wahl gelassen, und wir werden das auch weiter so machen“, erläutert Fran Healy, „on the cover of The Man Who‘ we were that size, on The Invisible Band‘ we’re that size: verrry, verrry small.“ Spricht’s, misst mit Daumen und Zeigefinger ungefähr einen Zentimeter ab, lehnt sich sodann zurück und zündet sich eine Silk Cut an: Rauchware der milden Sorte. Neil Primrose sieht die Sache ähnlich – nur mit einem noch derberen schottischen Akzent: „Unser Image ist einfach ideal. Erfolg haben und normal leben, das ist großartig. Und für mich ist es immer noch am wichtigsten, wenn Lieder im Radio laufen und die Leute ihrer Fantasie freien Lauf lassen können. Der Song soll ihnen gefallen; wie die Band aussieht und für welchen Style sie steht, ist mir persönlich egal – da bin ich gerne altmodisch.“ Fran Healy drückt die Silk Cut aus, bringt seinen blondierten Zaun in Form und legt dann nach. Philosophisch. Alltagstauglich. Und auch latent naseweis. „The more visible the band is, the less visible the song is. Marketing, Klamotten, Frisuren – das ist doch alles völig albern. Man guckt nach zu viel Kram, der einen ablenkt. Natürlich wird es immer Leute geben, die Britney Spears oder die Backstreet Boys brauchen, aber es wäre schön, wenn sich zumindest für einen Teil der Branche bewahrheitet, dass die Musiker nicht größer sind als das, was sie produzieren.“
Was ihren Part angeht, haben Travis spätestens mit dem Erfolg von „The Man Who“ der Industrie beigebogen, dass Popmusik auch ohne die handelsüblichen Attribute funktionieren kann. Glitzer, Glamour, Girls oder gar Gedöns sind die Sache der Schotten nicht. Ihr Ding ist einzig und allein die Musik. Unvorstellbar, dieses Modell auf Oasis zu übertragen. Was wären die Gallaghers ohne ihr Image-Köfferchen? Wer redete noch Pop ohne Stars
über die Brüder, wenn sie nicht seit Jahr und Tag ein Copyright auf notorisch schlechtes Benehmen hätten? An der Qualität der Musik liegt’s jedenfalls spätestens seit „(What’s The Story) Morning Glory?“ nicht, dass Oasis noch im Rennen sind. Nachgerade grotesk muten in diesem Zusammenhang die Gebote an, die Big Brother unlängst als Bedingung für gemeinsames Touren mit dem kleinen Bruder aufstellte: Liam darf nicht fluchen, keine Drogen inhalieren, keine Groupies vernaschen – und spätestens um Mitternacht muss die Hose kalt am Bett hängen. Sagt Noel.
Fran Healy ist da moderater Weniger normativ. Und auf alle Fälle netter, wenn er was sagt. „Es kann schon sein, dass wir es mit unserer Art Bands wie Turin Brakes, Kings Of Convenience und Starsailor leichter gemacht haben“, sagt er, „das wäre doch ein wunderbares Statement für Travis.“ Wäre? Ist. Ein eindeutiges Argument für die Schotten ist selbstredend auch „The Invisible Band“, das nunmehr dritte Album und definitiv schon im Vorfeld keine leichte Angelegenheit. Mit dem Erfolg von „The Man Who“ rotierte die Businessmühle auf High Speed: Travis waren schier endlos unterwegs, spielten weltweit Konzerte und traten in TV-Shows auf – die ganze Palette eben und jede Menge Kram, den man erst mal verpacken muss. Klar, dass da irgendwann auch mal der Akku leer war. „Wir haben oft Glück gehabt, dass wir nicht schon auf dem Rollfeld, sondern erst im Flieger eingeschlafen sind“, erzählt Neil, „und irgendwann blinkten bei uns allen die roten Lämpchen – wie bei einem Auto, das zur Inspektion muss. Wir mussten erst mal runterkommen, alles nivellieren und relativieren. Aber der ganze Stress hatte auch sein Gutes: Diesmal war’s definitiv nicht die Frage, ob unser Plattenvertrag verlängert wird.“ So weit Neils knallharte Analyse. Fran übernimmt, seufzend und mit der nächsten Silk Cut im Anschlag: „Das ganze Rock’n’Roll-Ding ist schon anstrengend, aber wir haben’s hinbekommen. Weil es immer noch so ist, dass unsere Freundschaft untereinander auch ohne Travis existieren würde, aber Travis nicht ohne unsere Freundschaft. Und weil wir’s geschafft haben, uns selbst noch mehr Druck zu machen als von außen ohnehin schon da war. Wir haben das Album klingen lassen, als wäre es unser erstes und gleichzeitig letztes. Der Enthusiasmus vom ersten klingt durch, und was die Qualität der Songs angeht, könnten wir uns mit der Platte auch ordentlich verabschieden. Und wenn wir zwischendurch bei den Aufnahmen in LA. mal durchhingen, hat’s unser Produzent Nigel Godrich rausgerissen. Der stand dann feist grinsend in der Studiotür und sagte ‚Nice pressure, hehe‘ – das hat uns geholfen, uns wieder zu konzentrieren.“
Das Ergebnis dieser Komentration: zwölf Songs, die einen mit sanfter Wucht mitten ins emotionale Zentrum treffen, mit wunderschönen Melodien aufwarten und auf eine seltsam defensive Weise auch noch catchy sind: Die Songs von Travis wirken langsam, aber nachhaltig. „Songs schreiben ist für mich immer noch eine Therapie, und jeder Song ist eine andere Therapie“, bekennt Fran, „songs can help you get through and a fine melody cheers you up. Viele Leute führen Tagebuch oder schreiben sonst etwas regelmäßig auf- ich versuche immer, ziemlich bald aufzuschreiben, wenn mir eine Melodie eingefallen ist. Das klingt banal und ist unspektakulär, aber die Wahrheit.“ Das Ergebnis dieser unspektakulären Wahrheit sind Songs wie „Dear Diary“, eine der spartanischsten Versuchungen, seit es Travis gibt, und Singalongs wie „Flowers In The Window“ – ein Lied, in dem Healy den Eskapismus auf die Spitze treibt und allen Ernstes empfiehlt, den Blumen doch mal beim Wachsen zuzusehen. „Jeder weiß doch, dass der Alltag manchmal böse angreift, und mit dem Wissen kann ich doch einfach auch mal die Sachen schön einfärben. Für fast jeden ist es möglich, Blumen zu haben, und ein Fenster hat auch jeder. Hopefully.“ Nettigkeit is king, und bisweilen regiert Simplifikation bei Travis. Und Letztere ist genau der Stoff, aus dem Pop mit drei Großbuchstaben gebaut wird. Der gelingt nämlich nur, wenn er sich nicht wichtig macht, sondern Kleinigkeiten groß rausbringt und dadurch von selbst wichtig wird. Travis: Die Band ohne Allüren, aber mit jeder Menge Attitüde. „Wir werden wohl nie Rockstars“, sagt Fran, „und das liegt wohl auch an unserer Sozialisation. In Glasgow ist kein Platz für Extravaganzen und Sperenzchen. Wenn ich heute bei Verwandten bin, wissen die zwar, dass ich mittlerweile der Sänger einer ziemlich bekannten Band bin, aber wenn meine Mutter sagt ‚Go, sing a song for Auntie Babs‘, dann mache ich das. Da kann es schon passieren, dass ich dann ‚Frere Jacques‘ singe.“ Klar, logisch, nachvollziehbar: Wer will schon Stress mit Tante Babs? Fran Healy jedenfalls nicht. Nicht einfach, sich den Burschen überhaupt mal schlecht gelaunt oder gar wütend vorzustellen. Beruhigend zu hören, dass so was mitunter aber tatsächlich vorkommt. „I can go absolutely crrrazy“, behauptet Fran, „aber ich hab‘ mich immer so gut im Griff, dass es bei Gewalt gegen Sachen bleibt. That’s the dark side of Travis. Bei Interviews benehme ich mich aber immer vorbildlich und denke an alles. You’re never fully dressed without a smile, das gilt immer noch.“ Fran Healy und Neil Primrose, so viel ist klar, sind so normal, dass es schon wieder funky ist. Das Auffälligste im ‚Hyatt‘ zu Hamburg waren auf jeden Fall nicht die beiden, das war der giftgrüne Apfel auf dem Restauranttisch.
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